Das Märchenstück im zeitgenössischen Kindertheater. Die Adaption von Grimms Märchen für die Bühne Jordi Auseller Roquet Aquesta tesi doctoral està subjecta a la llicència Reconeixement- NoComercial – SenseObraDerivada 3.0. Espanya de Creative Commons. Esta tesis doctoral está sujeta a la licencia Reconocimiento - NoComercial – SinObraDerivada 3.0. España de Creative Commons. This doctoral thesis is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivs 3.0. Spain License. Jordi Auseller Roquet Das Märchenstück im zeitgenössischen Kindertheater. Die Adaption von Grimms Märchen für die Bühne. Tesi doctoral F.K. Waechter UNIVERSITAT DE BARCELONA FACULTAT DE FILOLOGIA Departament de Filologia Anglesa i Alemanya Secció de Filologia Alemanya Jordi Auseller Roquet Das Märchenstück im zeitgenössischen Kindertheater. Die Adaption von Grimms Märchen für die Bühne. Tesi doctoral dirigida pel Dr. Fco. Javier Orduña Pizarro i presentada per a l’obtenció del grau de Doctor en Filologia Alemanya Programa de doctorat: “Literatura i Pluralisme Cultural†Bienni 1994-1996 Barcelona 2015 Für Cristina und meine Eltern, für unendlich viel Geduld und Unterstützung. Abstract Die vorliegende Arbeit befasst sich mit dem Kinder- und Jugendtheater im deutschsprachigen Raum, genauer mit dem Theater für Kinder und Jugendliche, um einer Verwechslung des Theaters mit Kindern und Jugendlichen vorzubeugen. Behandelt wird vorwiegend das professionelle Theater für junge Zuschauer mit ausgebildeten Schauspielern als Phänomen des 20. Jahrhunderts unter Ausklammerung anderer weitverbreiteter Formen des Theaters für Kinder, wie das Puppen-, Figuren-, Musik- und Tanztheater. Die Arbeit beschränkt sich auf die Untersuchung des Märchentheaters. An allen Bühnen für Kinder- und Jugendtheater in Deutschland können Märchenspiele auf den Spielplänen festgestellt werden, die bekannte Märchen zur Vorlage haben. Dabei handelt es sich meistens um Dramatisierungen von klassischen Märchen der Brüder Grimm (Aschenputtel, Dornröschen, Rumpelstilzchen, König Drosselbart usw.), zum Teil sind es aber auch Bearbeitungen von Andersens oder Perraults Märchen für die Bühne. Märchen werden als „Klassiker“ des deutschen Kindertheaters bezeichnet. Deshalb sollen sie hier ausführlich besprochen werden, denn es sind immer wieder Märchenaufführungen, die heftige Diskussionen ausgelöst haben und noch immer auslösen. Bei den Dramatisierungen und Bearbeitungen der verschiedenen epischen Vorlagen verfahren die Autoren individuell verschieden. Während sich einige streng an den Handlungsablauf der Vorlage halten, greifen andere einzelne Motive heraus und gestalten damit ihr eigenes Märchenspiel. Es liegen aber auch Märchenspiele vor, in denen Motive aus verschiedenen Vorlagen zusammengesetzt und verquickt sind. Weitere Märchenspiele wiederum weisen in der Handlung nur noch eine ganz schwache Verwandschaft mit der epischen Vorlage auf. Doch über solche äußerlichen Unterschiede hinaus ist infolge der Märchendramatisierung der resultierende Text, d.h. das Märchenstück, nach Form und Inhalt kein dramatischer Text mehr, sondern ein „Zwitterprodukt“, das zwischen Erzählung und Drama angesiedelt und daher auch nicht mehr der gattungshistorischen Trias von Lyrik, Epik und Dramatik zuzuordnen ist. Insofern verlangt es nach einem neuen Verständnis auf Gattungs- und Bedeutungsebene. Für eine Untersuchung der Ãœbertragungsmomente durch den Gattungswechsel ist eine Definition des Begriffs des Dramas erforderlich, sowie seine Abgrenzung und Unterscheidung von demjenigen des zur Dramatisierung ausgewählten Grundlagentextes, des Märchens also. Die Erhebung von Merkmalen im Sinne einer Herausarbeitung gattungsspezifischer Unterschiede zwischen epischem und Bühnentext verdeutlicht die Herausforderungen, denen sich Bühnenbearbeiter stellen müssen. Ãœber die individuell schöpferische Leistung hinaus geht mit einer jeden Bearbeitung von Märchen für die Bühne ein vielfältiges Umschalten formeller Konventionen aus entgegengesetzten Gattungssystemen einher, die im Laufe der Jahrhunderte ausgeformt worden sind. Auf der Bühne trifft das Bemühen von Märchenbearbeitern insofern nicht nur auf neue bühnengerechte Darbietungsverfahren, sondern auch auf beträchtliche gattungsbezogene Maßnahmen. Eine weitere Komponente in der Untersuchung bildet die konkrete Textanalyse zur Verdeutlichung der Prozesse durch die Gattungsübertragung. Dies erfolgt bei uns grundsätzlich durch die Besprechung von konkreten Beispielen aus einem repräsentativen historischen Korpus von 15 Autoren bzw. Autorenteams: 14 aus dem traditionellen Märchenstück und einer aus der modernen Variante. Unsere Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Auseinandersetzung mit Letzterem, Friedrich Karl Waechter (1937-2005), einem der erfolgreichsten Stückeschreiber seiner Zeit im Kontext der Dramatisierung von Märchen. Es ist zu betonen, dass die hier analysierten Stücke auf Märchen der Brüder Grimm basieren. In der Analyse werden die Kategorien Handlung, Figur, Raum und Zeit untersucht. Ziel ist es einerseits zu klären, welche gattungsspezifischen Merkmale Märchenstücke aufweisen, und andererseits die Veränderungen aufzuzeigen, die Bühnenbearbeiter am Grundlagentext vornehmen und welche Formen dieser annimmt, wenn sie Erzmuster der epischen Kunst, so wie Märchen es sind, für die Bühne adaptieren. Zwar belegt die Analyse unterschiedliche Herangehensweisen bei der Dramatisierung und Bearbeitung von Märchen. Doch über die Unterschiede hinaus werden viele Parallelen in der Gestaltung und Ästhetik der vorliegenden Märchenstücke ersichtlich, die uns an allgemein übliche Bearbeitungskriterien denken lassen. Alle Märchenstücke zeugen von einer an das Originalmärchen angelehnten Struktur. Außerdem weisen sie in der Handlung eine starke Verwandschaft mit der Vorlage sowie eine stärkere Typisierung der Figuren auf. Die Arbeit möchte also nicht nur einen Beitrag zur Analyse von Märchenstücken leisten, sondern stellt auch den Versuch dar, verschiedene Formen der Märchendramatik im Bereich des Kinder- und Jugendtheaters in Deutschland zu erklären. Es wird allerdings nicht darauf abgezielt, die Diagnose einer bestimmten Zeit zu erstellen. Vielmehr geht es hier um eine gattungspoetische Auseinandersetzung. This dissertation deals with the children’s and youth theatre in the German-speaking space, more exactly with the theatre for children and adolescents. It is basically devoted to investigation of the fairy-tale theatre. Folk and fairy tale adaptations as a theatrical genre and their aesthetic have dominated the repertory of German children theatres for a long time (see chapter 1). Here, therefore, they are to be discussed in detail. Authors proceed in different ways when they adapt tales into plays. While some keep strictly to the sequence of events from the original tale, other pick out single motives in order to retell the story on stage. There are also many adaptations that use motives from different stories and combine them into crossovers. And many others that show in the action only quite a weak affinity with the original tale. Beyond that, as a result of the fairy-tale dramatization the resultant text is not a dramatic text any more, but a “hybrid†product between narrative and drama. In this regard, it doesn’t fit into the tripartite system of genres (narrative, drama, poetry) any more. To be able to understand transference moments between genres, a definition of the concepts is required. Therefore, as a preliminary framework, chapter 2 provides a definition of the concept of “dramaâ€, as well as its differentiation of that of the basis text chosen for the adaptation: the fairy tale. It is only by gathering the formal features of genre and recognizing the essential differences between “original†text and play script that one becomes aware of the challenges adapters are confronted with while adapting the narrative text for the stage. Beyond individual creative achievements, every fairy-tale stage adaptation is accompanied by a varied switching of formal conventions from opposite systems of genre which have been formed out in the course of the centuries. We clarify the key concepts of this approach through a close reading of selected texts and a discussion of concrete examples. The analysis presented in chapter 3 is based on a representative historical corpus of 15 authors or author’s teams: 14 from the traditional fairy- tale model, that is, in the tradition of the 19th century children’s comedy, and one from the modern fairy-tale variant. Here we focus on Friedrich Karl Waechter (1937-2005), whose modern adaptions of Grimms’ tales became influential for repertories. Our aim is to uncover what features characterize the genre of the fairy-tale play. Inhaltsverzeichnis Einleitung 1 1. Historischer Abriss des deutschen Kinder- und Jugendtheaters 15 1.1. Geschichtsschreibung vom KJT 15 1.2. Entstehungsbedingungen des KJTs in Deutschland 22 1.2.1. Die „ Entdeckung“ der Kindheit 24 1.2.2. Entstehung der Kinder- und Jugendliteratur 29 1.3. Das Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland: Ursprung und Entwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts 30 1.3.1. Frühere Formen des KJTs 30 1.3.2. Das Weihnachtsmärchen 32 1.3.3. Das „Traum-Abenteuer-Spiel“ 37 1.3.4. Ansätze in der Weimarer Republik und Drittes Reich 40 1.3.5. Das KJT der 1950er Jahre 42 1.3.6. Neue Impulse für das KJT 47 1.3.7. Das KJT der 1970er Jahre 52 1.3.8. Das KJT der 1980er Jahre 57 2. Vom Märchen zum Stück: Methodische und theoretische Ãœberlegungen zur Dramatisierung von Märchen 65 2.1. Grundlegende Merkmale von Märchen und Drama 71 2.1.1. Grundlagen des Dramas 72 2.1.1.1. Alternative Versuche zum absoluten Drama 73 2.1.1.2. Das moderne Drama: Ästhetik einer neuzeitlichen Gattung 95 2.1.2. Annäherung an das Märchen als literarische Gattung 101 2.1.2.1. Aufbaumerkmale des Märchens 104 2.1.2.1.1. Propps Formale Ansätze 104 2.1.2.1.2. Lüthis stilistischer Ansatz 108 2.1.2.2. Die Märchen der Brüder Grimm: Ästhetik einer historischen Gattung 119 2.1.2.2.1. Vorfeld und Entstehung der Sammlung 121 2.1.2.2.2. Zur Herkunft der Märchenstoffe 125 2.1.2.2.3. Zur Bearbeitung der Märchen 127 2.1.2.2.4. Zum eigentümlichen „Grimm-Ton“ 135 2.2. Vermischung von Märchen und Drama: die Dramatisierung von Märchen 137 2.2.1. Begriffserklärungen 137 2.2.2. Einrahmende Fragen zur Dramatisierung von Märchen 139 2.2.3. Die Herausforderung, Märchen zu dramatisieren 140 2.2.3.1. Die Herausforderungen beim Aufbau der Handlung 141 2.2.3.2. Herausforderungen bei der Figurengestaltung 153 3. Darstellung und vergleichende Analyse von Märchendramatisierungen im deutschen KJT 155 3.1. Tendenzen bei der Bearbeitung von Märchen für die Bühne 159 3.2. Das Märchenstück: Charakterisierung einer Mischgattung 160 3.3. Textauswahl 162 3.4. Darstellung von Handlung und Figuren am Beispiel des Korpus 165 3.4.1. Analyse traditioneller Märchenstücke 165 3.4.1.1. Weiterbestehen des zugrunde liegenden Märchens 166 3.4.1.2. Eingriffe in das zugrunde liegende Märchen 184 3.4.1.3. Anwendung Anwendung epischer Darstellungsmittel 206 3.4.1.4. Auswertung und Schlussfolgerungen 229 3.4.2. Analyse moderner Märchenstücke am Beispiel der verschiedenen Teufel-Fassungen von F.K. Waechter 235 3.4.2.1. F.K. Waechter: Leben und Werk 235 3.4.2.1.1. Bio-Bibliographie 235 3.4.2.1.2. Angaben und Erläuterungen zu Waechters Märchenadaptionen 238 3.4.2.2. Analyse und Deutung des Stücks Der Teufel mit den drei goldenen Haaren 251 3.4.2.2.1. Die Grimmsche Märchenvorlage als Quelle Zur Herkunft der Märchenstoffe 252 3.4.2.2.2. Erste Bühnenbearbeitung 253 3.4.2.2.3. Die zweite und dritte Fassung des Teufel-Stücks 278 3.4.2.2.4. Entstehung der vierten Fassung 288 3.4.2.2.5. Schlussfolgerungen 299 4. Zusammenfassung und Fazit 307 5. Anhang 325 6. Literaturverzeichnis 421 Einleitung 1 „Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den Lehrbüchern sondre man sie so genau voneinander ab, als möglich; aber wenn ein Genie, höheren Absichten wegen, mehrere derselben in einem und eben demselben Werke zusammenfließen lässt, so vergesse man das Lehrbuch, und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzählung, noch ganz Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, dass mich dieser Zwitter mehr vergnügt, mehr erbaut, als die gesetzmäßigsten Geburten eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten lasttragenden Tieren?“ (Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 48. Stück) Innerhalb der reichen Produktion an Kinder- und Jugendtheaterstücken in deutschsprachigen Ländern ragt diejenige heraus, die gerade aus der Umsetzung von Märchen besteht. Die Anfänge der Bearbeitung von Märchen für die Bühne liegen über 150 Jahre zurück. Lange Zeit waren sie als „Weihnachtsmärchen“ bekannt. Später hat sich die Bezeichnung „Märchenstück“ eingebürgert. Es handelt sich um Bearbeitungen wie diejenigen, womit sich diese Arbeit weitgehend auseinandersetzt – Bearbeitungen von bekannten Märchen, meistens aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm stammend: Aschenputtel, Dornröschen, Das tapfere Schneiderlein, König Drosselbart usw. Bei allen Missverständnissen um den ästhetischen Wert solcher Produktionen bezeugen sie doch eine Ausdauer und eine Ãœberlebenskraft, die den Beobachter zur näheren Betrachtung einlädt. Abgesehen von finanziellen, konjunkturellen und pädagogischen Anliegen, was hat es mit diesen auf sich, das es ihnen erlaubt, nicht nur der Zeit selbst, sondern sogar der harten Konkurrenz von Medien wie Film und Fernsehen standzuhalten? Auch wenn solche Märchenstücke gelegentlich als billige Unterhaltungskunst und Mischlinge aus Slapstick, Liedern und märchenhaften Fabeln verworfen werden mögen, lohnt es sich doch zu fragen, was alles die Bühnenbearbeiter von Märchen in all der Zeit erschaffen haben, dass diese Tradition als eigene Gattung angesehen werden kann – also als sinnvolle Beachtung künstlerischer Formen. Wird der gattungsmäßige Gehalt näher bestimmt, so wird man hoffentlich einige tiefgreifende Rätsel lösen können. Zum einen ist da das Rätsel um die Fähigkeit dieser Textgattung, eine eigene Geschichte zu beanspruchen, und zwar bis zum Erreichen beachtlicher Leistungen im Bereich des modernen Märchentheaters, in dem F.K. Waechters Wiederentdeckung eines rhapsodischen Erzählers herausragt. Zum anderen ist da die Debatte um die Ãœbertragbarkeit von Märchenstücken: Sind sie ein Produkt, das nur in der deutschsprachigen Theaterlandschaft fortbestehen kann, oder aber lassen sie sich als eine konsistente Gattung erkennen, die in anderen Ländern ihre eigenen Wege geht? Einleitung 2 Das Lessing-Motto veranschaulicht die Thematik dieser Arbeit: Wir stehen vor einer Mischgattung und wollen uns darum bemühen, eine neue Gattung darin zu erblicken. In der Gattungsfrage geht es Lessing nicht um Form und Regel, sondern darum, eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Er sieht es als unvermeidlich an, das Dramatische und das Erzählerische nebeneinander zu stellen, um einen höheren Zweck zu erfüllen. Eine solche Mischung aus Erzählung und Drama als Inbegriff von Bühnenkunst kommt in jener Kindertheaterform zum Ausdruck, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden ist, sich schnell auf den deutschsprachigen Bühnen durchsetzte und die Spiel- und Inszenierungspraxis des Kinder- und Jugendtheaters bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Noch bis in unsere heutige Zeit prägt sie z.T. die deutsche Kinder- und Jugendtheaterlandschaft. Die Rede ist hier vom so genannten „Weihnachtsmärchen“, das „sowohl die ursprüngliche stoffliche Grundlage, nämlich das episch überlieferte Märchen, aufbewahrt als auch die Saison, zu der es stattfand, nämlich die Weihnachtszeit“ (Jahnke 1983: 41). In ihrer spezifischen Art und Weise entsprechen „Weihnachtsmärchen“ der Form eines hybriden Werks, das eine Mittelstellung zwischen Erzählung und Drama einnimmt. Wir haben es hier nämlich mit der Verwandlung eines Erzähltextes in einen dramatischen Text zu tun, bis es zur Vermengung in Form eines Zwitters aus Bühnenstück und Märchen kommt. Das Hybridum Märchenstück bietet ein Zwischenfeld dar, das aber keine reine Addition bedeutet, sondern eine eigenartige, zwischen dem Pol Drama und dem Pol Märchen sich erstreckende Bühnenform. Märchen begleiten das Kinder- und Jugendtheater in Deutschland seit dessen Einrichtung in der bürgerlich-liberalen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Im Laufe der Zeit haben sie in vielerlei Gestalt Eingang in das Kinder- und Jugendtheater gefunden, sei es als Schauspiel, Musik-, Tanz-, Puppen- oder Figurentheater. Obwohl solche Aufführungen öfters als veraltet, unnötig oder gar tot erklärt wurden (Neuhaus 2005: 30), haben sie bis heute nichts von ihrer Anziehungskraft eingebüßt. Eher im Gegenteil. Sie regen noch immer Gegenwartsautoren an.1 Im Grunde finden sie heute immer noch große Verwendung in der deutschen Gegenwartsdramatik für Kinder und Jugendliche. Insbesondere im Rahmen des Theaters für sehr junge Zuschauer spielen Märchenstoffe eine bedeutsame Rolle als literarische Vorlagen. Neben der Ãœbernahme altbekannter Märchenmotive kommt es hier auch zu Bühnenbearbeitungen bzw. Adaptierungen und Modernisierungen einzelner Sequenzen oder ganzer Erzählungen märchenhafter Herkunft.2 1 Aus Gründen der Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlechter. 2 S. die Werkstatistik Wer spielte was? des Deutschen Bühnenvereins für die Spielzeit 2010/2011. Einleitung 3 Besonders die Märchengeschichten aus der Sammlung Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm wurden von Anfang an bevorzugt. Sie haben als Anregung und Grundlage zugleich gedient, um grundsätzliche menschliche Erfahrungen in Bühnensprache umzusetzen und diese anhand bekannter Muster neu zu interpretieren. Von vielen dieser Geschichten sind im Laufe der Zeit immer wieder Bühnenfassungen entstanden, zu denen vor allem die noch heute gespielten Bühnenmärchen von Autoren wie Robert Bürkner, Georg A. Weth und Alexander Gruber gehören. Am Anfang des 21. Jahrhunderts macht sich der Einfluss der Grimmschen Märchen auf das deutsche Kinder- und Jugendtheater weiterhin bemerkbar: „Die Liste der für Kinder meistgespielten Autoren wird gleichbleibend mit deutlichem Abstand von den Gebrüdern Grimm angeführt“ (Heidtmann 2000: 85). Es ist also durchaus legitim, die Spielpraxis im deutschen Kindertheater mit den Grimmschen Märchen zu assoziieren. Die Lebendigkeit fällt besonders nach den letzten internen Krisen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf: zuerst nach der sozialkritischen Abwendung der 70er Jahre und später nach der Ãœberwindung schablonenhafter Bezugnahmen zwischen Geschichte (Unterbau) und Kunst (Ãœberbau). Zu Beginn der 80er Jahre vollzog sich in Deutschland (d.h. in der alten Bundesrepublik) eine entscheidende Trendwende in der Kinder- und Jugendliteratur, die nach der realitätsnahen und sozialkritischen Phase der 70er einen neuen Boom Richtung Märchenhaftes mit sich brachte. Bereits im Rahmen der Diskussion über das Märchen als Gattung seit den 70er Jahren hatten unterschiedliche Autoren, unter ihnen auch Kinder- und Jugendbuchautoren wie Otfried Preußler, Michael Ende und Janosch, Elemente und Motive des Märchens in ihren Texten aufgegriffen, um sie zu variieren und umzudeuten (Filz 1989). In diesem Zusammenhang entstanden im Kinder- und Jugendliteraturbereich zahllose Neufassungen und Bearbeitungen Grimmscher Märchen (Psaar/Klein 1976: 67). Dies geschah sogar in dem Bemühen, ihr emanzipatorisches Potential freizulegen (Richter/Merkel 1974). Solche Tendenz weg vom „political commitment“ und hin zu neuen mythischen und märchenhaften Zügen in der bundesdeutschen Kinder- und Jugendliteratur war auch in der Kinder- und Jugenddramatik durch Stückeschreiber wie Paul Maar (geb. 1937), Friedrich Karl Waechter (1937-2005) und Wilfrid Grote (geb. 1940) deutlich erkennbar. In ihren Märchenstücken versuchten sie, das Märchen in die Gegenwart zu holen und es mit Elementen aus der Realität zu erzählen. Die Herausforderung bei den Bühnentexten lag darin, sich vom damals gängigen „Weihnachtsmärchen“-Stil zu entfernen und etwas Eigenständiges zu machen. Allerdings bedeutete die Abgrenzung gegen die Weihnachtsmärchentradition nicht, auf märchenhafte Elemente (Zauberkräfte, magische Momente, Wunder, sprechende Tiere usw.) zu verzichten. In ihren Stücken wurden vielmehr Realität und Märchenhaftes verflochten. Die vorliegende Arbeit macht den Versuch einer Definition der Textform Märchenstück anhand von konkreten Beispielen aus einem repräsentativen historischen Korpus von 15 Autoren bzw. Autorenteams: 14 aus dem traditionellen Märchenstück und einer aus der Einleitung 4 modernen Variante. Unsere Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere der Auseinandersetzung mit Letzterem, F.K. Waechter, einem der erfolgreichsten Stückeschreiber seiner Zeit im Kontext der Dramatisierung von Märchen. Forschungsstand An wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Kinder- und Jugendtheater in Deutschland fehlt es in keiner Weise. Die Geschichte des deutschen Kinderschauspiels hat in den 1970er und frühen 1980er Jahren eine starke Beachtung gefunden, wofür die Namen Melchior Schedler, Manfred Jahnke, Carola Cardi, Karl W. Bauer und Wolfgang Schneider stehen. Dabei handelt es sich bis auf Schedlers Ãœberblicksdarstellung aus dem Jahre 1972 um Studien zu einzelnen Epochen der Gattungsgeschichte sowie verschiedenen Ausprägungen und Einzelaspekten des Kinder- und Jugendtheaters (s. 1.1). Daneben existiert auch ein großer Fundus an Dissertationen und Magister- und Diplomarbeiten aus unterschiedlichen Fachbereichen (Theater-, Literatur-, Kulturwissenschaft, Pädagogik), die nicht nur einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung des Phänomens Kinder- und Jugendtheater geleistet haben, sondern auch in der Diskussion rund um das Genre. Bei der Mehrzahl der zur Verfügung stehenden Sekundärliteratur ist das Augenmerk allerdings überwiegend auf die Interpretation einzelner Stücke, Inszenierungen oder Autoren gerichtet, wobei eine Auseinandersetzung mit dramaturgischen Belangen selten erfolgt. Dabei lassen sich auch historisch-philologische Herangehensweisen vermissen. Insofern erscheint die Beschäftigung mit dem Thema Kinder- und Jugendtheater aus literaturwissenschaftlicher Perspektive besonders lohnend. Auch wenn man auf eine große Anzahl an wissenschaftlichen Arbeiten zurückgreifen kann, ist zur Beschaffung von Sekundärliteratur darauf hinzuweisen, dass die Suche nach den Quellen nicht ohne Schwierigkeiten verläuft. Denn zu bedenken ist, dass das Kinder- und Jugendtheater als Forschungsgegenstand von den Theater- und Literaturwissenschaftlern lange Zeit nicht ernstgenommen wurde. Auch für Bibliotheken und Archive ist das Kinder- und Jugendtheater bis vor kurzem kein sonderlich wichtiges, ja vernachlässigtes, wenn überhaupt beachtetes Sammelobjekt gewesen. Das hat immer wieder zu Schwierigkeiten unterschiedlicher Art bei der Textbeschaffung geführt und dazu, dass man erst über Umwege zu den relevanten Materialien gekommen ist. Ein großer Teil des wissenschaftlich wichtigen Materials konnte glücklicherweise im Archiv des Kinder- und Jugendtheaterzentrums in der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt am Main ausfindig gemacht werden. Einleitung 5 Untersuchungsgegenstand Die Arbeit stellt eine Auseinandersetzung mit dem Kinder- und Jugendtheater in Deutschland und speziell mit dem Phänomen Märchendramatisierung dar, wobei hier hauptsächlich Märchenstücke nach Stoffen der Brüder Grimm berücksichtigt werden. Mit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm liegt uns wohl die bekannteste, aber auch eine der beliebtesten Märchensammlungen vor. Darauf hat bereits der Schweizer Märchenforscher Max Lüthi hingewiesen: „Wenn man heute von Märchen redet, so denkt man unwillkürlich an die Sammlung der Brüder Grimm, und nicht nur im deutschen Sprachbereich. Grimms Kinder- und Hausmärchen, die 1812 und 1815 zum erstenmal erschienen, sind in vielen Ländern das meistbegehrte und meistgedruckte deutsche Buch“ (Lüthi 1977: 6). Darüber hinaus haben viele bekannte Märchen der Brüder Grimm wie z.B. Aschenputtel, Schneewittchen, Hänsel und Gretel und Dornröschen eine umfangreiche europäische und sogar internationale Herkunfts- und Verbreitungsgeschichte. Grimms Kinder- und Hausmärchen prägen das Weltbild von Kindern seit Generationen, selbst wenn sie nicht mehr ausschließlich in der Originalfassung gelesen werden. Aufgrund ihrer großen Bekanntheit und Beliebtheit besonders bei kleineren Kindern haben viele der von den Grimms gesammelten Märchen im Laufe der Zeit zahlreiche Bearbeitungen erfahren: Der Kinderbuchmarkt lebt immer noch vom Märchengut der Brüder Grimm, massenweise werden ihre Märchentexte in den verschiedensten Bilderbuchausgaben verkürzt abgedruckt. Ferner gibt es eine Vielzahl an Bearbeitungen als Bühnenstücke für Kinder, aber auch als Spiel-, Fernseh- und Zeichentrickfilme sowie Hörspiele (Jerrendorf 1985; Heidtmann 1992). Was die Begrifflichkeit betrifft, so wird bei uns „Kinder- und Jugendtheater“ als Sammelbegriff verwendet, der sowohl Theater für Kinder als auch Theater für Jugendliche beinhaltet. Dass aber einmal von „Kinder- und Jugendtheater“ als umfassender Theaterform und dann wieder spezifisch von „Kindertheater“ die Rede ist, erklärt sich vor allem aus der Tatsache, dass das Kindertheater und das Jugendtheater eine gemeinsame Entstehungsgeschichte haben. Mit dem Begriff „Kindertheater“ wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts die beiden Sphären des Theaters für Kinder und des für Jugendliche als eine Theaterform mit erwachsenen ausgebildeten Schauspielern begriffen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, und zwar vor allem ab den 1970er Jahren, wurde der übergreifende Begriff „Kinder- und Jugendtheater“ gebräuchlich. Kindertheater wurde (und wird) sowohl von seinen Produzenten als auch von den fördernden Institutionen und in der wissenschaftlichen Literatur stets mit dem Jugendtheater zu einer Bezeichnung zusammengefasst. Unter Kinder- und Jugendtheater (abgekürzt KJT) soll also im Folgenden das professionelle Theater im engeren Sinne verstanden werden, das eigens für Kinder oder doch wenigstens hauptsächlich für sie Einleitung 6 geschrieben oder gemacht wird, und bei dem „Kinder primär zuschauend tätig sind, zuweilen auch mitreden [...], manchmal auch mitspielen (Sonderform Mitspiel)“ (Nickel 1977: 206). Damit sind zugleich die Grenzen der Untersuchung gesetzt: Das Theater der Kinder und Jugendlichen als eine Form der Bühnenkunst, bei der Wort-, Musik- und mimisch-gestisches Geschehen mit oder unter Kindern und Jugendlichen zu geprobten oder auch spontanen Aufführungen gelangt (Nickel 1977: 206), bleibt darin unberücksichtigt. Desgleichen werden in der vorliegenden Arbeit allein die Formen eines KJTs als Schauspiel- bzw. Sprechtheater untersucht. Andere Ausprägungen des KJTs wie das Puppen-, Figuren-, Tanz- und Musiktheater werden aus der Untersuchung ausgeschlossen. Ziel und Fragestellung Die Arbeit setzt sich zum Ziel, die Umsetzung von geschriebenen Märchen in Bühnenstücke mittels einer kontrastiven Analyse zu erläutern. Damit wird auch versucht, das Märchentheater für Kinder als Gattung kritisch zu beobachten und zu analysieren. Die Analysen werden unterschiedliche Herangehensweisen bei der Dramatisierung und Bearbeitung von Märchen belegen: Während sich einige Autoren streng an den Handlungsablauf der epischen Vorlage halten, greifen andere einzelne Motive heraus und gestalten mit Hilfe dieser wenigen Motive ihr Märchenstück. Durch einen Satz an Bühnentextvorlagen geht es also vor allem darum, gattungstypische, d.h. umfassende Merkmale im Handlungsaufbau und in der Figurendarstellung herauszuarbeiten, um die Bedeutung vom Märchenstück als selbständiger Gattung für die Geschichte des deutschen KJTs zu überprüfen. Die Entwicklung des Märchens auf der deutschen Kindertheaterbühne ist wiederum vor dem Hintergrund des Formenwandels im 20. Jahrhundert zu betrachten. Äußerst aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Herausbildung des Weihnachtsmärchentheaters am Ende des 19. Jahrhunderts sowie seine geschichtliche Entwicklung bis zur Entstehung eines neuen Märchentheaters im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Beim Versuch, das deutsche Märchentheater für Kinder zu beschreiben und dieses kritisch zu hinterfragen, wird aber eher nach dessen Poetik gesucht, weit weniger nach dem geschichtlichen Ablauf, was durch vorherige Arbeiten bereits geleistet wurde. Zentraler Gegenstand der Arbeit ist somit die textnahe Beobachtung von auf Grimm-Märchen basierenden Kindertheaterstücken. Entsprechend werden stellvertretende Märchenstücke geprüft. Der Schwerpunkt wird hauptsächlich auf die Märchendramatisierungen von F.K. Waechter gelegt. Einleitung 7 Gliederung und Methodologie In der Arbeit wird folgendermaßen vorgegangen: Im ersten Teil wird eine Darstellung der historischen Entwicklung des KJTs in Deutschland erarbeitet, und zwar von den Anfängen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (s. 1.3). Das Hauptaugenmerk liegt dabei weniger auf der Entwicklung des KJTs als vielmehr auf dem Erlangen neuer Formen. Daneben gehört auch die Beobachtung und Beschreibung der Entwicklung des Märchentheaters für Kinder zu unseren Aufgaben. Dies erfolgt anhand zweier anerkannter Sorten von Vertretern, nämlich des traditionellen Weihnachtsmärchentheaters sowie seines Gegenparts, des modernen Märchentheaters unter einem neuen Konzept, d.h. im Zuge des „emanzipatorisch“ (Bauer 1980), „neorealistisch“ (Schneider 1984) oder „sozialkritisch“ genannten KJTs aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Solchen Ausführungen wird ein Ausblick auf die Geschichtsschreibung des KJTs selbst vorangestellt (s. 1.1). Die tiefgreifenden Änderungen, die sich im 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Bereichen vollzogen haben, haben einen bestimmenden Einfluss auf die Herausbildung eines speziell für Kinder und Jugendliche entwickelten Theaters genommen. Hierzu werden auch im Vorfeld, wenn auch weniger ausführlich, die Rahmenbedingungen für die Entstehung eines eigenständigen KJTs im deutschen Sprachraum dargestellt (s. 1.2). Dabei wird zunächst eine kurze Ãœbersicht über die Entwicklung des Kindheitsbildes in der Geschichte, d.h. von den früheren Zeiten bis zum späten 18. Jahrhundert gegeben, um die Veränderungen der Auffassung von Kindheit deutlich zu machen. Anschließend wird auf die in Deutschland gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstandene Kinder- und Jugendliteratur kurz eingegangen. Dabei werden auch kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge aufgezeigt. Die Betrachtung des durch das aufstrebende Bürgertum in Gang gesetzten Modernisierungsprozesses soll verdeutlichen, dass es sowohl auf sozialer als auch auf literatur- und geisteswissenschaftlicher Ebene zu Veränderungen gekommen ist und neue Strömungen entstanden sind, die mit den Anfängen eines speziell für Kinder und Jugendliche gemachten Theaters im Zusammenhang stehen. Dazu zählt insbesondere die vom Bürgertum getragene Aufklärungsbewegung sowie die damit verbundene philanthropische Strömung, die sich in Deutschland in den 1770er Jahren ausbreitete und vor allem durch Reformpädagogen wie Joachim Heinrich Campe u.a. zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendliteratur beitrug. Widmet sich der erste Teil der Arbeit der Entstehung und Entwicklung des KJTs in Deutschland unter geschichtlichem Aspekt, so stehen im Mittelpunkt des zweiten Teils Ãœberlegungen zur Frage, wie sich ein erzählerischer in einen bühnenmäßigen Text umwandeln lässt, also wie Märchen bearbeitet und auf die Bühne gebracht werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Umwandlung von Erzählerischem in Dramatisches Bühnenbearbeitern Einleitung 8 zahlreiche Erfordernisse medialer und gattungsmäßiger Natur auferlegt, d.h. Bearbeiter sind einer ganzen Reihe von Gattungs- und Formkonventionen unterworfen. Für unser Anliegen ist es darüber hinaus entscheidend anzunehmen, dass solche Erfordernisse strukturell gebunden sind, da Märchentexte und Bühnentexte zwei verschiedenen „Codes“ (Hess-Lüttich 1990: 13) angehören.3 Gerade deshalb lässt sich z.B. fragen, was geschieht, wenn der Beginn eines Märchens, etwa der traditionelle Märchenanfang „Es war einmal“, bühnenmäßig in Szene gesetzt wird. Infolge des Dramatisierungsprozesses eines Märchens ist dann ein Bühnentext nach Form und Inhalt nicht mehr der historischen Trias aus Lyrik, Epik und Dramatik zuzuordnen, sondern verlangt nach einem neuen Verständnis auf Gattungsebene. Durch den Gattungswechsel und die formalen sowie inhaltlichen Veränderungen, die dieser Wechsel mit sich bringt, ist in Anbetracht der Textanalyse der Bühnenfassungen auch die Frage nach der Werktreue zu stellen. Um die Umsetzung märchenhafter Stoffe in eine bühnenmäßige Form untersuchen zu können, stellt sich zunächst die Frage nach einer allgemeinen Definition des Begriffs „Drama“ als Inbegriff von Bühnenkunst sowie seiner Abgrenzung und Unterscheidung von demjenigen des Märchens (s. 2.1). Ziel ist hier die Erhebung von Merkmalen im Sinne einer Herausarbeitung gattungsspezifischer Unterschiede zwischen epischem und Bühnentext, was Handlungsaufbau und Figurengestaltung anbelangt. Dies soll dann die Herausforderung verdeutlichen, Märchen zu dramatisieren (s. 2.2). Aus diesem Zweischritt versprechen wir uns einen hilfreichen theoretischen Rahmen zur Auseinandersetzung mit dem Textkorpus. An dieser Stelle erweist sich eine Einführung in die Gattungsdiskussion um Drama als Inbegriff der Bühnenkunst und vom Märchen als unerlässlich. In einem ersten Schritt (s. 2.1.1) werden charakteristische Aufbau- und Darstellungsprinzipien des Dramas beschrieben, wozu grundlegende Erkenntnisse aus zwei Wissenschaftsdisziplinen berücksichtigt werden – und zwar um zu prüfen, ob und inwieweit sich tradierte Märchenstoffe als solche bühnenmäßig umsetzen lassen. Dazu werden einerseits die Ansätze und Ergebnisse der Literaturwissenschaft in Anspruch genommen und andererseits, wenn auch nur zu einem geringen Anteil, auch jene der Theaterwissenschaft. Der theoretische Hintergrund liegt darin begründet, dass sich Literatur- und Theaterwissenschaft in der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Text und seiner Bühnenrealisation, d.h. seiner Inszenierung, treffen (Balme 2003: 75). Als Ausgangspunkt für die Beschreibung der Grundlagen des Dramas nehmen wir Szondis Theorie des modernen Dramas (1963 [1956]). Darin versucht er, unter formsemantischem Gesichtspunkt eine immanente Theorie des Dramas zu entwickeln. Szondis form- und gattungsorientierte Studie bietet sich für unser Vorhaben geradezu an, weil sie mit dem Anspruch auftritt, sich von jeder normativen und systematischen Ästhetik getrennt zu haben 3 Zum theatralen Code vgl. auch Fischer-Lichte (1983: 21ff.); Pfister (1997: 25ff.). Einleitung 9 (Szondi 1963: 12). Dabei bestimmt Szondi das Drama als eine historische Gattung, die nicht identisch mit sämtlichen Formen der Bühnendichtung ist. Er entfaltet einen mit Bezug auf Hegels dialektisches Konzept der Form-Inhalt-Beziehung gewonnenen Idealtypus des Dramas, der durch dramatische Gegenwart, zwischenmenschlichen Bezug (also Dialog) und Handlung gekennzeichnet ist. Diese Grundbegriffe sind für das neuzeitliche Drama „absolut“. Damit wird das (moderne) Drama als eine medial vorbildhafte Idealform ausgewiesen, die die materielle Gegenwart im Theatersaal besonders geeignet die zivilisatorische Emanzipationsvorstellung darzustellen vermag, wonach das Individuum zugleich Subjekt und Meister von sich selbst wird, also nicht mehr als Spielball fremder Mächte hingenommen werden muss. Nach Szondis Ansicht gilt die historische Ausprägung der tragédie classique bzw. des klassischen Dramas als Gipfel der Bühnenkunst, nach dessen Maßstäben sich Bühnentexte bis Ende des 19. Jahrhunderts ausrichten. Das absolute moderne Drama, wie Szondi es in seiner Studie als Form beschreibt, stellt in unserer Arbeit zwar einen wichtigen historischen Fluchtpunkt dar, ist aber kein ästhetisches noch poetisches Vorbild, d.h. Märchenstücke sollen an einem solchen Maßstab nicht gemessen werden. Vielmehr geht es darum, sich anhand des Protoyps modernes Drama die Tendenz und Möglichkeiten des Bühnenstückes als Satzung medialer Chancen, aber auch medialer Einschränkungen vor Augen zu halten. Für die Besprechung von Gattungsmerkmalen werden neben Szondis auch Pfisters Ãœberlegungen zum Drama (1997 [1977]) hinzugezogen. Die Gründe hierfür liegen zum einen in seinem weit gefassten Dramenbegriff und zum anderen in der dennoch detaillierten Beschreibung der einzelnen Aspekte, die auf die verschiedenen Dramenformen zutreffen. Pfister geht von der Kommunikations- und Texttheorie aus und stellt Fragen nach den drameninternen Strukturen in den Vordergrund. Insofern erweist sich Pfisters deskriptiv-strukturalistische Dramenanalyse als ein für das zweite Kapitel brauchbarer Ansatz zur Begriffsbildung und Beschreibung von grundlegenden Gestaltungselementen in Bühnentexten. Bei der Erläuterung von Einzelaspekten wird daneben auch an Asmuth (1984 [1980]) sowie an Platz-Waury (1999 [1977]) angeknüpft. Weitere, in der Theaterwissenschaft entwickelte theoretische Ansätze, wie etwa die der Theatersemiotik, die sowohl den Bühnentext als auch dessen szenische Realisierung ins Visier nimmt und somit einen Brückenschlag zwischen Literatur- und Theaterwissenschaft herstellt, finden bei der theoretischen Besprechung auch Verwendung. Ubersfeld (1998 [1977]), Fischer- Lichte (1983) und Bobes (1997 [1987]) werden so ergänzend zitiert. Damit erhoffen wir uns dem Gegenstand gerecht zu werden. Neben theoretischen Ãœberlegungen zum Drama wird in einem zweiten Schritt Grundlegendes zum Märchen dargestellt, wobei typische Merkmale und Eigenschaften der Gattung Märchen beschrieben werden (s. 2.1.2). Zur Annäherung an den Märchenbegriff sowie zur Bestimmung gattungsmäßiger Merkmale werden formale und stilistische Ansätze Einleitung 10 herangezogen. Dadurch soll der Komplexität der Märchenelemente Rechnung getragen werden. Anhand der sich ergänzenden Beiträge aus der strukturellen Analyse, also sowohl aus der formalen Analyse bei Propp (1928 [dt. 1975]) als auch aus der Stilanalyse bei Lüthi (insb. 2005 [1947]) werden Erzählweise und Aufbau, Figurenkonzeption und Geschehensfolge, daneben aber auch Stilelemente des Märchens bearbeitet. Vor allem Lüthis Betrachtungsweise nach „Form und Wesen“ (so lautet der Untertitel seiner dem Volksmärchen gewidmeten Monographie) hilft bei einer klaren Strukturanalyse der Gattung Märchen. Ãœberhaupt stellt Lüthis Werk durch die konkrete Merkmalbestimmung eine der wichtigsten Grundlagen für die literaturwissenschaftliche Märchenforschung dar, sodass wir uns daran orientieren, um bestehende Strukturen zu entdecken. Entstehungs- und gattungsgeschichtliche Fragestellungen zum Märchen, insbesondere zu den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm sind für die vorliegende Untersuchung auch relevant, denn die zur Analyse herangezogenen Märchenstücke basieren ausschließlich auf Grimmschen Vorlagen. Von daher erscheint es sinnvoll, allgemeine Informationen zur Entstehungsgeschichte der Grimm-Sammlung zu geben. Vor allem die Arbeiten von Rölleke (1998; 2004) und Uther (2008) bieten uns die ausführlichsten und grundlegendsten Darstellungen zum Thema. Daneben ist in diesem Zusammenhang auch der Beitrag von Grätz (1988) zum Märchen in der Epoche der deutschen Aufklärung zu Rate zu ziehen. Um Unklarheiten oder Missverständnisse in Bezug auf den Begriff „Märchen“ zu vermeiden, sei hier Folgendes vorausgeschickt: In der Arbeit geht es um das Volksmärchen, weshalb hauptsächlich auf dieses eingegangen wird. Wie in Neuhaus (2005: 3ff.) auseinandergesetzt, können Volksmärchen, zu denen auch die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm gehören, auf keinen bestimmten Autor zurückverfolgt werden. So genannte „Kunstmärchen“ hingegen sind Produkte einzelner Autoren (Lüthi 1990b: 8; Petzoldt 2005: 251).4 Allerdings ist der „Volksmärchen“-Begriff nicht ganz unproblematisch, weil er mit der Vorstellung verbunden wird, die die Brüder Grimm im Zusammenhang mit ihrer KHM etabliert haben. Durch die mündliche Tradition der Volksmärchen wurden diese im Vortrag immer wieder verändert und waren stets in Entwicklung und zudem in verschienen Regionen auch unterschiedlich ausgeprägt. Durch die Verschriftlichung wurden die Märchen statisch. Zudem haben die Sammler, von denen die Grimms wohl die prominentesten sind, auch unterschiedliche Versionen von Märchen vermischt, starken Einfluss auf die Formulierungen genommen und sogar Ausschmückungen eingebaut. Dass also die Märchen geradewegs von einfachen Menschen abgelauscht worden seien, sodass sie die mündliche Erzähltradition der unteren 4 Vgl. dazu ferner die Glossareinträge „Märchen“ bei Arnold/Detering (1996: 676) sowie Meid (2000: 543ff.). Zur Unterscheidung zwischen Volks- und Kunstmärchen vgl. auch Lüthi (1990a: 5); außerdem GarcÃa Berrio/Huerta Calvo (1995: 178). Einleitung 11 sozialen Schichten spiegeln, ist von der historischen Forschung inzwischen als Mythos entlarvt worden (Neuhaus 2005: 3). Denn in Wirklichkeit haben auch die Grimms die von ihnen gesammelten Erzählungen literarisch bearbeitet. Demzufolge seien ihre so genannten „Volksmärchen“ Collagen aus diversen literarischen Vorlagen (Rölleke 1998). Dies hat dazu geführt, dass es in der Märchendiskussion auch Vertreter gibt, die der Auffassung sind, dass Volksmärchen in schriftlicher Form keine Volksmärchen sind. Bluhm hat insofern die Bezeichnung „Volksmärchen“ prägnant als „Idealbegriff“ charakterisiert und vorgeschlagen, stattdessen den Begriff „Buchmärchen“ zu verwenden. Damit werden schriftlich fixierte, in der Regel literarisierte Erzählungen verstanden, die einem an Volksmärchen herangetragenen Erwartungshorizont entsprechen (Bluhm bei Neuhaus 2005: 4). Als Modell gelten die KHM der Brüder Grimm (Bausinger 1979: 974). Wenn in der vorliegenden Arbeit jedoch von „Volksmärchen“ die Rede ist, dann unter Berücksichtigung der geschilderten Problematik und nur deshalb, weil sich der Begriff „Volksmärchen†in der Forschung bis heute gehalten hat und nicht ersetzt wurde, und weil er in der Rezeption der Gattung der bekanntere Begriff ist. Da die Arbeit sich zudem mit der Frage der Bearbeitung von Märchen für die Bühne beschäftigt und das Augenmerk in erster Linie auf den altbekannten, von den Brüdern Grimm gesammelten (und umformulierten) Volksmärchen gelegt wird, werden bei uns auch die Begriffe „Märchen“ und „Grimms Märchen“ weitgehend synonym verwendet. Der zweite Teil wird ergänzt durch einen dritten interpretierenden Teil zur Mischgattung Märchenstück, der den Hauptteil der Arbeit ausmacht. Darin wird die Begegnung zwischen Märchen und Bühnenstück besprochen. Unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Ausführungen und Anwendung der gewonnenen Ergebnisse zu den Gattungen Märchen und Drama werden die von uns ausgewählten Märchenstücke eingehend analysiert. Die Methode der Untersuchung bildet zunächst eine textnahe Analyse, die die Vorgehensweise der Kindertheaterautoren bei der Dramatisierung von Märchen aufzuzeigen versucht. Der produktionsästhetische Ansatz konzentriert sich im Hauptaugenmerk auf die formalen Besonderheiten der Märchenstücke im Korpus und der Fokus wird dabei auf die Gestaltung der Dramenhandlung sowie auf die Darstellung der Figuren gelegt. Hier ist zu betonen: Im Mittelpunkt steht die Beschreibung und Analyse von Bühnentexten. Die Betrachtung von konkreten Aufführungen bzw. Inszenierungen ist damit von vornherein ausgeschlossen. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass „die meisten Dramen für eine szenische Aufführung konzipiert sind“ (Platz-Waury 1999: 36). Daher muss die Beschäftigung mit den Bühnentexten neben den literarischen Aspekten auch ihr Aufführungspotenzial im Auge behalten, denn das Drama erschöpft sich nicht nur im schriftlich fixierten Text, „das Einleitung 12 Vorhandensein von impliziten wie expliziten Inszenierungshinweisen [...] verweist auf die im Drama angelegte Umsetzung in szenische Präsentation“ (Platz-Waury 1999: 36).5 Im Unterschied zu anderen literarischen Gattungen, etwa dem Roman oder dem Gedicht, wird das Drama in der Regel auf der Bühne in Szene gesetzt: „Erst durch Regie und Schauspiel, Bühne und Kostüm, Musik und Choreografie und letztendlich das Publikum vollendet sich das Drama“ (Fangauf/Sting 1996: 8). Das Drama ist also zugleich Schauspiel (Wellek/Warren 1972), d.h. es wird zur Aufführung durch Schauspieler an einem dazu bestimmten Ort konzipiert oder soll wenigstens vom Leser als aufgeführt vorgestellt werden (Pfister 1997: 24f.). Der Leser eines Stücktextes muss nicht nur den Dialog zwischen den Figuren verfolgen, sondern auch die Bühnenanweisungen des Autors in seiner Fantasie in ein Bühnenbild verwandeln. Trotz der engen Beziehung zwischen Bühnentext und Aufführung wird allerdings, wie gesagt, die Aufführungs- bzw. Inszenierungsanalyse keine Berücksichtigung bei uns finden, d.h. es wird nicht von der veränderlichen Bühnenaufführung ausgegangen, in der sich das Drama erst vollendet, sondern von dem feststehenden und leichter zugänglichen, gedruckten Text als literarischem Werk. Um die Binnengliederung der einzelnen Teile der Arbeit zu verdeutlichen und den Gang der Argumentationen auch optisch möglichst transparent zu machen, wird innerhalb der Kapitel mit einem sich selbst erklärenden System von eingerückten Absätzen sowie Fett- und Kursivschrift gearbeitet. Korpus und Analyseschwerpunkte der Untersuchung Die Textgrundlage für den dritten interpretierenden Teil der Arbeit besteht zum einen aus 20 nach dem so genannten „Weihnachtsmärchen“-Modell geschriebenen Bühnentextvorlagen. Besondere Beachtung finden hier Märchenstücke bekannter und häufig aufgeführter Autoren wie Robert Bürkner (1887-1962), Hermann Wanderscheck (1907-1971), Inge Leudesdorff (geb. 1919), Hans Peter Doll (1925-1999), Georg A. Weth (geb. 1936) und Alexander Gruber (geb. 1937). Mit der dargebotenen Stückauswahl wird das traditionelle Märchentheater, wie es bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts seine Gültigkeit behalten sollte, untersucht (s. 3.4.1). Die Stücke interessieren uns um der Adaptionsgewohnheiten wegen. Ziel ist es, die Mittel herauszufinden, die zu einer formellen bühnenmäßigen Befähigung beitragen. Das analytische Verfahren besteht demnach darin, spezifische Gemeinsamkeiten der Bühnentexte aufzudecken und sie hinreichend und angemessen zu beschreiben. Dabei wird darauf abgezielt, eine idealtypische dramaturgische Struktur der als „traditionell“ einzustufenden Märchenstücke zu entwerfen. 5 Vgl. dazu auch den „Drama“-Artikel bei Weimar (2007: 392ff.). Einleitung 13 Das traditionelle Korpus soll uns einen zweifachen Nutzen erweisen. Einerseits sollen die darin enthaltenen Stücke Durchschnittlösungen zum Vorscheinen bringen. Die gewählten Stücke werden im Hinblick auf ihren dramatischen Aufbau untersucht. Damit sind der Handlungsverlauf mitsamt der dadurch bedingten Form sowie die Figurenkonzeption und - charakterisierung gemeint. Unser Ziel ist es herauszustellen, ob und inwiefern tradierte Märchenstoffe sich als solche dramatisch umsetzen lassen, oder aber alternative Dramaturgien unweigerlich vonnöten sind. Ein besonderes Augenmerk gilt es auf die Widersprüche zwischen epischem Stoff (Inhalt) und dramatischer Form im Sinne einer prototypischen Gattungspoetik (Szondi) zu richten. Andererseits weist das Korpus einen Fundus an Einzelleistungen nach, die dazu gehörige, charakteristische Unterschiede in Erscheinung treten lassen. Märchenstücke mögen zwar zur Konsumkultur zählen, aber ihre Bearbeitung kommt erst durch erkennbare Ansprüche zustande, die sich – in Verbindung mit individuellen Leistungen – wiederum in einen Zusammenhang bringen lassen. Insofern gehen sie nicht mit dem Durchschnitt einher. Auf die Beständigkeit solcher Einzelleistungen wird nun mit Hilfe der Aufbündelung im Korpus hingewiesen. Zum Textkorpus gehören zum anderen auch moderne Märchenstücke. Vorgestellt werden in diesem Zusammenhang die ab Mitte der 1970er Jahre entstandenen Dramatisierungen Grimmscher Märchen von F.K. Waechter, insbesondere das Stück der Teufel mit den drei goldenen Haaren in seinen vier Fassungen, die in den Blickpunkt gerückt und analysiert werden (s. 3.4.2). Waechters Bühnenmärchen sollen als Kontrastkorpus zu den im Abschnitt 3.4.1 herangezogenen Märchenstücken dienen, denn sie bedeuten einen ersten Versuch innerhalb des deutschen KJT, mit dem tradierten Weihnachtsmärchentheater zu brechen. Während sich der auch als Zeichner, Satiriker und Kinderbuchautor bekannte Stückeschreiber F.K. Waechter im deutschen Sprachraum durchaus größerer Popularität erfreut, ist er über die deutschen Grenzen hinaus nur wenig bekannt. Zu Beginn des Abschnitts werden daher Waechters literarische Tätigkeiten als Schriftsteller sowie sein Weg zum Kindertheater kurz dargestellt. Da eines der Interessen dieser Arbeit die Betrachtung der Waechterschen Märchenadaptionen ist, erfordern sie durchaus eine nähere Erklärung. Hier stellt sich die Frage, in welchem Maße Waechters Bühnenmärchen noch Komponenten des alten Märchentheaters beinhalten, inwieweit sie davon abweichen und ob sich daraus ein Muster ableiten lässt, anhand dessen sich Waechter als Erneuerer des deutschen Märchentheaters bezeichnen lässt. Zuerst gilt es, Prinzipien und Methoden für die Analyse der Waechterschen Märchenstücke zu entwickeln. Dabei wird wieder von den Ergebnissen gattungs- und theatergeschichtlicher Forschung ausgegangen. Die hier gewonnenen Einsichten werden dann der anschließenden Analyse der einzelnen Grundbausteine Handlung und Figur des konkreten Stückes, des Teufels mit den drei goldenen Haaren nämlich, zugrunde gelegt. Aspekte der szenischen Umsetzung werden, so weit wie möglich, ebenfalls mitbedacht. Als wichtigste Probleme werden diejenigen der Einleitung 14 durchlaufenen Entwicklung des erwähnten Stückes erörtert, also von der 1975 entstandenen Fassung bis zur Erzähltheater-Fassung von 1991. Schließlich sei hier noch erwähnt, dass die meisten der in der Arbeit besprochenen Märchenstücke Spielvorlagen sind, die nicht etwa einem Leserkreis zugänglich gemacht werden, sondern ausschließlich für die Theaterproduzenten bestimmt sind. Das gilt für die als „traditionell“ einzustufenden Märchenstücke des Korpus. Sie waren insofern als Bühnenmanuskripte, nicht als Bücher, bei den Verlagen erhältlich und tragen daher den ausdrücklichen Vermerk, dass sie „als unverkäufliche Manuskripte“ veröffentlicht worden sind. Im Vergleich dazu sind die Waechterschen Textausgaben auf dem Buchmarkt vorhanden. Da die Bekanntheit der traditionelleren Märchenstücke nicht vorausgesetzt werden kann, werden sie in einem Anhang umfangreich dargestellt. Die Stücke sind in alphabetischer Reihenfolge nach ihren Titeln aufgeführt. Bei ihrer Besprechung liegen folgende Kriterien zugrunde: Angaben zur Autorenschaft, zum Ort der Handlung und zu den Figuren, die während des jeweiligen Stückes auf der Bühne sind, leiten die Darstellung ein. Zusätzlich werden am Anfang einer jeden Darstellung, sofern dies zu ermitteln war, Angaben zur Entstehung und Veröffentlichung sowie Daten zur Uraufführung benannt. Eine Inhaltsangabe zu dem Stück wird auch gegeben. Es folgt dann eine Analyse der dramaturgischen Struktur, einschließlich der Figurenkonzeption und der vorgegebenen Regieanweisungen des Bearbeiters, sowie eine Szenenaufteilung des Stücks. In einigen Fällen werden Angaben zum genauen Erscheinungsjahr der Märchenstücke nicht gemacht. Manche Stücke zu datieren war nicht immer einfach. In diesen Fällen ist das äußerste Datum das Erscheinen im Druck. Wie lange vorher es schon geschrieben und wann es uraufgeführt wurde, ließ sich jedoch aus dem Erscheinungsjahr nicht mit Gewissheit ableiten. Dies liegt darin begründet, dass keine dementsprechenden Angaben gefunden werden konnten, denn in der Veröffentlichungspraxis der Bühnenverlage ist es nicht üblich, Daten dieser Art aufzunehmen bzw. wiederzugeben. Hierbei ist noch anzumerken, dass es in den von uns recherchierten Materialien manchmal keine oder kaum Informationen zu Leben und Werk der Bearbeiter zu ermitteln waren. Angaben dazu konnten über den die Rechte vertretenden Verlag auch nicht in Erfahrung gebracht werden. Historischer Abriss 15 1. Historischer Abriss des deutschen Kinder- und Jugendtheaters Der erste Schritt zur Annäherung an den Gegenstand führt in die Geschichte des KJTs im deutschsprachigen Raum, denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte dient dem Verständnis der gegenwärtigen Erscheinungsformen des Mediums. Das KJT in Deutschland ist mit den gesellschaftspolitischen Hintergründen und dem Zeitgeist der jeweiligen Epochen einhergegangen: Themen und Spielformen sind seit jeher von den sich wandelnden Werten in der Gesellschaft geprägt worden (Nickel 1977: 206ff.; Nickel/Dreßler 1992: 493ff.). Insofern wird einerseits auf die Bestandsaufnahmen hingewiesen sowie andererseits zwei Momenten der Geschichte Aufmerksamkeit geschenkt: zum einen der Entstehungsphase mitsamt ihren kulturell-gesellschaftlichen Bedingungen; zum anderen den Periodenprofilen, allerdings mit besonderer Beachtung der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts. Es wird ferner zunächst kurz auf die kulturgeschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge eingegangen, die für die Entstehung eines eigenständigen KJTs von Bedeutung waren. Im Rahmen der historischen Entwicklung des KJTs im deutschsprachigen Raum soll dann insbesondere wahrnehmbar werden, welche Beziehung zwischen den unterschiedlichen Konzeptionen eines traditionellen KJTs bzw. des „Weihnachtsmärchens“ und dem zeitgenössischen KJT Anfang der 1990er Jahre besteht. Nicht nur die Traditionen, an die das zeitgenössische Theater für Kinder und Jugendliche anschließt, sollen dabei erkennbar werden, sondern auch herkömmliche Muster, von denen es sich entschieden absetzt. Mit diesem ersten Kapitel wird somit ein zweifaches Ziel verfolgt: erstens die Klärung des Verhältnisses zwischen dem KJT und seinen jeweiligen Umständen, und zweitens eine Offenlegung der Traditionsstränge. 1.1 Geschichtsschreibung vom KJT Das KJT im deutschsprachigen Raum blickt auf eine annähernd 200 Jahre alte Geschichte zurück. Doch die Untersuchung seiner Geschichte blieb lange Zeit außerhalb der (Kinder- )Literatur- und Theaterforschung aus. Eine solche Vernachlässigung in der Forschung wurde seitens der Kritik als „beunruhigender Skandal“ bezeichnet (Schneider 1994: 251). Sogar im Rahmen der Geschichtsschreibung der Kinder- und Jugendliteratur z.B. fand das KJT, ausgenommen von vereinzelten Beiträgen, bis ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein kaum Berücksichtigung. Zu den Ausnahmen zählen in einer ersten Zeit die Arbeiten von Göhring (1904) und Köberle (1924),6 bei denen lediglich die im letzten Drittel des 18. 6 Köberles Beitrag wurde erst 1972 bei Beltz in Weinheim veröffentlicht. Historischer Abriss 16 Jahrhunderts entstandenen Kinderschauspiele berücksichtigt werden, sowie später die Beiträge in Sammelbänden von Hass (1974: 435ff.) und Nickel (1977: 206ff.). Seit Beginn der 1980er Jahre erhielt dann das KJT innerhalb der historischen Kinder- und Jugendliteraturforschung immer mehr Aufmerksamkeit. Das Kinderschauspiel wurde seitdem, sofern es nicht selbst im Mittelpunkt stand, bei den allermeisten der Forschungsvorhaben immer mit eingeschlossen. Insofern sei zunächst auf die von Ewers (1990) herausgegebene Anthologie zur Kinder- und Jugendliteratur der Aufklärung verwiesen, die auch die Gattung des Kinderschauspiels mit Stücken in gekürzter Form berücksichtigt. In dieser Richtung verfährt auch Pech (1985), dessen Textsammlung die Zeitspanne zwischen Biedermeier und Realismus abdeckt. Hinzuweisen ist auch noch auf das von Brüggemann (1982) herausgegebene umfangreiche Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur von 1750 bis 1800. Brüggemann verzeichnet eine beträchtliche Zahl von Werken: Es werden insgesamt 1.036 Titel verzeichnet, darunter 60 kinder- und jugenddramatische Belege. Erst mit den Einzelartikeln zu ausgewählten Kinderschauspielen des besagten Zeitraums wird zum ersten Mal der Dramatik für Kinder in der Spätaufklärung Rechnung getragen. Brüggemanns Beitrag ist ein weiterer Band (Brunken 1998) gefolgt, der die dramatische Kinderliteratur des frühen bis mittleren 19. Jahrhunderts in Deutschland berücksichtigt. Hier sind 17 Eintragungen zur Gattung Kinderschauspiel verzeichnet. Das Spektrum der aufgeführten Stücke reicht von Kinderdramen aus der Aufklärungszeit bis zu unter romantischem Einfluss stehenden Märchendramen. Für denselben Zeitraum (1800-1850) bietet auch die Sammlung Hobrecker (Düsterdieck 1985) eine große Anzahl von Autoren, Stücken und Sammlungen. Schließlich sei noch auf den Beitrag von Heidtmann (1992: 27ff.; auch in: Wild 1990: 402ff.) hingewiesen. Darin wird eine knappe Skizze zur Geschichte von den Anfängen um die Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entworfen. Dem KJT und seiner Geschichte wurden auch von Seiten der Theatergeschichtsschreibung nur wenig Beachtung geschenkt. Die ersten thematisch spezialisierten Beiträge findet man nicht vor dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, etwa die aus dem Jahr 1925 stammende Studie von Margarete Kober zum deutschen Märchendrama vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auch auf Gertraude Diekes Beitrag (1934) zur KJT-Geschichte des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in dem insbesondere die Entstehung des professionellen KJTs am Beispiel der Kinderpantomimen und der so genannten „Theaterpflanzschulen“ in der Aufklärungszeit behandelt wird. Unberücksichtigt bleibt allerdings die Kinder- und Jugenddramatik bei Brauneck (1982 erstmals erschienen, 1986 und 2009 neu aufgelegt und aktualisiert). Und bei Brauneck/Schneilin (1992: 493ff.) und Sucher (1996: 233ff.) u.a. werden Ereignisse des KJTs in Deutschland schnell abgefertigt. Historischer Abriss 17 Eine größere Aufmerksamkeit erhielt das KJT bei der literatur- und theaterwissenschaftlichen Forschung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts. Von einem Ãœberblick zur Geschichte des KJTs kann allerdings noch nicht die Rede sein; dabei handelt es sich meist noch um Einzeldarstellungen und Epochenbeschreibungen, die zu unterschiedlichen Zeiten verfasst worden sind und den Gegenstand mit unterschiedlichen Zugängen und aus anderen Blickwinkeln erörtern. Damit ist die Geschichte des deutschsprachigen KJTs nur sehr ausschnitthaft erfasst worden. Insofern wurde in den 1950er Jahren lediglich ein einziger Beitrag zum Kindertheater und dessen Geschichte geleistet, nämlich die materialreiche Dissertation von Hildegard Tornau (1958). Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Entstehung des so genannten „Weihnachtsmärchens“. Die Traditionen des Theaterspiels für Kinder und Jugendliche in der Aufklärungszeit sowie das märchenhafte Theater europäischer Tradition (d.h. die französische „Féerie“) bilden nach Tornau die Grundlage für die Herausbildung der Gattung in Deutschland um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Zusätzlich hätte das Wiener „Zauberstück“ einen Beitrag zum „Weihnachtsmärchen“ geleistet. Als „Vater der neuen Theatergattung“ nennt Tornau den Theaterdirektor, Autor und Regisseur Carl August Görner (1806-1884), dessen 1855/56 entstandene Märchenbearbeitungen „als erste dieser Art den Weg auf fast alle deutschen Bühnen fanden und das Weihnachtsmärchen als festen Brauch in Deutschland einbürgerten“ (Tornau 1958: 37). „Damit hat sich das Theater“, so Tornau (1958: 228) weiter, „zum erstenmal bewußt auf ein neues Publikum eingestellt und versucht, eine dem Kinde gemäße Form des Bühnenspiels zu finden“. Tornaus Thesen wurden dann in nachfolgenden Arbeiten zum deutschsprachigen KJT aufgegriffen, so wie es der Fall bei Manfred Jahnkes Dissertation (1977) zur Kinderkomödie und zum „Weihnachtsmärchen“ im 19. Jahrhundert ist. Einen ersten Versuch, die Geschichte des KJTs von den Anfängen im späten 18. Jahrhundert bis zu den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts fortzusetzen, stellt die teilweise auch auf Tornau aufbauende Studie des Hörspielautors, Theaterschriftstellers und -kritikers Melchior Schedler (1972) dar. Wie auch seine vorangegangenen Sieben Thesen zum Theater für sehr junge Zuschauer (1969 in Theater heute veröffentlicht), ist Schedlers Untersuchung allerdings nur noch im Kontext der politisch-kritischen Aufbruchstimmung nach 1968 zu verstehen. Seine Betrachtungs- und Argumentationsweise ist nämlich weitgehend durch eine als naiv einzustufende materialistische Einstellung bestimmt.7 Schedlers Hauptaugenmerk gilt dabei der integrativen Rolle des KJTs. So greift er das Theater für Kinder und Jugendliche als Mittel der gesellschaftlichen Integration in der ehemaligen BRD (aus seiner Perspektive der sozialen Kontrolle) scharf an. Ob Theater für Kinder und Jugendliche oder Theater mit Kindern und 7 Schedlers Beitrag bleibt an einer extrem soziologischen, der 68er-Bewegung verpflichteten Perspektive haften. Historischer Abriss 18 Jugendlichen vordergründig geht es ihm darum, „wie das Kindertheater als Mittel des emanzipatorischen Kampfes eingesetzt werden kann“ (Schedler 1972: 12). Besonders in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren kam es zu weiteren Ansätzen zur Geschichte des deutschen KJTs. Dabei handelte es sich allerdings weniger um Ãœberblicksdarstellungen als vielmehr um Studien zu einzelnen Epochen der Gattungsgeschichte des KJTs. In diesem Zusammenhang ist zunächst insbesondere auf die Arbeit von Jahnke hinzuweisen. Darin beschäftigt sich der Autor mit dem „Weihnachtsmärchen“ und der grundlegenden Rolle Görners. Im Gegensatz zu Tornau und Schedler, die alle Kinderstücke als „Weihnachtsmärchen“ bezeichnen, orientiert sich Jahnke „an den historisch von den Autoren benutzten Gattungsbezeichnungen, um die einzelnen Phasen in der Genesis der Kindervorstellungen hervorzuheben“ (Jahnke 1977: 2). Zu diesem Zweck wird bei Jahnke eine Aufstellung verschiedener Etappen gegeben, und zwar von der „Komödie für Kinder“ (1855/56 bis 1867) über die Phase der „Weihnachts- Komödie“ (1867 bis 1870) bis zum „Weihnachtsmärchen“ (1870 bis 1917); ab 1905 – im Zusammenhang mit den Grundpositionen der reformpädagogischen Bewegungen – kämen dann das „Traum-Abenteuer-Spiel“ und das „reformierte Märchenspiel“ hinzu (Jahnke 1977: 2). Als Grundlage dienen ihm dabei zehn Kinderstücke Görners, ausgewählt aus Sammlungen der Jahre 1857, 1864 und 1870 (Jahnke 1977: 242f.).8 Daneben werden Stücke u.a. von Oscar Will, Max Möller, James Matthew Barrie (1860-1937), Richard Dehmel (1863-1920) und Gerdt von Bassewitz (1878-1923) zur Sprache gebracht, womit der fortlaufende Einfluss Görners bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein dokumentiert wird. In ihrer Dissertation von 1983 wendet sich Carola Cardi ihrerseits dem deutschsprachigen Kinderschauspiel der Aufklärung zu. Zu den Vorläufern zählt sie die 1769 entstandenen Dramatischen Kinderspiele von Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809). Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die Stücke von Christian Felix Weiße (1726-1804), dem bedeutendsten Vertreter des Kinderschauspiels am Ende des 18. Jahrhunderts. Sie beschäftigt sich zuerst mit den didaktisch-dramaturgischen Grundstrukturen der Stücke Weißes, um sodann inhaltliche Aspekte zu erörtern, wobei das besondere Interesse auf die Figurenzeichnung und das Belohnungs- und Strafsystem der Stücke fällt. Schließlich verfolgt Cardi die Entwicklung der Gattung nach Weiße. Als Beispiel dienen ihr Stücke von u.a. Georg C. Claudius (1757- 1815), Carl A. Seidel (1754-1822) und Johann H. Röding (1732-1800). Die Kinderschauspiele der Aufklärungszeit, so ließen sich Cardis Ergebnisse zusammenfassen, waren bildungspolitische Lesedramen, die weder ästhetischen noch literarischen Ansprüchen genügen wollten, sondern vielmehr eine moraldidaktische Zielsetzung hatten und eine Sozialisations- bzw. Lebenshilfe für den bürgerlichen Alltag sein sollten. 8 Im Verhältnis zu Tornau bleibt bei Jahnke das Quellenmaterial relativ schmal dürftig (hierzu Jahnke 1977: 243). Historischer Abriss 19 Zu den in den 1980er Jahren entstandenen Einzelstudien zählen u.a. auch die Werke von Karl W. Bauer (1980), Wolfgang Schneider (1984) und Ruth Kayser (1985). Es handelt sich konkret um Dissertationen, die sich mit der westdeutschen KJT-Landschaft der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Die Untersuchung Bauers zielt zunächst darauf ab, die Entstehungsgeschichte des so genannten „emanzipatorischen Kindertheaters“9 im Zusammenhang mit der Studentenbewegung Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zu beleuchten, und zwar am Beispiel bedeutsamer West-Berliner Bühnen wie das Grips-Theater, die Rote Grütze und das Kindertheater Birne. Vor diesem Hintergrund werden dann Stücktypen und dramaturgische Konzeptionen erörtert, sowie die Spielweisen der so genannten „Vorführ“- und „Mitspiel“- Theaterformen beschrieben (Bauer 1980: 75ff. u. 101ff.). In der Forschung rund um das deutsche KJT der 1970er Jahre hat sich Schneider einen Namen verdient. Innerhalb des „neorealistischen Kindertheaters“ (Schneider 1984: 7) werden verschiedene Ausprägungen unterschieden. Neben Bauers „Mitspiel“- und „Vorführ“-Theater zieht er eine neue Form in Betracht, nämlich das „Mitmach“-Theater (Schneider 1984: 8). Neben der Arbeit von damals renommierten freien Gruppen (u.a. Birne, Rote Grütze und Grips- Theater) wird insofern das Autorentheater von Friedrich Karl Waechter (1937-2005) und Paul Maar (geb. 1937) zur Sprache gebracht, dabei ein Modell der pädagogisch-didaktischen Zielsetzungen wie auch ein Katalog der Intentionen und Stilkriterien der damals entwickelten Stücke entworfen (Schneider 1984: 100ff.). An Bauer anknüpfend verweist Schneider auf die gesellschaftskritische Funktion des „neorealistischen Kindertheaters“ und zwar im Sinne einer eventuell neuen Art von Volkstheater (Schneider 1984: 105ff.).10 Auch Kaysers Dissertation vermittelt ein genaues Bild von dem Etablierungsprozess des KJTs in seinen Neuansätzen während der Studentenbewegung der 1960/70er Jahre. Das so genannte „emanzipatorische Theater für Kinder“ hätte demnach eine dreiphasige Entwicklung durchgemacht: Von einer „antiautoritären“ Phase über eine Phase „realistischer“ Stücke bis hin zu einer Wiederentdeckung von „Märchen und Clownerie-Elementen“ (Kayser 1985: 156). Als repräsentative Beispiele für die letzte Etappe werden die Werke von Friedrich Karl Waechter und erstmals von Wilfried Grote (geb. 1940) genannt. Kayser konzentriert sich vornehmlich auf die Darstellung des Theaters der Jugend in München im Zeitraum von 1969 bis 1985. Mitte der 1990er Jahre wurde das Ergebnis des zu Beginn des Jahrzehnts am Frankfurter Institut für Jugendbuchforschung initiierten Forschungsprojekts zur Geschichte des deutschen 9 Hierbei beruft sich Bauer auf Volker Ludwig (geb. 1937), Schriftsteller und Leiter des von ihm in Berlin gegründeten Grips-Theaters (Bauer 1980: 9ff.). Unter dem Begriff „emanzipatorisches Kindertheater“ wird jenes in Deutschland ab Ende der 1960er Jahre entwickelte Theater für und mit Kindern und Jugendlichen verstanden, das seine Adressaten zu einer kritischen Reflexion der Umgebung und des eigenen Verhaltens anregen wollte. 10 Auch hierauf hatte bereits Schedler (1972) verwiesen. Historischer Abriss 20 KJTs zwischen 1945 und 1970 durch Klaus Doderer (1995) vorgelegt. Damit sollte eine Forschungslücke zur deutschen Kinder- und Jugenddramatik des 20. Jahrhunderts geschlossen werden. Ziel der Untersuchung war insofern, „die bislang in Fachkreisen bestehende Auffassung, dass im Kinder- und Jugendtheater Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg bis ,tief in die sechziger‘ Jahre hinein die Zeit stehen geblieben sei und nur ,mindere Märchenbearbeitungen‘ die Spielpläne beherrscht hätten“, zu korrigieren (Doderer 1995: 6). Auf die Bundesrepublik bezogen weist sie nach, dass sich „ein relativ reges Kinder- und Jugendtheaterleben“ herausbildete, mit Märchenbearbeitungen, Stücken aus der Weltliteratur sowie Zeitstücken. Es wurden insgesamt 240 Titel zusammengestellt, 30 davon näher vorgestellt. Die Darstellungen verbinden Informationen zur Entstehungs-, Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte der Stücke mit Hinweisen auf die Intention des Autors; durch kurze Form- und Inhaltsanalysen der ausgewählten Stücke wird auch auf Fragen nach Aufbau und Struktur sowie Figurencharakterisierung und -konstellation eingegangen. Zusätzlich werden am Anfang einer jeden Analyse Angaben zum Autor gemacht. Ein anderes Kapitel widmet sich der Profilbeschreibung bedeutsamer Bühnen der damaligen Bundesrepublik Deutschland.11 Dabei wird u.a. auf Konzeption, Programm, Organisationsform und Spielstätten inklusive Spielplanangebot hingewiesen. In einem abschließenden Kapitel werden Positionen von Zeitzeugen (u.a. Dramatikern, Regisseuren und Kritikern) benannt. Zum DDR-KJT findet sich z.B. die akribische Arbeit von der Theaterwissenschaftlerin und - pädagogin Christel Hoffmann (1976). Im Gegensatz zu den anderen Arbeiten handelt es sich um eine interdisziplinäre Studie, in der Literatur-, Theater- und Kulturwissenschaft miteinander in Verbindung gebracht werden. Hoffmann schreibt von den Erfahrungen des DDR-KJTs als vom „proletarischen Kindertheater“ und bezieht sich dabei auf seine Gründer und seine künstlerischen Köpfe, u.a. Natalia Saz (1903-1993), Asja Lacis (1891-1979) und Walter Benjamin (1892-1940). Anhand von Spielplanbeobachtungen an den wichtigsten professionellen Bühnen der ehemaligen DDR12 wird dann im Hauptteil der Arbeit die Entwicklung des sozialistischen KJTs im Zeitraum von 1950 bis 1970 untersucht; das genremäßige Spektrum reicht vom historischen Stück über die Dramatisierung von Volksmärchen und klassischen Stücken bis hin zum so genannten Gegenwartsstück. Der Vollständigkeit halber sei noch auf Schneider (1990) hingewiesen, der Aufsätze zu verschiedenen Aspekten in der Entwicklung des DDR-KJTs vom Anfang bis Ende der 1980 Jahre versammelt. 11 Es handelt sich hierbei um folgende Bühnen: Das Theater der Jugend an den Städtischen Bühnen in Nürnberg/Fürth, das Theater der Jugend in München, das Kinder- und Jugendtheater an den Städtischen Bühnen in Dortmund, das Theater der Jugend an der Landesbühne Rhein-Main, das Kindertheater am Jungen Theater und das Theater für Kinder in Hamburg, sowie die Berliner Kammerspiele und das Grips-Theater in Berlin. 12 Das sind im Wesentlichen das Theater der Freundschaft (Berlin), das Theater der Jungen Welt (Leipzig), das Theater der Jungen Generation (Dresden) und das Theater der Jungen Garde (Halle). Historischer Abriss 21 Neben dem KJT im eigentlichen Sinne, also dem Theater für Kinder und Jugendliche, bei dem Kinder und Jugendliche primär zuschauend tätig sind, bildet auch das Theater mit Kindern und Jugendlichen einen wichtigen Bestandteil der Geschichte des KJTs in Deutschland. Im Verhältnis zum Theater für Kinder und Jugendliche handelt es sich dabei um diejenige Form des Theaterspiels, die für die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in den theatralischen Prozess steht, wobei das besondere Interesse dem kindlichen Spiel und seinen darstellerischen Möglichkeiten gilt. Für die hier durchzuführende Untersuchung sind die Entwicklungen des Theaters mit Kindern und Jugendlichen von aufschlussreicher Bedeutung. Das KJT weist nämlich, vor allem in seiner Frühgeschichte, vielfältige Beziehungen zwischen dem Theater mit Kindern und Jugendlichen und dem Theater für Kinder und Jugendliche auf. Zu nennen sind hier beispielsweise das Schultheater des Humanismus (hierzu Schulze 1961),13 die didaktischen Kinderschauspiele der Aufklärung und das Märchentheater des 19. Jahrhunderts. Auch die so genannte Theaterpädagogik ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen. Das theaterpädagogische Arbeitsfeld hat ab etwa Mitte der 1980er Jahre so sehr an Bedeutung innerhalb des professionellen KJTs gewonnen, dass zahlreiche Publikationen zum Verhältnis von Pädagogik und KJT erschienen sind. Es sei hier auf Behr (1985), Richard (1989) und Hartung (2001) hingewiesen; ebenso sind hier die zahlreichen Beiträge durch Wardetzky (u.a. 1990, 1991) zum Rezeptionsverhalten von Kindern im Theater zu nennen. Zur Debatte hat ein Text beigetragen, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfasst wurde, nämlich Walter Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters (1928; Nachdruck 1969). Darin wird begründet, und zwar auf der Basis nachrevolutionärer Praxis in der Sowjetunion, warum der Rahmen der proletarischen Erziehung vom vierten bis zum vierzehnten Lebensjahr das proletarische Kindertheater sein solle. Er setzt dabei auf die verschiedenen Formen des Ausdrucks, auf die Anfertigung von Requisiten, Malerei, Rezitation, Musik, Tanz und Improvisation. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung nimmt ebenso sehr zu. Dabei wurde die Geschichte des KJTs oft eher als Grundlage dazu herangezogen, sich auf theoretisch- wissenschaftlicher Ebene mit der Ästhetik des Genres zu befassen. Beispiel dafür sind nicht nur die bisher dargestellten Einzelstudien zu unterschiedlichen Epochen, bei denen gelegentlich Strukturen und die gesellschaftspolitische Lage erörtert werden, sondern auch der große Fundus an Dissertationen sowie Magister- und Diplomarbeiten aus unterschiedlichen Fachbereichen (d.h. Theater-, Literatur-, Kulturwissenschaft, Pädagogik), die auch heute noch zur Diskussion um das KJT in Deutschland beitragen. 13 Schulze beginnt seine Untersuchung mit dem deutschsprachigen Schultheater des 16. Jahrhunderts und endet mit den Entwicklungen zu einem Laien- und Amateurtheater in der Nachkriegszeit um 1945. Historischer Abriss 22 Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Arbeiten richtet ihr Augenmerk vorrangig entweder auf die Interpretation einzelner Autoren oder Stücke und die Analyse einzelner Inszenierungen, oder aber auf verschiedene Aspekte des KJTs, wie z.B. die Dramatisierung von Kinderbüchern, das Rezeptionsverhalten des jungen Publikums oder die theaterpädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Dabei ist das Interesse auch auf die verschiedenen Ausprägungen des KJTs gerichtet: Schultheater, Theater mit Kindern und Jugendlichen, Sprechtheater, Puppen, Figuren- und Objekttheater, Musiktheater. Es fällt jedoch insbesondere auf, dass eine Auseinandersetzung mit dramaturgischen Belangen selten vorgenommen wird. Zusammengenommen ergeben die uns zur Verfügung stehenden Studien zwar noch keine Geschichte des deutschen KJTs, aber sie bilden eine vielfältige Grundlage. 1.2 Entstehungsbedingungen des KJTs in Deutschland Bei der Frage, wie es überhaupt zur Herausbildung eines eigenständigen KJTs in Deutschland kam, lassen sich wichtige Faktoren unterscheiden, die miteinander in Wechselwirkung stehen. KJT galt (und gilt) zunächst als ein Phänomen, das mit Kinder- und Jugendliteratur zu tun hat. Darunter ist die Gesamtheit der literarischen Produkte zu verstehen, die nach der Auffassung der Epoche zur Kinder- und Jugendunterhaltung sowie Belehrung, also Vermittlung von religiösen und moralischen Werten, hergestellt worden sind (z.B. Bilderbücher, Kinder- und Jugendbücher, Kinder- und Jugendzeitschriften). Damit stellt sich die Aufgabe, im deutschen Sprachraum die allgemeinen Voraussetzungen für die Herausbildung eines spezifischen KJTs darzustellen. Der Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ ist hier mit Doderer (1977: 163) als Bezeichnung für alle literarischen Texte zu nehmen, „die von Autoren speziell für ein jugendliches Lesepublikum verfasst wurden“ (dazu auch Ewers 2000). Unter „spezifisches KJT“ ist vielmehr ein Historisches, also jene Dramatik zu verstehen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts explizit für Kinder und Jugendliche verfasst wurde und nicht nur als Lese-, sondern auch als Spielstoff für theatralische Aufführungen im familiären Kreis gedacht war (Taube 2000: 33). Es sei vorweg gesagt, dass die gesamte Kinder- und Jugendliteratur eine kurze Geschichte aufweist. So wie andere traditionelle Erzählstoffe waren Märchen z.B. nicht von vornherein für Kinder gedacht: „Das Märchen ist ursprünglich von Erwachsenen (in Deutschland ebenso oft von Männern wie Frauen) für Erwachsene erzählt worden. Die Erzähler gehörten durchweg den ärmeren Kreise an, waren Dienstleute, kleine Pächter, Tagelöhner, Landarbeiter, Handwerker, Schäfer, Fischer, Matrosen und Bettler“ (Richter/Merkel 1974: o.S.). Zu einer eigenständigen, spezifischen Literatur für Kinder und Jugendliche kam es laut Gattungshistoriker erst vor über zweihundert Jahren, nämlich im ausgehenden 18. Jahrhundert (dazu u.a. Kiesel/Münch 1977; Historischer Abriss 23 Baumgärtner 1979: 9ff.; Wild 2008: 43ff.). Es hatte zwar schon früher vereinzelte Ansätze gegeben, Bücher für die Heranwachsenden zu schreiben, aber eine Kinder- und Jugendliteratur im eigentlichen Sinne war das noch nicht. Von einer eigens für Kinder und Jugendliche oder wenigstens hauptsächlich für sie geschriebenen und publizierten Literatur kann eigentlich erst im Zusammenhang mit der Spätaufklärung die Rede sein. Als wichtigste Voraussetzung für die Entstehung einer eigenständigen Kinder- und Jugendliteratur gilt dabei die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen, bzw. die Vorstellung, die die Gesellschaft Ende des 18. Jahrhunderts von „Kindheit“ hatte. In dieser Epoche wurden nicht nur Kinder und Jugendliche als eine eingegrenzte Zielgruppe angesehen bzw. als Lesepublikum entdeckt, sondern es ging mit dem zu Beginn der 1770er Jahre in Deutschland einsetzenden Philanthropismus auch ein signifikanter Wandel von „Kindheit“ einher (Hurrelmann 1979: 42) und zugleich die Notwendigkeit, diese pädagogisch-didaktisch zu betreuen (dazu Reble 1971: 300ff.; Stach 1980: 6ff.), insbesondere durch den Einfluss von Rousseau (dazu König 1960; Benner 2000: 225ff.; Tenorth 2010). Mit Rousseaus bahnbrechendem Kindheits- und Erziehungskonzept begann sich nämlich unter den deutschen Philanthropen die Einsicht zu verbreiten, dass „Kindheit“ nicht nur als Durchgangsstadium zum Erwachsensein angesehen werden sollte, sondern als besondere Zeitspanne der Entwicklung im Leben eines Menschen galt, der besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden musste. Allerdings muss hier sogleich relativiert werden, denn dies bezog sich ausschließlich auf die Kinder des besitzenden und gebildeten Bürgertums. Dabei ging es also offensichtlich um „eine schichtbezogene Vorstellung von Kindheit, die sich von der proletarischen oder bäuerlichen Kindheit abhebt, die jeweils eigene Strukturen haben“ (Pfeiffer 2005: 5). Mit der Entstehung einer Kinder- und Jugendliteratur verbindet sich insofern auch die seit dem Beginn der Neuzeit einsetzende „Entdeckung“ der Kindheit (s. nächstes Kapitel), wie sie der französische Sozial- und Kulturhistoriker Philippe Ariès (2007) beschreibt, sowie deren Betrachtung im kulturellen Zusammenhang. Auf diese enge Verbindung hat Kaminski (1998: 9) schon hingewiesen: „Die Kinder- und Jugendliteratur entstand nämlich in engem Zusammenhang mit der Herausbildung von ,Kindheit‘, indem sie ein bestimmtes Bild des Kindes verbreiten half und wiederum selbst von der Geschichte der Kindheit beeinflusst wurde“. Was den kulturgeschichtlichen Zusammenhang anbelangt, weisen Jahnke (1977: 11) und Kaminski (1998: 12) darauf hin, dass ihr Anfang unmittelbar mit der Emanzipationsbewegung des Bürgertums von der Vorherrschaft des Adels und der Kirche zusammenfällt (dazu auch Hinske 1985: 390f.). Erst im Rahmen der Entstehung des nach Bildung strebenden Bürgertums sowie dessen Interessen und Bedürfnisse, sich kulturell zu artikulieren, lässt sich insofern eine eigens für Kinder und Jugendliche produzierte Literatur begreifen: Ohne das Bürgertum und die Historischer Abriss 24 von ihm geschaffene Kultur hätte eine solche Literatur kaum eine materielle, soziale und kulturelle Basis gehabt (dazu Herrmann 1989; Hettling 2000: 319ff.). Zwei weitere Faktoren dürften schließlich nicht übersehen werden. Die Erfindung des modernen Buchdruckes bedeutete erstmals die „Umstellung des Literaturbetriebs von der Handschriftenabfassung auf die Buchproduktion, die aber erst gegen Ende des zweiten Drittels des 16. Jh.s weitgehend abgeschlossen war“ (Wild 2008: 5). Gutenbergs Druckerpresse revolutionierte den Buchdruck und machte das gedruckte Buch zu einem Massenartikel: „Durch die praktisch unbegrenzte Möglichkeit der Vervielfältigung des geschriebenen Wortes konnte das gedruckte Werk als Buch, Flugblatt oder Flugschrift zu einem gesellschaftlichen Kommunikationsmittel mit größter Breitenwirkung werden. Dies hatte seine Auswirkungen natürlich auch auf die Kinder- und Jugendliteratur“ (Wild 2008: 5f.). Die Entwicklung der Literatur für Kinder und Jugendliche in Deutschland steht dann in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Alphabetisierungsschub, der im Laufe des 18. Jahrhunderts – insbesondere in den 70er Jahren – durch die Einführung des allgemeinen Schulzwangs erfolgte und „der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt erst ein potentielles Publikum verschaffte“ (Baumgärtner 1979: 12). 1.2.1 Die „ Entdeckung“ der Kindheit Was heute als „Kindheit“ bezeichnet wird, nämlich der Abstand zwischen Erwachsenen und Kindern, hat es nicht immer gegeben (dazu u.a. Plessen/von Zahn 1979; Martin/Nitschke 1986; Ariès 2007). Kindheit und Jugend wurden in der Antike zur Zeit Roms nicht als eigenwertige Lebensphasen begriffen, sondern jeweils nur als Vorbereitungsphasen angesehen, zwar als Lebensperioden im Gegensatz zum Erwachsensein, die jedoch altersmäßig nicht scharf umrissen waren (ausführlicher dazu Eyben 1986: 317ff.). Eine Abgrenzung zwischen Erwachsenen- und Kinderwelt hat das Mittelalter auch nicht gekannt, so Ariès (2007: 559): „Im Mittelalter [...] waren die Kinder mit den Erwachsenen vermischt, sobald man ihnen zutraute, dass sie ohne die Hilfe der Mutter oder der Amme auskommen konnten, d.h. wenige Jahre nach einer spät erfolgten Entwöhnung, also mit sieben Jahren“. Die Gesellschaft im Mittelalter hatte keine Vorstellung von Kindheit als eigenständigem Begriff oder Lebensphase. So wurde das Kind nicht als „eigenes Wesen“ betrachtet, sondern es war immer als Nicht-Erwachsener definiert (Wild 2008: 2). In bäuerlichen Familien lebten die Kinder, sobald sie sich allein fortbewegen und verständlich machen konnten, mit den Erwachsenen und wurden dann an die Verrichtungen des Alltags herangeführt oder häufig als Arbeitskräfte vermietet; die Kinder der Adligen hingegen waren von der Notwendigkeit befreit, zur Versorgung der Familie beizutragen, mussten also nicht Historischer Abriss 25 arbeiten. So wurden sie durch Hauslehrer erzogen oder in Klosterschulen gebildet und auf weltliche oder kirchliche Ämter vorbereitet. Erst am Ende des Mittelalters wird Kindheit als Phänomen erkennbar (Ariès 2007). Im Ãœbergang vom Mittelalter zur Neuzeit (15./16. Jahrhundert) kam es hauptsächlich durch das Wirken der Humanisten zu einer Veränderung des Bildes vom Kind und der Auffassung von Kindheit als eigener Lebensphase (Plessen/von Zahn 1979: 69ff.). Kindheit erhielt so eine neue Qualität in dem Sinne, dass das Kind nun in seiner Besonderheit wahrgenommen und nicht länger als unvollständiger Erwachsener betrachtet wurde (zu den Ursachen dieser veränderten Einstellung zur Kindheit vgl. ausführlicher Ariès 2007). Später dann im 17. Jahrhundert wurde durch die Moralisten, Pädagogen und Kirchenmänner das Interesse am Kind und dessen Erziehung stark geweckt. Das Kind, so heißt es zum Beispiel im von Hartmut von Hentig geschriebenen Vorwort zu Ariès‘ Werk, „ist nicht amoralisch, für sittliche Unterscheidungen unempfänglich, ,roh‘ (und muss sich auswachsen): ein Gegenstand zum Hätscheln und Spaßhaben, sondern unschuldig, verderblich, des Schutzes und der Erziehung bedürftig: ein Gegenstand der ernsten Verantwortung“ (S. 10). Insofern wurde die Kindheit als die eigentliche Zeit der Formung des Menschen erkannt, und zwar vor allem durch die Jesuiten, die diese Zeit durch systematische Disziplinierung des Willens und Schulung des Geistes zu nutzen gesucht haben (Ariès 2007: 10). Im 18. Jahrhundert, von Wild (2008: 45) als „Epoche des Ãœbergangs“ bezeichnet, kommt es im europäischen Raum zu einem tiefgreifenden sozialen Wandel der Gesellschaft und infolgedessen zu einer Neubewertung von Kindheit. Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, welche sich als hervortretende politische Kraft Freiheit von der Grundherrschaft des Adels erkämpfen wollte, sowie mit der sich herausbildenden Industriegesellschaft entwickelte sich Kindheit als eigenständiger Status, indem die Besonderheiten des kindlichen Lebens erkannt wurden. Damit nahm das Kind einen höheren Stellenwert ein, es trat aus seiner „einstigen Anonymität“ (Ariès 2007: 48) heraus. Zuvor hat es Kindheit – wie eben beschrieben – nur im biologischen Sinne gegeben, das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen Kindheit und Erwachsensein war das Verhältnis zur produktiven Arbeit: Je nach Stand mussten Kinder ab dem Zeitpunkt arbeiten, wo es ihnen physisch möglich war (Hammerstein/Herrmann 2005: 82 u. 84). Aber im Zuge der Aufklärungsbewegung, im ausgehenden 17. Jahrhundert in den Niederlanden und England einsetzend, dann sich schrittweise in andere Länder Europas verbreitend, veränderte sich der Blick der Erwachsenen auf das Kind und damit auch das Verhältnis zum Kind: Kinder – und auch Jugendliche, denn bis weit ins 18. Jahrhundert hinein wurde zwischen Kindheit und Jugendalter kein Unterschied gemacht (Wild 2008: 2) – wurden als eine eingegrenzte und fest umrissene Altersgruppe „entdeckt“, was auch einen Wandel in der Auffassung von Kindheit bewirkte. Diese wurde nun als eine besondere Lebensphase Historischer Abriss 26 angesehen, die sich entweder radikal vom Erwachsenenstatus unterschied oder/und zugleich erwachsene Individualität vorbereitete und formierte (Martin/Nitschke 1986). Mit voneinander zu unterscheidenden nationalen Ausprägungen wird die Aufklärung als eine Epoche gedeutet, die von ihrem Selbstverständnis her zur moralischen und geistigen Belehrung tendierte (zur Epoche der Aufklärung im Allgemeinen siehe u.v.a. Alt 2007 u. Schneiders 2008). Vor allem das ausgehende 18. Jahrhundert ist das Zeitalter der Erziehung, das für Deutschland einen Höhepunkt der pädagogischen Bewegung darstellt, so Bollnow (1977: 1): „Niemals überhaupt hat man in der deutschen Geschichte so große Hoffnungen auf die Verbesserung der Lage der Menschen gesetzt, die durch die Erziehung möglich sein sollte, niemals hat man in der deutschen Geschichte die Aufgaben der Erziehung mit einem solchen Eifer in Angriff genommen“. Nicht zu Unrecht tragen die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts die Bezeichnung „pädagogisches Jahrhundert“ (König 1960: 40; Tenorth 2010: 79). Mit der Aufklärung ist daher auch ein erzieherisches Interesse am Kind verbunden, zwar unter dem Einfluss des etwa ab 1750 einsetzenden neuhumanistischen Bildungsdenkens (Hammerstein/Herrmann 2005: 99f.; Benner/Kemper 2009), aber dann vor allem auch im Rahmen der in den 1770er Jahren in Deutschland aufkommenden philanthropischen Strömung (dazu Hammerstein/Herrmann 2005: 108ff.). Als eine pädagogische Reformbewegung ging es dem Philanthropismus vor allem um eine didaktische „Revolution“ (Jahnke 1977: 14), d.h. gegenüber theoretisch-abstrakten Lernmodellen, ja einem moralischen Unterricht, der „in der Vermittlung von Geboten, Regeln, Anweisungen und Warnungen bestand, die zumeist auswendig zu lernen waren“ (Ewers 1991: 22), betonten die Reformpädagogen das das Spielerische im Elementarunterricht, das Lernen durch Anschauung und die Selbsttätigkeit des Kindes (Hammerstein/Herrmann 2005: 106). Ein besonderer Schwerpunkt wurde auf „Realfächer, moderne Sprache, Leibesübungen und praktische Arbeiten“ (Brunken 2005: 24) gelegt. Insofern verfolgte die Philanthropie das Ziel, die Kinder zu Menschenfreunden zu erziehen, indem ihre natürlichen Anlagen, insbesondere die Vernunft, gefördert werden sollten. Führende Vertreter der philanthropischen Bewegung in Deutschland waren Johann Bernhard Basedow (1724-1790), Joachim Heinrich Campe (1746-1818) und Christian Gotthilf Salzmann (1744-1811) (dazu Stach 1984: 117ff.). Vorangegangen war dem Philanthropismus ein Wandel in der Auffassung von Kind und Kindheit überhaupt, der wiederum maßgeblich durch die Schriften zweier erziehungstheoretischer Vordenker beeinflusst war: John Lockes (1632-1704) Some Thoughts Concerning Education (1693; Gedanken über Erziehung), von Brüggemann (1982: Sp. 21) als „die Bibel der Erziehung“ bezeichnet, sowie der Erziehungsroman Émile ou l'éducation sentimentale (1762; Emil oder Ãœber die Erziehung) von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) (dazu Benner/Kemper 2009 u. insb. Hammerstein/Herrmann 2005: 102ff.). Vor allem durch Rousseaus bahnbrechendes und ungemein einflussreiches Werk, das Kindheit pädagogisch- Historischer Abriss 27 moralisch zentral thematisierte, war die kindliche Lebenszeit als ein eigener Zustand erkannt worden. Unter Berufung auf Rousseau wurde es nun für notwendig gehalten, sich auf kindliche Wahrnehmungsformen einzustellen, wobei die Rousseausche theoretische Vorstellung von Kindheit als Maßstab akzeptiert wurde (Hammerstein/Herrmann 2005: 104f.). Wie schon bei Rousseau, der das Kind als ein Wesen eigener Art ansah und für den die Kindheit ein Lebensabschnitt war, der seinen Sinn in sich selbst hatte – zum Eigenwert der Kindheit sagt Rousseau (1762 [dt. 1971]: 76): „Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten“ –, so gehörte es auch bei den Philanthropen zum Selbstverständnis der Erziehungstheorie, ein neues Bild des Kindes und der Kindheit zu beanspruchen: Das heranwachsende Kind wird als ein Geschöpf eigener Art und eigenen Wertes betrachtet, in seiner Entwicklung gleichermaßen durch die Natur wie die Gesellschaft bestimmt, sodass es zur Aufgabe der Pädagogen wird, der wahren Bestimmung des Menschen zum Durchbruch zu verhelfen, um zugleich im Kinde die bessere Zukunft der Gesellschaft herbeizuführen. (Tenorth 2010: 82) Für die aufgeklärte Pädagogik des 18. Jahrhunderts war also Kindheit Lernzeit. Oder um es sinngemäß mit Pfeiffer (2005: 3) zu formulieren: „Kindheit als kulturell bestimmte Altersphase wird Erziehungskindheit, in der die Differenz zum mündigen Erwachsenen durch Lernen bearbeitet werden muss“. Allerdings muss hier gesagt werden, dass die Erziehungsansichten der Philanthropen im Gegensatz zu Rousseaus Konzept einer „natürlichen Erziehung“ standen, so wie es in seiner Erziehungsutopie beschrieben wird. Für die philanthropische Bewegung war die gesellschaftliche Erziehung nämlich von großer Bedeutung. Darauf hat Brunken (2005: 24) aufmerksam gemacht: „Die Philanthropen knüpfen zwar an Rousseaus Vorstellungen von einer naturgemäßen Erziehung an, erweitern diese aber um die Komponente des Vernunftgemäßen und wenden sein radikal individualistisches Konzept – Emil soll isoliert von der Gesellschaft aufwachsen – ins Soziale“. Dass das Interesse der Pädagogen des Philanthropismus ausschließlich der Erziehung der Kinder so genannter „gesitteter Stände“, d.h. des wohlhabenderen Handelsbürgertums, der Beamtenschaft und des niederen Adels galt, gehört hervorgehoben. Unter dem Postulat der Nützlichkeit und Brauchbarkeit des Individuums für die Gesellschaft wollte man eine neue Erziehung begründen, die gesellschaftliche Veränderungen automatisch nach sich ziehen sollte. Die Lehrzielbestimmungen der Reformer entsprachen in diesem Sinne auch den Forderungen des aufstrebenden städtischen Bürgertums nach Emanzipation von den Zwängen des Absolutismus bzw. von der Vorherrschaft des Adels und der Kirche. Das Bürgertum sah nämlich in der Pädagogik die Chance, seine Emanzipationsziele verwirklichen zu können. Dazu Kaminski (1998: 9): „Gegen die angeblich ererbten Vorrechte der Fürsten und Priester, ihre Historischer Abriss 28 Standesprivilegien sowie ihre vorgeblich überlegenen körperlichen oder intellektuellen Anlagen setzte das Bürgerturm auf die Erziehung“. Durch die Verbürgerlichung der Erziehung sollte auch die Verbürgerlichung des Staates erreicht werden (Jahnke 1977: 15). In diesem Zusammenhang wurde das Kind als ein besonderes Wesen angesehen, das es zu einem „nützlichen“ (und „glücklichen“) Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft zu machen galt (Hammerstein/Herrmann 2005: 107). Diesem Ziel widmete sich ab 1770 ein umfassendes pädagogisch-psychologisches Textkorpus. So dokumentierten die Erziehungswerke Basedows (Das Elementarwerk, 1774)14, Campes (Seelenkunde für Kinder, 1780; Allgemeine Revision des gesamten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, in 16 Bänden 1785-1792)15, Salzmanns (Krebsbüchlein, 1780; Konrad Kiefer, 1796) und anderer bedeutender Reformpädagogen, was ideale „Kindheit“ sei und wie die moralische und geistige Entwicklung der Kinder (bzw. Bürgersöhne) in den Erziehungs- und Unterrichtsanstalten, z.B. am von Basedow 1774 in Dessau gegründeten „Philanthropin“ (Anstalt der Menschenfreunde), gefördert werden sollte (dazu König 1960: 185ff.; Tenorth 2010: 91f.; Stach 1984: 115ff.). Dazu sollten auch die zur gleichen Zeit in Deutschland veröffentlichten und auch von anerkannten philanthropischen Pädagogen geschriebenen „Kinderjournale“ beitragen. Hier wurden wichtige Impulse für die Herausbildung einer Kinder- und Jugendliteratur gesetzt, nämlich einer Literatur, die bewusst für junge Zielgruppen konzipiert und produziert wurde (Baumgärtner 1979: 12). Die so genannten „Kinderjournale“ waren durch das Muster der für ein Erwachsenenpublikum gedachten „Moralischen Wochenschriften“ angeregt, die sich ihrerseits aus englischen Vorbildern entwickelt hatten (zu Ursprung, Geschichte, Funktion und Inhalten der „Moralischen Wochenschriften“ in Deutschland insb. Martens 1968 u. ŽmegaÄ 1979: 58ff.). Baumgärtner (1979: 12) macht insofern auf Folgendes aufmerksam: [N]achdem Zeitschriften für Erwachsene, [...], im Anschluss an die für die Erzieher gedachten Beiträge bereits Texte für Kinder gebracht hatten [...], machten sich diese Beilagen in den bald danach aufkommenden Kinderzeitschriften wie dem „Leipziger Wochenblatt für Kinder“, das Adelung von 1772 bis 1774 herausgab, oder dem „Kinderfreund“ von Weiße, der von 1774 bis 1782 erschien, gewissermaßen selbständig. Dem Kinderfreund, der erfolgreichsten und auf lange Zeit wirkungsvollsten Kinderzeitschrift überhaupt (Oskamp 1996: 15), folgte dann noch der auch von Christian Felix Weiße (1726-1804) herausgegebene Briefwechsel der Familie des Kinderfreundes (1784-1792). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden tatsächlich eigene Zeitschriften für Kinder 14 Dazu die ausführliche Darstellung bei Benner/Kemper (2009: 99ff.). 15 Dazu Hammerstein/Herrmann (2005: 107f.). Historischer Abriss 29 in wachsender Zahl; so geben Kiesel/Münch (1977) an, dass bis 1789 mindestens 29 Kinderzeitschriften herauskamen und bis 1800 noch zehn weitere. Ähnlich wie bei den „Moralischen Wochenschriften“ für Erwachsene kam in den deutschen „Kinderjournalen“ das aufgeklärte bürgerliche Wert- und Tugendsystem zum Ausdruck; dazu zählten vor allem Arbeit, Vernunft, Nützlichkeit, Moral und Sittlichkeit (Ruppert 1989: 71 u. 66). Die Hauptaufgabe der „Kinderjournale“ lag wesentlich in der ideologischen Formierung junger Leser (Jahnke 1977: 20), also in der „sittlich-moralischen Bildung“ der Kinder (Brüggemann 1982: Sp. 142) sowie ihrer Erziehung zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft (hierzu Hurrelmann 1989: 194ff. am Beispiel von Weißes Kinderfreund), was dem zentralen philanthropischen Prinzip der Erziehung entsprach. Ãœberdies hatten die „Kinderjournale“ mit den „Moralischen Wochenschriften“ die Vielfalt literarischer Kleinformen gemein: Von moralischen Erzählungen und Fabeln über Gedichte und Kinderdramen bis zu lehrhaften kleinen Abhandlungen zu Naturkunde, Geographie, Nationalökonomie oder Geschichte (Jahnke 1977: 20; Oskamp 1996: 15). 1.2.2 Entstehung der Kinder- und Jugendliteratur Gleichzeitig mit den Kinderzeitschriften erschienen die ersten kinder- und jugendliterarischen Werke. Der 1779 von Campe geschriebene Jugendroman Robinson der Jüngere, eine Umarbeitung von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719), gilt als erste spezifisch deutsche Jugendschrift. Damit entsteht laut der Jugendliteratur-Geschichtsschreibung erstmals in Deutschland eine eigene, ausdrücklich für Kinder und Jugendliche geschriebene und publizierte Literatur (Kiesel/Münch 1977; Baumgärtner 1979: 12), die beinahe sofort eine erhebliche Vielfalt an Erscheinungsformen und eine große Anzahl an Titeln zeitigte (dazu insb. Ewers 1991). Allerdings ist Kinder- und Jugendliteratur keine „,Erfindung‘ des ,aufgeklärten‘, des ,pädagogischen‘ Zeitalters“, ihre Spuren lassen sich vielmehr bis ins Mittelalter zurückverfolgen (Wild 2008: 1). Später dann im 16. und 17. Jahrhundert hat es auch vereinzelte Versuche gegeben, Bücher für Kinder und Jugendliche zu schreiben, wie Zuchtbücher oder ABC-Lehren; auch die Schriften Jörg Wickrams (um 1505-vor 1562) Der jungen Knaben Spiegel (1554) und Sachbilderbücher in der Art des Orbis sensualium pictus (Die sichtbare Welt, 1658) von Johann Amos Comenius (1592-1670) sind Zeugnis dafür (zur voraufklärerischen deutschen Kinder- und Jugendliteratur insb. Wild 2008: 3ff.). Dabei kann allerdings von einer eigenständigen Kinder- und Jugendliteratur noch nicht die Rede sein. Erst im Kontext der Aufklärungsbewegung, der es ja um die Erziehung des Menschen ging, wurden Kinder und Jugendliche als eingegrenzte und fest umrissene Adressatengruppe bzw. Lesepublikum entdeckt. Ganz den Postulaten des Philanthropismus Historischer Abriss 30 entsprechend verband sie Belehrung mit Unterhaltung, Nutzen mit Vergnügen. Daher gehörten zu der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommenden deutschen Kinder- und Jugendliteratur antike Fabeln des Äsop wie auch Fabeln von Lessing; daneben legten Campe und die meisten seiner Nachfolger, u.a. Basedow, Salzmann und Weiße, besonderen Wert auf moralisch-didaktische Romane und Erzählungen. Darin wurde den jungen Lesern vor Augen geführt, was passierte, wenn sie vom Pfad der Tugend abwichen; in Sittenlehren wurden sie auch auf ihre Pflichten hingewiesen. Insofern war die Kinder- und Jugendliteratur des späten 18. Jahrhunderts, so Ewers/Wild (1999: 9), „ein Medium der Vermittlung nicht kindheits- oder jugendspezifischer, sondern allgemeingültiger Werte und Verhaltensnormen“. Kinder- und Jugendbücher erhielten somit die Aufgabe, eine sittliche Erziehung zu verbreiten, die auch das aufgeklärte bürgerliche Tugendsystem unters Volk bringen sollte (Jahnke 1977: 16). Hierbei begann die Rolle der Kinder- und Jugendliteratur als Medium der Sozialistation, die dann im 19. Jahrhundert ihren Niederschlag in der Propagierung „des weitgehend konservativen bürgerlichen Wertesystems der Biedermeierzeit, der Gründerzeit und des Wilhelminismus“ (Ewers/Wild 1999: 9) fand. 1.3 Das Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland: Ursprung und Entwicklung bis zum Ende des 20. Jahrhunderts In diesem Abschnitt wird ein kursorischer Ãœberblick über die Entwicklung der Gattung im deutschsprachigen Raum von den frühen Anfängen im Mittelalter bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts gegeben. Er lehnt sich an die bereits vorgestellte Literatur (s. 1.1) an. Für die Zeit nach 1945 liegt der Schwerpunkt auf dem bundesdeutschen KJT. Dabei wird immer wieder deutlich, wie eng dieses und das Theater im Allgemeinen mit der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage verzahnt ist. Themen und Spielformen sind seit jeher von äußeren Bedingungen und Veränderungen geprägt worden. Genannt seien z.B. die einschneidenden Veränderungen im bundesdeutschen KJT ab 1968, ausgelöst durch die politische Situation. Es wird also festzustellen sein, inwiefern diese Hintergrundsbedingungen die verschiedenen künstlerischen Formen und Konzepte des KJTs bestimmt haben. 1.3.1 Frühere Formen des KJTs Zu den ältesten Vorläufern im deutschsprachigen Raum zählt das didaktische Theater im Sinne der szenisch-dramatischen Darstellung als Unterrichtsmittel. Dabei wurde der Schulunterricht mit mimischen Darstellungen der Schüler untermalt, um Lerninhalte spielerisch zu vermitteln. Allerdings lassen sich die Ursprünge dieser Variante des Schulspiels nicht exakt datieren (Schedler 1972: 22). Historischer Abriss 31 Ansätze dieser Art wurden in den mittelalterlichen Klosterschulen und Ordensinternaten der Renaissance, vor allem in denen der Jesuiten, aufgenommen und zu immer neuen Ausgestaltungen des Schultheaters weiterentwickelt (Schedler 1972: 22). Wesentlich für die Entstehung des Schuldramas der Renaissance war die Wiederentdeckung der Komödien von Terenz (ca. 195-159 v. Chr.) durch die Humanisten im 15. Jahrhundert. Nach deren Vorbild wurden lateinische Komödien verfasst, die im Rahmen des Unterrichts von den Schülern aufgeführt wurden. Besonders im Humanismus und im Frühbarock dienten sie hauptsächlich dem Zweck, den aufführenden Schülern die gewandte Handhabung der lateinischen Sprache und Rhetorik beizubringen (Schulze 1960: 43). Großer Wert wurde zudem auf die Vermittlung moralischer und religiöser Normen gelegt. Demzufolge wurden die Stoffe der aufgeführten Stücke überwiegend der Bibel und der Geschichte entnommen (Schade 2007: 403ff.). Das 18. Jahrhundert hat die humanistische Schultheatertradition aufgelöst und dabei eine Form des didaktischen Theaters hervorgebracht, die sich an den Prinzipien des Philanthropismus orientierte. Das alte Schuldrama entsprach nicht mehr den philanthropischen Grundsätzen, vor allem die Stoffe und Rollen wurden von führenden Pädagogen der Epoche (Campe, Basedow) als ungeeignet für Kinder empfunden. Insofern behandelte das aufklärerische Kinderschauspiel im Gegensatz zum Schuldrama nicht mehr Stoffe aus der antiken Mythologie, der Bibel oder der Geschichte, sondern aus dem bürgerlichen Familienalltag, bzw. dem kindlichen Erfahrungsraum (Schedler 1972: 23). Aus den von Schülern für Schüler deklamierten Dramen entwickelten sich so Dramoletts, d.h. kurze Kinderschauspiele, in denen naturwissenschaftliche oder moralische Belehrung häufig in Dialogform abgehandelt wurde. Auch die öffentliche Aufführung des Schuldramas entsprach nicht den Vorstellungen der Philanthropen. So fand ein „Wechsel des Aufführungsortes aus dem öffentlichen in den privaten Raum“ (Taube 2000b: 574) statt, ein wesentliches Kennzeichen des Ãœbergangs vom Schuldrama zum aufklärerischen Kinderschauspiel. Im Privatbereich der Familie sollte das Kinderschauspiel nicht nur gelesen, sondern auch im Sinne eines „familiären Laientheaters“ (Ewers 1999: 25) unter der Aufsicht des Vaters oder des Hofmeisters (bzw. Hauslehrers) vor einem kleinen Familien- und Freundeskreis aufgeführt werden. Durch das Rollenspiel wurden den Kindern auf unterhaltsame Weise moralische und sachliche Kenntnisse vermittelt, die sie auf ihre zukünftige Rolle in der Gesellschaft vorbereiten sollten. Die Gelegenheit zur Erprobung diente dem Zweck der Einübung gesellschaftlicher Verhaltensnormen, die durch Nachahmung verinnerlicht werden sollten (Schedler 1972: 23). Als Vorläufer des aufklärerischen Kinderschauspiels gilt in der Kinder- und Jugendliteraturforschung Gottlieb Konrad Pfeffel (1736-1809) (Dolle-Weinkauff 1979: 32f.). Mit seinen 1769 erschienenen Dramatischen Kinderspielen unternimmt Pfeffel als erster Autor Deutschlands den Versuch, die Vorstellungen der Philanthropen auf die Gattung des Kinderschauspiels zu übertragen. Pfeffels Stücke gelten in der Forschung als Historischer Abriss 32 Ãœbergangsphänomen zwischen dem Schuldrama und dem aufklärerischen Kinderdrama. Zwar waren seine Stücke noch für die öffentliche Aufführung bestimmt, allerdings behandelte er darin bereits bürgerliche Themen in historischem Gewand und verfolgte mit der Aufführung der Stücke durch kindliche Schauspieler den Zweck des spielerischen Lernens (Taube 2000b: 574). Dabei dachte Pfeffel ganz im Sinne der Philanthropen: Durch Identifikation und Nachahmung sollte auf unterhaltsame Weise tugendhaftes Verhalten vermittelt und gefördert werden (Brunken/Cardi 1986: 137). Der sächsische Schriftsteller und Pädagoge Christian Felix Weiße (1726-1804) gilt „als bedeutendster Vertreter“ (Cardi 1983: 101) des aufklärerischen Kinderschauspiels. Seine in der Wochenschrift Der Kinderfreund veröffentlichten Stücke sind zwar als Modelle für das bürgerliche Kinderdrama des 18. Jahrhunderts aufzufassen, aber sie kamen nicht auf die Bühne, sondern blieben hauptsächlich im Bereich des privaten Konsums. Weiße wandte sich mit seinen Kinderschauspielen an das aufgeklärte Bürgertum (Hass 1974: 454). Wie schon bei Pfeffel sind es alltägliche Situationen des bürgerlichen Familienlebens, die als Stoffe für die Kinderdramen Weißes dienen. Die Kinder spielen in diesen Dramen Kinder, die als beispielhafte Exemplare einer tugendhaften Lebenspraxis herhalten sollen (Taube 2000b: 574; auch Jahnke 1977: 36ff.). Theaterspielen steht im Dienste bürgerlicher Sozialisation; im Zentrum der Schauspiele steht immer die Veranschaulichung einer Moral, die oft bereits im Titel – bevorzugt als Sprichwort – genannt wird, z.B. Wer den anderen eine Grube gräbt, fällt oft selbst hinein, Oder die blinde Kuh (1777) (Schedler 1972: 26ff.). Neben dem didaktischen Theater gab es die Kinderpantomime als zweite Entwicklungslinie eines KJTs. In ihr traten schauspielende Kinder und Jugendliche zur Unterhaltung Erwachsener akrobatisch, tänzerisch und schauspielerisch auf. Wie schon beim aufklärerischen Kinderschauspiel wurden bei der Kinderpantomime spezifische Inhalte für Kinder auch nicht thematisiert. Bei den aufgeführten Stücken handelte es sich überwiegend um Travestien aus dem Repertoire des Erwachsenentheaters. Dazu gehörten vorrangig die Werke der Klassiker, z.B. von Lessing und Schiller, deren besonderer Aufführungsreiz in der Verniedlichung lag (Schedler 1972: 37ff.). Die populärste Kindertruppe in Deutschland bildete sich 1761 unter der Leitung von Felix Berner. Im Vergleich zu anderen Truppen besaß Berners Kindertruppe einen ausgesprochen großen Aktionsbereich im deutschsprachigen Raum (hierzu Dieke 1934: 57ff.; Betwieser 1999: 250f.). 1.3.2 Das Weihnachtsmärchen Das belehrende Kindertheater und die Kinderpantomime wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die unterhaltsamere „Kinderkomödie“ ersetzt. Diese mündete alsbald in die so genannte „Weihnachtskomödie“, die dann als „Weihnachtsmärchen“ für die gesamte Historischer Abriss 33 Gattung prägend werden sollte (Schneider 1982: 230f.). Was konkret die Gattung Weihnachtsmärchen als ausgeformte Variante im Bühnenbetrieb anbelangt, weisen Literatur und Dokumentation eine extreme Kargheit aus.16 Als Wegbereiter des Weihnachtsmärchens gilt der in Berlin als Sohn eines Beamten geborene Carl August Görner (1806-1884). Tornau bezeichnet ihn als „Vater des deutschen Weihnachstmärchens“ (Tornau 1958: 37).17 Mit Görners Weihnachtsmärchen kam ein eigenständiges Kindertheater auf, was entscheidend mit der Entwicklung des deutschen Theatersystems nach 1848 zusammenhing, also mit der seit Beginn des 18. Jahrhunderts bestehenden Landschaft aus subventionierten Hofbühnen in den Residenzen und verpachteten, also privat geführten Stadttheatern in Handelszentren. Beide Entwicklungslinien liefen diametral auseinander: Auf der einen Seite unterstanden die Hofbühnen den dynastischen, politischen und representativen Vorstellungen der Herrscher, indem sie zur Unterhaltung einer in sich geschlossenen elitären Gesellschaft dienten. Andererseits boten die Stadttheater Vorstellungen für die Bürger in den Städten und übernahmen bald die bürgerlichen Nationaltheater-Konzeptionen (Schulze-Reimpell: 1992: 8). Immerhin erweist sich die Geschichte der Stadttheater im 19. Jahrhundert als eine „Geschichte der Bankrotte und der Falliments“ (Jahnke 1977: 51). Auf Kosten der künstlerischen Qualität versuchten stets neue Theaterprinzipale das Publikum durch immer außergewöhnlichere Sensationen anzulocken. Dadurch entwickelte sich eine unfruchtbare Konkurrenz, die sich ab 1848/1849 mit dem Entstehen zahlreicher Privatbühnen noch verschärfte (Jahnke 1977: 51-53). Mit dem Erlass der Theatergewerbefreiheit 1869 verdreifachte sich dann die Anzahl der Theaterbühnen innerhalb kurzer Zeit: Allein im Norddeutschen Bund entstanden 90 neue Theater (Jahnke 1977: 56f.); für den Zeitraum 1869 bis 1894 nennt Schedler (1973: 196) sogar eine Zahl von 400 Neugründungen. Die Konsequenz des sprunghaften Anstiegs der Anzahl der Bühnen war eine finanzielle Unsicherheit; nur Novitäten, Spektakel und technischer Aufwand konnten die notwendigen Einspielergebnisse sichern. Vor diesem Hintergrund sind auch die speziellen Bemühungen der Theaterhäuser um ein Kinder-Publikum zu verstehen. Durch die Erfolge seiner Erwachsenenstücke ermutigt,18 widmete sich Görner auch den Aufführungen für Kinder und galt bald als bekanntester und mitunter produktivster Autor von Kinderstücken im deutschsprachigen Raum. Seine zunächst „Kinderkomödien“ betitelten Stücke, die noch zur Aufführung durch Kinder gedacht waren und erstmals 1855/56 in einer 16 Außer globalisierenden Beschreibungen und vereinzelten Bemerkungen ist der Bestand an Fachliteratur, die sich mit dem Weihnachtsmärchen befasst, leider sehr beschränkt. 17 Zur Biografie Görners vgl. ebd., S. 122ff.; ferner Sehlke (2009: 131). 18 In seinen Stücken für ein erwachsenes Publikum berief sich Görner auf die lange Tradition des Unterhaltungstheaters. So tragen die Stücke Gattungsbezeichnungen wie „Lustspiel“, „Posse mit Gesang und Tanz“, „Parodistische Posse mit Gesang“, „Original-Scherz in einem Aufzug“, „Schwank“ oder „Scherz“. Zur literarischen Produktion Görners vgl. vor allem: Tornau (1958: 130 ff.) sowie Jahnke (1977: 63ff.). Historischer Abriss 34 sechsbändigen Ausgabe unter dem Titel Kindertheater erschienen (Klotz 1992: 66)19, gelten als Ãœbergangsphänomen zwischen dem aufklärerischen Kinderdrama und dem „Weihnachtsmärchen“. Zwar sind dabei Elemente früherer Spieltraditionen zu erkennen, nämlich der für damaliges Kindertheater üblichen Kinderpantomime und insbesondere des didaktisch-aufklärerischen Kinderschauspiels, wie es vor allem von Weiße veröffentlicht wurde (Tornau 1958: 227). In dieser Hinsicht weist auch Jahnke (1977: 89) darauf hin, dass Görners Komödien für Kinder in ihrer Dramaturgie teilweise versuchen, die Handlung in Form von Lernschritten zu zeigen. Doch die darin enthaltenen didaktischen Elemente werden von der neuen stofflichen Grundlage des Märchens übertüncht (Jahnke 1977: 47). Vierzig Jahre nach der zweibändigen Erstausgabe der Kinder- und Hausmärchen (Bd. l: 1812; Bd. 2: 1815) durch die Brüder Grimm entzog sich nämlich auch Görner nicht der zunehmenden Märchenrezeption20 durch das Bildungsbürgertum, insbesondere bei den Kindern (Tornau 1958: 9). Dabei erwiesen sich seine „Komödien für Kinder“ als moralisierende Erziehungsstücke, die an das „Gut-Böse-Schema“ des Märchens anknüpften und ein autoritäres, auf Gehorsam gegenüber Gott, Staat und den Eltern gegründetes Erziehungskonzept vertraten (Jahnke 1977: 89f.), so wie etwa in der Schlussapotheose des Rosen-Julerl deutlich wird: „Genieße, was Dir Gott beschieden, / Entbehre gern, was Du nicht hast, / [...] Ein jeder Stand hat seinen Frieden, (Deutet auf die Königin.) / Ein jeder Stand hat seine Last“ (zit. aus Jahnke 1977: 91). Schedler (1972: 48) meint dazu: „An die Stelle von Weißes dramatischer Beweisführung ist nun aber blinde Affirmation getreten, das noch immer obligate moralisierende Schlussresümee wird nicht mehr aus einer vorhergehenden Modellhandlung zwingend abgeleitet, sondern als finale Doktrin gesetzt.“ Die in ihrer Anfangsphase noch eher pädagogisch ausgerichteten, von Kindern für Kinder aufgeführten Kinderkomödien wurden bei Görner recht bald zu Weihnachtskomödien: „Abgesehen von seiner großen Kunst der Regieführung [...] ist er der Erfinder eines ganz neuen Genres von Stücken, die den Schauspieldirektionen die Kasse zu einer Zeit ansehnlich zu füllen pflegen, welche früher die verrufenste der ganzen Theatersaison gewesen ist: nämlich die kahlen Wochen vor Weihnachten“ (Tornau 1958: 244). Görner hatte also nicht nur eine Marktlücke entdeckt, sondern er erzeugte auch eine enge Verknüpfung zum Weihnachtsfest, das 19 Die Sammlung enthielt: Die drei Haulemännerchen oder das gute Liesel und ‘s böse Gretel. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern; Die Prinzessin Marzipan und der Schweinewirt von Zuckerland oder Hochmut kommt zu Fall. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern; Schneewittchen und die sieben Zwerge. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern; Auf dem Hühnerhof und im Walde. Eine Komödie für Kinder in 2 Bildern; Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte. Eine Komödie für Kinder in 5 Bildern; Die Geschichte von Rosen-Julerl, das gern Königin wollte sein. Eine Komödie für Kinder in 3 Bildern (Janhke 1977: 231). In einer Neuausgabe, die Görner 1864 veröffentlichte, kamen folgende Stücke hinzu: Rübezahl, der Berggeist und der lustige Schneider; Lügenmäulchen und Wahrheitsmündchen; Das Binsenmännchen und der Binsenmichel und Dornröschen (Janhke 1977: 232). 20 Steinchen (1979: 140) benennt folgende Auflagezahlen: Die große Ausgabe der Märchen (1812/15) erschien in sieben Auflagen, die so genannte „Kleine Ausgabe“ aus dem Jahre 1825 zehnmal (dazu auch Rölleke (2004: 92f.). Historischer Abriss 35 ebenfalls parallel zur Entstehung und Entwicklung der Weihnachtskomödie der kleinbürgerlichen Sehnsüchte und Bedürfnisse angepasst wurde. Die nun von Görner selbst als „Weihnachts-Komödien“ bezeichneten Stücke bilden nach Jahnke eine Position zwischen der oben besprochenen Kinderkomödie und dem Weihnachtsmärchen in engerem Sinne. Als wichtigstes Merkmal der Dramaturgie der Weihnachtskomödie nennt Jahnke (1977: 103) das „komisch-theatralische Spielprinzip“: Es weitet sich auf allen Ebenen (Handlung, Dialog, Figurencharakteristik, Mimik, Ausstattung) aus. Ãœberreste des didaktischen Theaters der Aufklärung sind immer noch erkennbar. So lebt die mit Weiße begonnene lehrhafte Tendenz weiter, indem z.B. die Schlussmoral ohne Bezug zur Handlung des Stückes am Ende angehängt wird. Dadurch und mit der Einführung kleiner Dialoge bzw. Szenen, die Anweisungen für ein christlich-sittliches Handeln an das Kinderpublikum geben sollen, wird der vom Märchen entlehnte Inhalt immer mehr in den Dienst von Erziehungszielen gestellt (Jahnke 1977: 104ff. u. 1994: 40). In der Art, wie Görner bereits vorhandene und allgemein bekannte Märchenstoffe zu Bühnenmärchen verarbeitete, lassen sich nach Jahnke (1977: 49) aber auch weitere Einflüsse früherer Spieltraditionen nachweisen, wie die des Wiener „Zauberstücks“ und insbesondere der französischen „Féerie“ (hierzu auch Bauer 1980: 17). Beide Erscheinungsformen gehören zur Tradition des europäischen Volkstheaters des 18. und 19. Jahrhunderts, welches, die artistischen Mittel der Barocktheatralik ausnutzend (Tornau 1958: 39f.), stofflich wesentlich auf Märchen zurückgriff.21 Für Görner sind insofern die Höhepunkte des „Zauberstücks“ (illusorische große Effekte, spektakuläre Verwandlungen, zauberhafte Momente, Geisterwelten) ideal für seine Weihnachtskomödien. Aus der „Féerie“ nimmt er sich weitere Stilmittel. Dazu Tornau (1958: 207f.): Zauberkräftige Talismane als Geschenke von Geistern und Feen, komplizierte Erlösungsbedingungen für verzauberte Prinzen und Prinzessinnen, Verzauberungen von Menschen in Tiere oder zu Tierköpfen, Verwandlung von ganzen Dekorationen und einzelnen Dekorationsstücken, Einschübe von Tierballetten und Flugeffekten und Benutzung von „feenhaften“ Gesamtdekorationen, besonders in der prunkvollen Schlussaphoteose. Dazu tritt als weiteres Stilmittel die bereits erwähnte theatralische Komik, die sich der Topoi der europäischen Lustspiel-Tradition bedient. Insofern enthalten die Stücke komische Figuren, z.B. erscheinen Könige und deren Gefolgschaft in seiner Darstellung ausschließlich in der Form der Karikatur. Ebenso ergeht es ihrer Namengebung: So erfindet Görner skurrile Namen wie König Simplex, Prinz Garrulus, Baron von Hatnichtsmehr, Minister Puterhahn und Marchese von Zwiebelduft (Schedler 1972: 56). 21 Ein Aufriss der Geschichte der französischen Feerie und des Wiener Zauberspiels wird bei Tornau (1958: 42ff.) dargeboten; die Hauptlinien der Entwicklung der beiden dramaturgischen Modelle stellt auch Jahnke (1977: 68ff.) dar; dazu auch Schedler (1972: 51ff.). Historischer Abriss 36 Was die stoffliche Grundlage anbelangt, so nimmt Görner den Märchenrahmen nur noch für mit großem Aufwand inszenierte Stücke. Einzig eine Scheinwelt wird vorgeführt. Nicht mehr die Märchenhandlung und die sie tragenden Figuren stehen laut Jahnke im Mittelpunkt von Görners Märchenbearbeitungen, sondern die Bühnentechnik mit ihren Möglichkeiten der Verwandlung. So verliert selbst der stark bearbeitete Märchenstoff von Dornröschen in der ersten Fassung von 1864 die dialogisch konstruierte Handlung in der zehn Jahre späteren Bearbeitung22 (Jahnke 1977: 99). Beim Verwandlungsprozess „ertrinken“ die Märchen, und zwar „entweder in den dekorativen Künsten des traditionellen Zauberapparates oder in realistischen, sehr banalen und phantasielosen Alltagsszenen. [...] Er [Görner] übernahm vielmehr aus den Volksmärchen stets nur das magere Handlungsgerüst, das er dann auf seine Weise ausschmückte“ (Tornau 1958: 226).23 Als erste „Weihnachts-Kinder-Komödie“ Görners gilt Apfelbaum, Erdmännchen und Flöte, die 1867 erstmals am Hamburger Stadttheater aufgeführt wurde. Seitdem lieferte Görner alljährlich eine Weihnachtskomödie ab, die mit Beginn der 1870er Jahre allmählich von den Stadt- und Privattheatern in den Großstädten (u.a. Berlin, Hamburg, Köln) nachgespielt und schnell zum Kassenschlager der Saison wurde (Jahnke 1977: 47; Schedler 1972: 46); zu nennen sind hierbei – neben der bereits angeführten Prinzessin Dornröschen (1874) – vor allem Schneewittchen und die sieben Zwerge (1868/1874)24, Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel (o.J.)25 und Prinz Honigschnabel (1882).26 Die Rezeption der Görnerschen Weihnachtskomödien durch das Publikum war so durchschlagend, dass in den 1880er Jahren auch die Staatstheater (z.B. das Hamburger Thalia) die mittlerweile bereits als „Weihnachts- Märchen-Komödien“ bekannten Stücke zunehmend in ihre Spielpläne aufnahmen. Das bereits erwähnte Stück Aschenbrödel erreichte beispielsweise eine extrem hohe Aufführungszahl und wurde so zur meistgespielten Weihnachtskomödie auf den deutschen Bühnen bis ins 20. Jahrhundert hinein (Jahnke 1977: 107). Wie die Kindertheaterforschung nachgewiesen hat, ist der Weg von der Weihnachtskomödie zum Weihnachtsmärchen ein sehr kurzer. Nach 1878 bezeichnet Görner seine früheren „Weihnachts-Komödien“ selbst „Weihnachts-Märchen-Komödien“. Die neue 22 Prinzessin Dornröschen. Weihnachts-Komödie mit Gesang und Tanz in 5 Aufzügen, nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet. Altona: Verlags-Bureau August Prinz. 23 Wie sehr Görner bemüht war, seine Bühnenmärchen der Form des Feen- und Zaubertheaters anzupassen, haben dann auch Schedler (1972: 56ff.) und insbesondere Jahnke (1977: 97ff.) gezeigt. 24 Die Jahresangabe 1868 bezieht sich auf das Aufführungsjahr am Hamburger Stadttheater (hierzu Tornau 1958: 248); Die daneben stehende Jahreszahl 1874 dokumentiert das Veröffentlichungsjahr. 25 Aufgrund stetiger Neuinszenierungen (1872, 1878, 1883) und Bearbeitungen (Jahnke 1977: 107) erscheint das hier angegebene Stück ohne Jahresangabe; selbst bei Tornau lässt sich keine gesicherte Datierung feststellen. Als Buch wurde es mit dem Titel Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel. Weihnachts-Komödie mit Gesang und Tanz in sechs Bildern beim Reclam-Verlag in Leipzig herausgebracht. 26 Buchausgabe: Prinz Honigschnabel. Weihnachts-Komödie in 3 Abtheilungen und 7 Bildern. Hamburg: J.F. Richter. Historischer Abriss 37 Gattungsbezeichnung kennzeichnet allerdings keine neue Dramaturgie. Vielmehr handelt es sich dabei um eine Akzentverlagerung der von Görner angewandten artistischen Mittel (Jahnke 1977: 143).27 Zwar ist das Weihnachtsmärchen bis ins Detail seinem französischen Bühnenvorbild verpflichtet, lehnt sich also in der Dramaturgie noch an die alte Feerie an und greift bei der Stoffwahl auf (bekannte) Märchen zurück, nimmt aber eine neue Erscheinungsform an, indem es sich in seinen Handlungen direkt auf die Weihnachtszeit bezieht. Nicht nur Motive aus dem deutschen Weihnachten fließen in die Märchenhandlungen mit ein, besonders die Schlussapotheose ist durch Figuren und Topoi des mitteleuropäischen Weihnachtsfestes (Engel, Weihnachtsbaum, Bescherung, Singen von Weihnachtsliedern) gekennzeichnet (Jahnke 1977: 144ff.). Der Schauspieler, Spielleiter und Theaterdirektor Oscar Will wurde mit seinen von 1903 bis 1915 herausgebrachten Märchenstücken nach dem von Görner geschaffenen Modell „einer der Hauptlieferanten des Weihnachtsmärchens“ (Jahnke 1977: 149). Wills Stücke – z.B. Schneeweißchen und Rosenrot und der Bär (o.J.) und Aus der Märchenwelt (o.J.) – hatten überregional großen Erfolg, sie wurden an fast allen großen Bühnen gespielt (Jahnke 1977: 144). Das gilt auch für einen weiteren wichtigen Vertreter des Weihnachtsmärchens: Max Möller, der vor allem durch sein Märchenspiel Prinzeß Tausendhändchen oder Die Wunderharfe der Tannenkönigin (1904; UA: 10.12.1904, Leipziger Schauspielhaus) bekannt wurde (Jahnke 1977: 159f.). Durch die mittlerweile fast ein Vierteljahrhundert andauernde Spielpraxis der Kindervorstellungen zur Weihnachtszeit wurde der überraschende Kassenschlager von Görner und seinen Nachfolgern zur Tradition, genauer: zur Weihnachtstradition. Und obwohl sich permanent Kritiker gegen die skrupellosen Märchenadaptionen mit der Verselbständigung der artistischen Mittel unter Ausschöpfung der Möglichkeiten der Bühnentechnik wehrten und Görner „einen der gemeingefährlichsten Schädlinge des deutschen Schrifttums“ (Stahl 1921: 9; zit. n. Schedler 1972: 58) nannten, standen bis in die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts (dazu Jahnke 1994) und auch in den ersten fünfzehn Jahren unseres Jahrhunderts Weihnachtsmärchen im Stil von Görner auf den Spielplänen der Theater Deutschlands. Allerdings nicht nur in den Theaterstätten professioneller Kinder- und Jugendtheater, sondern auch in den Staats- und Stadttheatern. Dort erwacht nur zur Weihnachtszeit wieder das von Kindertheaterschaffenden längst begraben geglaubte altbackene Weihnachtsmärchen zum Leben und ist so bekannt und populär wie eh und je. 27 Da bei den „Weihnachts-Märchen-Komödien“ die artistischen Mittel der alten Weihnachtskomödien beibehalten werden, treffen auch hier grundsätzlich die Aussagen zu, die in den vorangegangenen Abschnitten herausgearbeitet wurden. Daher wird das Augenmerk bei den folgenden Darlegungen vor allem auf Abweichungen gerichtet. Historischer Abriss 38 1.3.3 Das „Traum-Abenteuer-Spiel“ Zur Hochblüte des Weihnachtsmärchens zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich ein neuer dramaturgischer Typus auf den deutschen Bühnen durch: das „Traum-Abenteuer-Spiel“, wie Jahnke (1977: 169) es nennt. Als erstes und wohl bekanntestes dieser Stücke gilt in der Forschung James Matthew Barries‘ (1860-1937) Peter Pan oder Das Märchen vom Jungen, der nicht groß werden wollte (1904), dessen deutsche Erstaufführung unter dem Titel Peter Gerneklein am 7. Dezember 1905 am Mainzer Stadttheater stattfand (Jahnke 1977: 169; Schedler 1972: 90). Nach dessen Grundmuster entstanden dann die „Traumspiele“ Fitzebutze (1907)28 vom Autorenpaar Paula (1862-1918) und Richard Dehmel (1863-1920), Peterchens Mondfahrt (1911)29 von Gerdt von Bassewitz (1878-1923) und Der Himmelsschneider (1912) von Max Jungnickel (1890-1945).30 Insbesondere Bassewitz‘ Stück gilt als Klassiker des deutschen Kindertheaters: Es wurde zum erfolgreichsten Kindertheaterstück der ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (Jahnke 1977: 169) und blieb bis in die 1960er Jahre hinein das meistgespielte Werk des bundesdeutschen Kindertheaters (Heidtmann 1992: 29). Das „Traum-Abenteuer-Spiel“ bleibt größtenteils in der Tradition der Weihnachtsmärchendramaturgie Görners. Es handelt sich ebenfalls um Stücke voller fantastischer und wirklichkeitsfremder Elemente. Allerdings dienen hier nicht mehr Märchenstoffe als Vorlagen, d.h. statt eines klassischen Märchens verarbeitet das „Traum- Abenteuer-Spiel“ einen Originalstoff (mit gewissen Märchen-Reminiszenzen) (Schedler 1972: 113). Es handelt sich um Abenteuergeschichten, die die Hauptfiguren zumeist im Traum erleben. Neu ist auch der Perspektivenwechsel in der Handlungsführung: Die Handlungen werden nun nicht mehr aus der Perspektive des Erwachsenen gestaltet, sondern aus der des Kindes. Dementsprechend steht hier statt von Feen geführten Prinzessinnen und Prinzen meist ein aus der mittelbürgerlichen Schicht stammendes Geschwisterpaar im Mittelpunkt der Stücke (Jahnke 1977: 169). Dass Kinder zu Handlungsträgern wurden, ist auf den Einfluss der sogenannten reformpädagogischen Bewegung zurückzuführen. Die Entstehung des neuen dramaturgischen Typus fällt nämlich in die Intensivzeit der Reformpädagogik, die um die Jahrhundertwende von 1900 ein verändertes Kindheitsbild mit neuen pädagogischen Erkenntnissen brachte: Zivilisationskritik und die Ideale einer natürlichen und ästhetischen Erziehung konstituierten eine Mystifikation des Kindseins, aus der man die Ãœberzeugung ableitete, dass das Kind zu schonen sei. Im Sinne einer Schonraumpädagogik sollte der rauen, kinderfeindlichen Gesellschaft ein geschützter Raum entgegengesetzt werden, damit die Unschuld des Kindes, 28 UA: 23.11.1907, Hoftheater Mannheim; Buchausgabe: Fitzebutze. Traumspiel in 5 Aufzügen. Berlin: Fischer Verlag. 29 UA: 7.12.1912, Stadttheater Leipzig; eine Buchausgabe erschien 1915 (Ram 1982: 34). 30 Abrisse der dramaturgischen Struktur der drei Stücke sind bei Jahnke (1977: 179ff.) zu finden. Historischer Abriss 39 seine „Heiligkeit“, bewahrt werden konnte. Angemerkt sei nur, dass die Reformpädagogik mit ihrer Vorstellung vom Reich der Kindheit (Schedler 1972: 88) dem Kindertheater eine bezeichnende Kindertümlichkeit31 bescherte, die sich in den Stücken vor allem in der Sprach- und Figurengestaltung ausdrückte (Schedler 1972: 101 u. 95ff.). Auf formaler Ebene stellt Jahnke (1977: 181ff.) Folgendes fest: • Traumspiele sind nach ähnlichem Muster aufgebaut, nämlich: Kinder werden ins Bett gebracht, sie schlafen ein, werden von Traumprojektionen mit ins All genommen. Nach einer Reihe von Abenteuern, in denen ein böser Erwachsener (z.B. Kapitän Haken bei Peter Pan, Mondmann bei Peterchens Mondfahrt) überwunden werden muss, erwachen sie wieder in ihrem Zimmer. • Eingebunden in eine Rahmenhandlung, in der bürgerliche Alltäglichkeit vorgeführt wird, entwickelt sich das Spiel als Traum. Mit der Darstellung einer traumhaften Gegenwelt wird die bereits beim Weihnachtsmärchen begonnene Realitätsentfernung auf die Spitze getrieben. • Die Handlungsträger sind ausnahmslos Kinderfiguren. Die Erwachsenenfiguren werden sonst in die Nebenrollen abgedrängt: Sie bilden entweder den Rahmen in Gestalt von Eltern oder Dienstboten – als solche treten sie dann nur am Anfang und am Schluss auf, um die Kinder zu Bett zu bringen oder aufzuwecken – oder sie erscheinen in der Traumhandlung als böse Gegenspieler. • Charakteristisch ist auch die Sprache, die sich an einer speziell für Kinder gemachten Mundart des Reformpädagogen Berthold Otto (1859-1933) orientiert. Es handelt sich dabei um eine lautmalerisch-„kindertümliche“ Bühnensprache, die den Kindern aus Lesebüchern und durch Kinderverse bereits vertraut ist, z.B.: „Eins, zwei, drei – Eins, zwei, drei, / Fiel eine Biene in den Brei; / Plumsdibums, / Dideldumdei! / Alle Käfer sitzen drum herum, / Lachen sich schief, / Lachen sich krumm, / Brumm, brumm! [...]“ (Bassewitz 1916: 13). Die Dialoge werden in Form von leicht verständlichen und zugleich einprägsamen und einfachen Paarreimen gehalten, wie etwa im folgenden Beispiel auch aus Bassewitz‘ Peterchens Mondfahrt abzulesen ist: Minna: So nun machen wir das Fenster zu, 31 Geprägt wurde das Wort „kindertümlich“ 1902 durch der Reformpädagoge Ernst Linde in Anlehnung an den vom Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852) erfundenen Ausdruck des „Volkstümlichen“ (dazu Schedler 1972: 100f.; Jahnke 1977: 174ff.). Historischer Abriss 40 Und dann hat die liebe Seele Ruh. Der Mond kommt gerade über die Wiese. Seid ihr fertig, Peterchen? Annelise? Hurtig, hurtig ins Bettchen hinein; Wenn die Mutter kommt, muss Ordnung sein! [...] Peterchen: Au, Minna! meine Nase bricht ab! Minna: Papperlapapp! – Papperlapapp! Peterchen: Au, jetzt hast du mein Ohr geziept! Minna: Was das nicht alles für Sachen gibt, Wenn man den Buben abtrocknen will! (Bassewitz 1916: 7) 1.3.4 Ansätze in der Weimarer Republik und Drittes Reich Ãœber „Weihnachtsmärchen“ und „Traum-Abenteuer-Spiel“ kam das KJT in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum hinaus. Insofern entwickelte sich in den 1920er und 1930er Jahren ein Repertoire aus hauptsächlich Märchendramatisierungen und Stücken nach dem Modell des „Traum-Abenteuer-Spiels“. In dieser Konzeption überdauerte das KJT bruchlos auch das Dritte Reich und zog in den 1950er Jahren wieder in die Spielpläne ein. Allerdings kamen schon kurz nach der Oktoberrevolution von 1917 in Russland wichtige Impulse für das Theater für Kinder und Jugendliche, die laut Gattungshistorikern für die weitere Entwicklung des KJT in Deutschland – vor allem in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren – von entscheidender Bedeutung sind. Im Vergleich zu Deutschland nahm das KJT in Russland nach der revolutionären Bewegung eine eigene Entwicklung. Dazu Gronemeyer (1995: 151): „Die Einsicht, dass die Kinder von heute die Erwachsenen von morgen sind, veranlasste schließlich auch die Kulturschaffenden der Sowjetunion in den Jahren nach der russischen Revolution zu einem besonderen Engagement für das Kindertheater“. Als besonders bedeutsam in diesem Zusammenhang sind Namen wie Natalia Saz (1903-1993) und Asja Lacis (1891-1979) zu nennen; beide waren maßgeblich am Aufbau eines „proletarischen Kindertheaters“ beteiligt. Natalia Saz ist eng mit der Herausbildung eines sozialistischen Kindertheaters verknüpft. Sie gilt als dessen eigentliche Begründerin (Hoffmann 1976: 50; Schedler 1972: 128). Angespornt durch den pädagogischen Enthusiasmus der Oktoberrevolution trieb sie das frühe kommunistische Kindertheater voran und entwickelte innerhalb weniger Jahren so genannte „Spielstücke“ mit bewusst sozialistischem Ziel, neue Aufführungsformen und eine rückkoppelnde Rezeptionsforschung. 1920 übernahm sie die Leitung des von ihr aufgebauten Kindertheaters in Moskau und ist als jüngste Direktorin überhaupt in die Geschichte des Theaters eingegangen. Saz‘ Kindertheater war das erste mit eigenem Haus und eigenem Ensemble, zudem verfügte es auch über ein Mitarbeiterkollektiv aus Kindern: Ihnen oblag die Verantwortung für die Auswahl der Stücke, die Beratung der Dramaturgen und das Knüpfen des Historischer Abriss 41 Kontakts zum Publikum. Dabei diente das Theater von Natalia Saz als Vorbild für die in den 1920er Jahren in der gesamten Sowjetunion entstandenen Kindertheater, ebenso beim ersten festen Kindertheater im deutschen Sprachraum, das 1946 in Leipzig eröffnet wurde: das Theater der Jungen Welt (Schedler 1972: 129ff.).32 Eine weitere entscheidende Person des KJTs in der damaligen Sowjetunion war die lettische Schauspielerin, Regisseurin und Theaterleiterin Asja Lacis. Sie gründete 1918 in Orjol (Zentralrussland) ein Kindertheater, wo sie verwahrloste und traumatisierte Kriegskinder aus der russischen Oktoberrevolution bei sich aufnahm und sie zum Theaterspielen brachte (Hoffmann 1976: 83). Nicht die Vermittlung einer Ideologie bzw. das Aufzwingen von Meinungen und Verhaltensnormen sollte den Umgang zwischen Erziehern und Kindern ausmachen; vielmehr wurde der Versuch unternommen, einen Rahmen zu schaffen, in dem sich die Kinder ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen gemäß frei entfalten konnten.33 Im Rahmen einer Ausrichtung der kommunistischen Pädagogik wurde Lacis beauftragt, ihre praktischen Kindertheatererfahrungen in einem Konzept zusammenzufassen. Walter Benjamin (1892-1940) nahm ihr diese Aufgabe ab, indem er 1928 das Programm eines proletarischen Kindertheaters erstellte (Hoffmann 1976: 83f.). Dabei stellte Benjamin die Kinder in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Sie sollten spielend lernen, ohne reglementierende Eingriffe der Erzieher ihre schöpferische Spontaneität voll ausnutzen und durch die Spannung des Spielvorgangs ihre kindliche Fantasie anregen. Für Benjamin gab es somit keine Berufsschauspieler für Kinder mehr, denn „wenn Erwachsene für Kinder spielen, kommt Lafferei heraus“ (Benjamin 1969: 86). Für ihn bedeutete diese proletarische Pädagogik die Erfüllung der Kindheit, die revolutionäre Kräfte entstehen lässt. Benjamins Programmatik war allerdings in den theoretischen Anfängen stecken geblieben und wurde praktisch kaum erprobt. Erst mit der Wiederentdeckung Benjamins durch die Studentenbewegung von 1968 wurde seine Kindertheater-Konzeption bekannt (Schedler 1972: 209ff.). Neben dem traditionellen Märchentheater interessierten sich viele Bühnen Anfang der 1930er Jahre auch für die Dramatisierung von Erich Kästners (1899-1974) Kinderromanen wie Emil und die Detektive (UA: 1930 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm) und Pünktchen und Anton (UA: 1931 im Deutschen Theater Berlin) (Kilian 1989: 37f.). In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist auch das im Jahr 1931 von Friedrich Forster (1895-1958) fertig gestellte Bühnenstück Robinson soll nicht sterben (UA: 17.09.1932, Leipzig), das ein Klassiker des Genres geworden ist. Diese Jugendliteraturadaptionen verbindet sowohl der Aktionsreichtum der Handlung als auch die Figurenkonzeption. Der junge Held ist Träger und 32 Eine detaillierte Ãœbersicht zur gesamten Entwicklung des Moskauer Kindertheaters gibt auch Hoffmann (1976: 53ff.). 33 Ausführlich zum Kindertheater-Modell von Asja Lacis bei Hoffmann (1976: 84ff.) u. Schedler (1972: 230ff.). Historischer Abriss 42 Vermittler von Tugenden wie Ehrlichkeit, Tapferkeit, Bescheidenheit, Fleiß, Kameradschaft und Höflichkeit. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich aber die Lage: Kästners Stücke wurden verboten und seine Werke öffentlich verbrannt. Das Kindertheater bot im Dritten Reich vor allem wieder Klassikeraufführungen zur schulischen Begleitung sowie selbstverständlich auch die zahlreichen Märchendramatisierungen zu Weihnachten an. Auf den Spielplänen der Großstadtbühnen standen Stücke mit nationalsozialistischem Inhalt, die, Feindbilder aufbauend, um die Einigkeit des deutschen Volkes warben, das Zugehörigkeitsgefühl zum Vaterland weckten oder antisemitische Inhalte hatten. Der Jude im Dorn (1939) z.B., ein von Hermann Schultze selbst abgefasstes „Märchen-Kapserspiel mit politischer Bedeutung“,34 war offen antisemitisch und stellte einen der furchtbarsten Höhepunkte faschistischer Propaganda im KJT dar. Das Stück zeigt, wie über ein ursprünglich harmloses Medium Pogromstimmung erzeugt werden konnte. Am Ende des Stückes erhängt der „gute“ Kasper stellvertretend für alle guten Deutschen den Juden Levi Blauspan stellvertretend für alle Juden (Schneider 1998c: 6.; Wessely 2009: 344). 1.3.5 Das KJT der 1950er Jahre Die Lage des KJTs veränderte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Ab diesem Zeitpunkt ist die Geschichte des KJTs für fast ein halbes Jahrhundert hindurch die Geschichte von zwei unterschiedlichen, ja diametral entgegengesetzten Kindertheater-Modellen. Mit der Entstehung der beiden deutschen Staaten hat das KJT westlich und östlich der ehemaligen innerdeutschen Grenze nämlich eine recht unterschiedliche Entwicklung durchgemacht. Nach Kriegsende waren es zunächst Initiativen in der sowjetischen Besatzungszone und späteren Deutschen Demokratischen Republik, die dem KJT in Deutschland entscheidende neue Impulse gaben. Schon 1945 wurde ein Erlass zur Gründung von Kinder- und Jugendtheatern herausgegeben und als Bestandteil des allgemeinen Kulturplanes begriffen; damit wurde dem KJT fortan einen Stellenwert in der Kulturlandschaft eingeräumt. Als Modell für die Neugründung von Kinder- und Jugendbühnen diente das sowjetische KJT, dessen Organisation ein Novum gewesen war. Dazu Schedler (1972: 130f.): „Zum ersten Mal [...] verfügt[e] das Kindertheater [...] über feste Häuser und einen eigenen technischen und künstlerischen Apparat, der eine kontinuierliche Arbeit ermöglicht[e]. Diese [wurde] von Fachregisseuren und Fachdramaturgen geleistet, denen Pädagogen beratend zur Seite [standen]. Die Kinder [nahmen] aktiv und kreativ teil“. Nach diesem Muster entstanden in Leipzig, Dresden, Berlin und Halle 34 1940 in Leipzig bei A. Strauch abgedruckt. Historischer Abriss 43 zwischen 1946 und 1952 vier Kinder- und Jugendtheater mit eigenem Haus,35 deren größtes das Theater der Freundschaft in Berlin-Lichtenberg war: Es beschäftigte 210 Personen, darunter 3 hauptamtliche Pädagogen und 38 festangestellte Schauspieler. Zum ersten Mal in Deutschland wurden reiche Mittel zur Verfügung gestellt, die den Theaterschaffenden ermöglicht haben, den Kindern und Jugendlichen Theater anzubieten. Das in Berlin errichtete Theater der Freundschaft wurde zum Zentralen Kindertheater der DDR erklärt und galt als Vorbild auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendtheater in der gesamten DDR (Hoffmann 1976: 111ff.).36 Mit der Gründung eigenständiger Theaterhäuser für Kinder und Jugendliche entwickelte sich das KJT in der DDR zu einer eigenen Kunstsparte und anerkannten Institution. Die Erziehung der jungen Generation im Sinne der sozialistischen Ideale war zunächst eine der wichtigsten Aufgaben dieses Theaters, und Theaterschaffende nahmen sich dieser Aufgabe mit hohem ästhetischem Anspruch an (Hoffmann 1990: 11; Jahnke 1992: 42). Die Theater förderten mit Stückaufträgen Autoren, die ein umfassendes Repertoire an Stücken für Kinder und Jugendliche aufbauten. Die Spielpläne der 1950er Jahre lassen bereits deutlich erkennen, dass „Kinder- und Jugendtheater“ keine einengende Gattungsbezeichnung war. Neben der Aufnahme von Werken der sowjetischen Dramatik für Kinder – u.a. Das rote Halstuch von Sergej Michalkow, Timur und sein Trupp von Arkadi Gaidar (Hoffmann 1976: 120f.) – wurden auch Stücke gespielt, die sich unmittelbar mit der Entwicklung der beiden deutschen Staaten beschäftigten. Entsprechend der Diskussion um den sozialistischen Realismus fanden Gegenwartsthemen ebenso ihre Umsetzung auf der Bühne wie auch die Aufarbeitung von Geschichte (Schneider 1998c: 7). Eines der ersten Stücke, die ein Thema aus der Gegenwart, d.h. aus der unmittelbaren Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen behandelte, war Gustav von Wangenheims (1895-1975) Du bist der Richtige (UA: Theater der Freundschaft, Berlin, 26.5.1950). Darin spiegeln jugendliche Bauarbeiter das Verhalten des einzelnen im Kollektiv in der sozialistischen Gesellschaft (Hoffmann 1976: 116ff.). 1953 schrieb dann Horst Beseler (geb. 1925) Die Moorbande (UA: Theater der Freundschaft, Berlin, 3.6.1953) nach seiner gleichnamigen Erzählung, das als „Nationales Kinderstück“ vom Widerstand gegen die amerikanische Besatzung im Nachkriegsdeutschland erzählt, und gründete damit auch die Praxis der Dramatisierung von Kinderbüchern für das DDR-KJT (Hoffmann 1976: 119f.). Ereignisse der deutschen Novemberrevolution von 1918 behandelte wiederum das erste Stück von Wera und Claus Küchenmeister (1929-2013; 1930-2014) Damals 18/19 (1958), wie auch auch andere Stücke die deutsche und sowjetische Geschichte aus sozialistischer Sicht zum Thema hatten. Nennenswert ist hier Werner Heiduczeks (geb. 1926) Jule findet Freunde (1959), 35 In der Reihenfolge ihrer Gründung waren es das Theater der Jungen Welt, das Theater der Jungen Generation, das Theater der Freundschaft und das Theater der Jungen Garde. 36 Für eine genauere Darstellung hierzu sei auf die Arbeit von Hoffmann (1976) verwiesen, auf der auch die hier folgenden Ausführungen beruhen. Historischer Abriss 44 das erste Stück überhaupt, das sich – an ein Kinderpublikum gerichtet – mit der faschistischen Vergangenheit und dem antifaschistischen Widerstandskampf befasste (Hoffmann 1976: 125ff.). Gespielt wurden auch Märchenbearbeitungen, die sich als Gattung durchaus weiterentwickelten. Zunächst in Nachahmung sowjetischer Autoren wie Samuil Marschak (1887-1964) oder Jewgenij Schwarz (1896-1958), die in ihren Stücken eine opulente Theatralität entfalteten, ohne der Beliebigkeit einer Märchendramatisierung zu verfallen, wie sie im westdeutschen Weihnachtsmärchen gepflegt wurde, entwickelte sich sehr schnell eine eigenständige Märchendramatik, die mit den Volksmärchen der Brüder Grimm oder den Kunstmärchen Andersens eine eigene Tradition aufbaute. Dazu Hoffmann (1976: 148): Die [...] entstandenen Stücke zeigen das Bemühen der Autoren die Märchenstrukturen (z.B. das Gut-Böse-Schema) auf ihre gesellschaftliche Deutbarkeit hin zu untersuchen und die sozialen Aspekte in Fabel- und Figurenführung hervorzuheben. [...] Das Märchen erschien jetzt als Möglichkeit, an einfachsten Geschichten Klassengegensätze zu demonstrieren. Eine Sicht des Volksmärchens setzte sich durch, die auf ein neues Weltbild und eine veränderte Wirklichkeit setzte. Ihre Kennzeichen waren die soziale Didaktik und die politische Aktualisierung. Herausragendes Beispiel dafür sind Die Bremer Stadtmusikanten in der Bearbeitung von Günther Kaltofen (1927-1977) aus dem Jahre 1952. Kaltofens Bearbeitung des Stoffes gilt als prototypisches Stück der DDR-Märchendramatik (Hoffmann 1976: 148f.). Zur eigenen Entwicklung zählt ebenso die Erfindung von Märchenparabeln wie z.B. Das Untier von Samarkand (1956)37 von Anna Elisabeth Wiede (1928-2009) (Hoffmann 1976: 157ff.) Darüber hinaus beschränkte sich das DDR-Kinder- und Jugendtheater-Repertoire der 1950er Jahre nicht nur auf speziell für ein junges Publikum geschriebene Stücke, sondern wurde auch auf Klassiker mit weltanschaulichem Gehalt wie Kabale und Liebe (Schiller) und Romeo und Julia (Shakespeare) ausgedehnt (Hoffmann 1976: 163ff.; Wöhlert 1998: 21f.). Im Gegensatz dazu weist das Kindertheater im Westteil Deutschlands eine diametral entgegengesetzte Entwicklung auf. Da mussten tiefgreifende Diskussionen über das KJT lange auf sich warten lassen. Im Vergleich zum Wiederaufblühen des Theaterlebens im Erwachsenentheater (Glaser 1990: 242; Bauer 1980: 15f.) wurde die Pflege und Förderung des KJTs in der ersten Zeit nach Kriegsende laut Forschung weitgehend vernachlässigt. Im Unterschied zur SBZ bzw. DDR erhielten ständig spielende Theater für Kinder und Jugendliche in den Westzonen kaum Förderung und blieben vorläufig auf den Ausnahmefall beschränkt (Heidtmann 1992: 30; Doderer 1994: 54). 37 UA.: Theater der Freundschaft, Berlin, 18. 2 1957; Regie: Josef Stauder. Historischer Abriss 45 Nur in wenigen Städten waren Bemühungen zu verzeichnen, Kindertheater zu etablieren. 1949 wurde an den Städtischen Bühnen Nürnberg/Fürth das erste Kindertheater mit einem ganzjährigen Spielbetrieb gegründet. 1953 entstand dann im Münchener Stadtteil Schwabing das Theater der Jugend von Siegfried Jobst (1906-1989) als „Münchner Märchenbühne“ (später „Münchner Jugendbühne“). Die Städtischen Bühnen Dortmund richteten im gleichen Jahr erstmals einen Kindertheaterspielplan ein. Es folgte 1956 die Gründung eines Kindertheaters am Jungen Theater in Hamburg und 1959 des Theaters der Jugend an der Landesbühne Rhein-Main in Frankfurt am Main. Die Entwicklung stagnierte allerdings bis weit in die 1960er Jahre hinein. Erst 1966 wurden die Berliner Kammerspiele ins Leben gerufen (Doderer 1994: 82).38 Die unterschiedlichen Bühnen verbindet, dass sie erstens ein über die ganze Spielzeit gehendes Repertoire entwickelt haben und zweitens zielgerichtet Kinder und Jugendliche als ihr hauptsächliches Publikum betrachteten (Doderer 1994: 83). Schedler (1972: 149) schreibt allerdings über diese Bühnen: „[...] der Wirkungsradius all dieser Unternehmen war klein, wenn nicht den Zuschauerzahlen, so doch ihrem Renommee nach, und nur wenige Eingeweihte wussten überhaupt von ihrer Existenz“. Mehrfach wurde in der Forschung z.B. von Lipp (1980), Behr (1985) und Heidtmann (1992) behauptet, das KJT habe sich in der damaligen BRD nur als Märchentheater entwickelt, das um die Weihnachtszeit herum von allen staatlichen und städtischen Bühnen gepflegt wurde. Doderer (1994: 27) streitet eine solche Behauptung vehement ab und betont, dass das westdeutsche KJT in dem besagten Zeitraum eine eigene Entwicklung durchgemacht39 sowie verschiedene Erscheinungsformen angenommen hat.40 In der ersten Zeit nach dem Kriegsende wurde nicht viel für das KJT geschrieben. Die wenigen Texte, die veröffentlicht wurden, sind heute dennoch leider kaum mehr zu bekommen und Stücke, die nicht zur Aufführung gelangten, wurden erst gar nicht verlegt und sind deshalb auch nicht erhältlich. Im Zeitraum von 1945 bis Anfang der 1950er Jahre wurden überwiegend Märchenbearbeitungen aufgeführt, wobei das Märchentheater zum am häufigsten praktizierten Konzept wurde, welches zudem an die lange Tradition des Weihnachtsmärchens anknüpfte. Neu war der Versuch, es zu einem Repertoire-Theater auszubauen (Doderer 1994: 55ff.). 38 Eine detaillierte Profilbeschreibung der einzelnen Bühnen ist auch bei Doderer (1994: 201ff.) zu finden. Dort ist nachzulesen, wie es in den sechs Städten der ehemaligen BRD zur Gründung der genannten Kinder- und Jugendtheater gekommen ist, welche Entwicklung diese Theater genommen und was sie dem kindlichen und jugendlichen Publikum vorgesetzt haben. 39 So bemerkt beispielsweise Behr (1985: 21) über diesen Zeitraum: „Dennoch geschah bis zur Mitte der 60er Jahre beim Kindertheater so gut wie nichts. Man pflegte weiter das Weihnachtsmärchen und verließ sich auf so bewährte Dichtungen wie Räuber Hotzenplotz, Emil und die Detektive und Peterchens Mondfahrt.“ 40 Doderer teilt die Entwicklung des KJTs in drei Entwicklungsphasen mit gleitenden Ãœbergängen ein (Doderer 1994: 27ff.). Besonders relevant für diesen Abschnitt sind die Ergebnisse zur zweiten Phase: von Beginn der 1950er bis zur Mitte der 1960er Jahre. Historischer Abriss 46 Begründungen für ein solches Märchentheater waren eine „von einer bürgerlichen Pädagogik seit dem 19. Jahrhundert genährte Vorstellung vom Märchen als der eigentlichen Kinderlektüre, Ergebnisse der Entwicklungspsychologie seit den zwanziger Jahren und der Wunsch der Kriegsgeneration, die Kinder mit Phantasie zu unterhalten und sie vom Elend des realen Lebens in den Trümmern abzulenken“ (Doderer 1994: 55). Neben traditionellen Märchenspielen, die auf die Vorlagen der Brüder Grimm sowie von Wilhelm Hauff oder Hans Christian Andersen zurückgingen, hatte somit der Klassiker unter den deutschen Weihnachtsmärchen, also Bassewitz‘ Peterchens Mondfahrts aus dem Jahre 1912, weiterhin Konjunktur (Doderer 1994: 57). Daneben wurden auch Adaptionen von Kinder- und Jugendbüchern bzw. Abenteuerstücke auf Jugendbühnen geboten. Zu diesen zählte z.B. Tom Sawyers Abenteuer von Mark Twain. Es war der Anfang eines „Jugendliteraturtheaters“ mit der Tendenz, die Klassiker der Weltliteratur für die Jugend auf die Bühne zu bringen (Doderer 1994: 27). In der Zeit von Anfang der 1950er Jahre bis zur ersten Hälfte der 1960er Jahre ist im westdeutschen KJT, so Doderer (1994: 29), „ein Hang zu einer harmlosen, pädagogisch- didaktisch orientierten Kindertümlichkeit [...] erkennbar“. Zunächst stand weiterhin das traditionelle Märchentheater mit einer oft noch pompöseren Ausstattung als bisher im Vordergrund. Symptomatisch für die Märchentheater-Ästhetik dieser Jahre ist „nicht nur die Annäherung an das Literaturtheater, sondern ebenso die möglichst weitgehende Annäherung des phantastischen Märchenstoffs an die Realität“ (Doderer 1994: 81). Unter „Annäherung an die Realität“ ist hier eine möglichst realistische Darstellungsweise zu verstehen (Doderer 1994: 81f.). Zudem kam es zu einem Ausbau des Jugendliteraturtheaters, wobei zumeist ältere literarische Vorlagen (Stifter, Dickens, Stevenson, May u.a.) benutzt wurden. Es wurde viel Erzählgut bearbeitet, weil Mangel an Stücken herrschte (Doderer 1994: 29 u. 85f.). Auch die beiden Kästner-Dramatisierungen (Emil und die Detektive und Pünktchen und Anton) sowie Forsters Jugendstück Robinson soll nicht sterben aus den 1930er Jahren wurden häufig aufgeführt, so z.B. in Nürnberg, Berlin, Dortmund, München, Hamburg und Frankfurt am Main (Doderer 1994: 135, 151 u. 156). Zu Gegenwartsproblemen nahm nur ein, allerdings mehrfach inszeniertes Bühnenstück für Kinder Stellung: Dieter Rohkohls (1919-1971) Fips mit der Angel. Dieses 1951 in Berlin uraufgeführte Stück schilderte das Schicksal eines Kriegswaisenkindes in der westlichen Besatzungszone (Doderer 1994: 86 u. 135ff.). Dass in dieser Zeit kaum gegenwartsbezogene Stücke gespielt wurden erklärt sich nach Doderer (1994: 29) folgendermaßen: „Offensichtlich gab es bei den Verantwortlichen eine nur begrenzte Vorstellung darüber, was man Kindern und Jugendlichen zeigen könne. Sie meinten, Kinder brauchten leichte Unterhaltung, keine Problemorientierung.“ Historischer Abriss 47 Die Entwicklung des KJTs der 1950er Jahre muss auch im Zusammenhang mit dem Angebot der anderen kulturellen Medien gesehen werden (dazu insb. Heidtmann 1992). Wie bereits in den vergangenen Jahren, also zur Zeit der Weimarer Republik und später des Dritten Reiches, war das KJT immer stärker der Konkurrenz von Rundfunk und Film ausgesetzt. Aus der Geschichte des Kinderfilms ist zu entnehmen, dass er nach ersten Nachkriegsanfängen mit Märchenthemen – 1948 war Frau Holle der erste Kinofilm für Kinder – zwischen 1953 und 1956 eine kurze Blütezeit erlebte (Heidtmann 1992: 37ff.). Hinzu kam, dass dem KJT ab 1953 ein mächtiger Konkurrent erwachsen war: Am 17. März 1953, wenige Wochen nach Beginn regelmäßiger Ausstrahlung von Fernsehprogrammen für Erwachsene, wurde die erste Fernsehkinderstunde gesendet (Heidtmann 1992: 77ff.; auch Schmidbauer 1987). 1.3.6 Neue Impulse für das KJT Ein Wandel der BRD-Kindertheaterlandschaft ging in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vonstatten, als auf politischem, kulturellem und gesellschaftlichem Gebiet entscheidende Veränderungen eingetreten sind. Wesentliche Impulse für diese Veränderungen gingen von der politisch motivierten 68er-Bewegung aus. Preuss-Lausitz (1995: 18) weist darauf hin, dass in einem verflochtenen Prozess studentische Revolte, sozialdemokratische Erneuerungspolitik, ökonomischer Wandel und Bildungsreformpolitik beteiligt gewesen sind. Damit wandelte sich auch die Lage des KJTs entscheidend. Der Wandel war vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen: zum einen auf das steigende Interesse der Studentenbewegung am Kind und dessen Erziehung als Folge einer kritischen Reflexion der gesellschaftlichen Zustände; zum anderen auf die Krise des Theaters Ende der 1960er Jahre, entstanden aus einem politisch veränderten Bewusstsein (Kayser 1985: 5f.; Lipp 1980: 100). Kindheit im Westdeutschland der 1950er und 1960er Jahre war laut Forschung (Sauer 2007, Hoffmann 1976) im Wesentlichen durch Verbote, ein autoritäres Erziehungssystem sowie durch fehlende Teilhabe der Kinder am öffentlichen Leben gekennzeichnet. Mit dem Ausklingen der Adenauerära wurde das Thema „Kindererziehung und -kultur“ populärer Gegenstand öffentlicher Diskussion, da man in der jungen Generation ein starkes Potential für die Vorbereitung gesellschaftlicher Umwälzung sah. Kinder galten zu dieser Zeit als unterdrückte Minderheit, die sich emanzipieren müsse und lernen sollte, wie sie sich gegen unterdrückende Herrschaftsstrukturen auflehnen könnte (Sauer 2007: 343f.). Zur Lage des Kindes in der BRD war nämlich eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, Analysen und Umfragen durchgeführt worden, die in erschreckender Weise das Ausmaß der Kinderfeindlichkeit aufzeigten und die Unterdrückungsmechanismen der BRD-Gesellschaft zutage brachten (Hoffmann 1976: 175f.). Historischer Abriss 48 Die Lebenswirklichkeit von Kindern und Jugendlichen war von autoritären Erziehungsmethoden in Schule und Familie sowie den Auswirkungen zunehmender sozialer Differenzierung der Gesellschaft geprägt. Im Rahmen einer als kinderfeindlich angesehenen Gesellschaft begannen Pädagogen und Sozialarbeiter sich verstärkt für Kinder und Jugendliche einzusetzen und sie in ihrer Entwicklung aktiv zu unterstützen. Dazu Jahnke (1999: 176): Anknüpfend an reformpädagogische und sozialistische Erziehungskonzepte vom Anfang des Jahrhunderts, vollzog sich ein radikaler Perspektivenwechsel: Kinder sollten nicht länger als bloße Objekte erwachsener Erziehungsdressur betrachtet, sondern in ihrer Handlungsfähigkeit als Subjekte bestärkt werden, um in der immer konfliktträchtigeren westlichen Gesellschaft bestehen zu können. Auf der Suche nach neuen Erziehungsmethoden stieß man auf die Schriften von A.S. Neill (1883-1973), Wilhelm Reich (1897-1957), Edwin Hoernle (1883-1952) u.a. und stellte das „Modell“ der antiautoritären Erziehung der herkömmlichen gängigen Pädagogik entgegen. In West-Berlin entstanden spontan die ersten so genannten „Kinderläden“, die als Gegenmodell zum traditionellen Kindergarten für Drei- bis Sechsjährige antiautoritäres Lernen und Spielen praktizierten. Zentrale Prinzipien waren dabei die Kollektiverziehung, sexuelle Selbstregulierung und der Aufbau kritisch-politischen Bewusstseins der Kinder (Kayser 1985: 5ff.). Als Experimentierfeld solcher Ideen einer antiautoritären Kindererziehung lässt sich neben der so genannten „Kinderladenbewegung“41 auch ein neues Modell von KJT anführen, welches gelegentlich als „emanzipatorisches Kindertheater“ (Bauer 1980) bezeichnet wurde. Dabei handelte es sich um ein für und mit Kindern und Jugendlichen entwickeltes Theater, das seine theoretischen Grundlagen neben der sozialistischen Kindererziehung (Hoernle) unter anderem auch auf die Kindertheaterpraxis der 1920er Jahre bezog, auf Versuche in Richtung eines proletarischen Kindertheaters in der Sowjetunion (Saz, Lacis) und insbesondere auf Walter Benjamins Programm eines proletarischen Kindertheaters aus dem Jahre 1928, das 1969 als Raubdruck in Berlin im Umlauf war und zu einem wichtigen Werk für die antiautoritären Vertreter des KJTs wurde (Kayser 1985: 12f.). 41 Antiautoritäres, repressionsfreies „Gegenmodell zu den bürgerlichen, meist konfessionellen Kindergärten“, das aus der antiautoritären Phase der Studentenbewegung in den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts im bundesrepublikanischen Deutschland entstand. Dabei verstand sich die „Kinderladenbewegung“ als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung gegen die bestehenden Verhältnisse. Insofern richtete sie sich „gegen die autoritäre Erziehung in der bürgerlichen Kleinfamilie“ und wollte „durch die antiautoritäre Erziehung in Kinderkollektiven freiere und kritikfähigere Kinder darauf vorbereiten, als Erwachsene den ‚Kampf um die Ãœberwindung der Klassengesellschaft‘ weiterzuführen (vgl. Lexikon der Psychologie, URL: www.psychology48.com/deu/d/kinderladenbewegung/kinderladenbewegung.htm; abgerufen am: 21.06.2015). Historischer Abriss 49 Das „emanzipatorische Kindertheater“ wandte sich der sozialen Realität der Kinder und Jugendlichen zu, mit einer, für das bundesdeutsche KJT bis dahin ungewohnten, realistischen Spielweise, in die musikalische Elemente wie Lieder und moderne Rockmusik integriert waren. Die Stücke dieses neuen KJTs orientierten sich am Alltag der jungen Menschen, sie thematisierten zum Beispiel Familien- oder Schulverhältnisse. Die erzählten Geschichten und der Realismus der Spielweise beruhten auf gründlicher Recherche in der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, so in Kindergärten und Schulen, auf Spielplätzen und Jugendzentren. Es ging nicht darum, dass die jungen Zuschauer ihre Lebenswirklichkeit auf der Bühne wieder erkennen sollten, sondern konkrete Lebenssituationen als veränderbar zu zeigen. Mit der Kunst zielte man darauf ab, gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar zu machen, damit die Kinder und Jugendlichen ihre eigene Lebenssituation besser verstehen und möglicherweise verändern konnten (Taube 2008:12). Dieses im Kontext der Politisierung der Studentenbewegung entstandene Modell eines neuen KJTs entwickelte sich außerhalb der Institution Stadttheater, die zu jener Zeit das Theatersystem der alten Bundesrepublik prägte, und wurde durch freie Theatergruppen entwickelt.42 Richtungsweisend war hierbei das 1966 in Berlin gegründete Theater für Kinder im Reichskabarett, das spätere Grips-Theater, das zwar ein Privattheater war und ist, aber mit dem dort entwickelten „emanzipatorischen Kindertheater“ Vorbild für viele freie Gruppen war, die sich dem Kinderpublikum zuwandten (Kayser 1985: 27).43 Der Mitbegründer und langjährige künstlerische Leiter des Grips-Theaters Volker Ludwig (mit richtigem Namen Eckart Hachfeld, geb. 1937) beschrieb die Zielsetzung der Gruppe so: „Theater ist für uns ein Mittel zur Einwirkung auf außertheatralische Zustände in Richtung auf eine qualitative Veränderung unserer Gesellschaft“ (Ludwig bei Laturell/Mayer 1974: 70). Politisch- ökonomische Ursachen der Alltagsprobleme und -konflikte wurden insofern im Grips-Theater beim Namen genannt, aber auch in zahlreichen Kinder- und Jugendbühnen im deutschen Sprachraum wie z.B. in Nordrhein-Westfalen (Schneider 1998c: 9). Während die professionellen Kinder- und Jugendtheater das Ziel, ihr Publikum zu „emanzipieren“, in erster Linie durch die Aufführungen selbst und durch so genannte „Nachbereitungshefte“44 sowie Vor- und Nachgespräche mit dem Publikum erreichen wollten, 42 „Frei“ verweist dabei als Begriff auf zwei Arbeitsvoraussetzungen: einmal auf den ökonomischen Status der Gruppen, die ohne Förderung auskamen, zum anderen auf das Organisationsmodell. Im Gegensatz zu der im öffentlichen Theaterbetrieb existierenden Hierarchie und Arbeitsteilung wurden in den freien Gruppen alle Produktionsschritte von allen Ensemblemitgliedern gemeinsam diskutiert und beschlossen. Aufführungen, und zum Teil auch die ihnen zugrunde liegenden Stücke, entstanden so von einem Autorenkollektiv und nicht von einem einzelnen Autor. 43 Zur Geschichte und Entwicklung des Grips-Theaters: Kolneder (1983) u. Fischer (2002). 44 Zu allen seinen Stücken seit Doof bleibt doof (1973) ließ das Grips-Theater ein „Materialheft“ von Pädagogen zusammenstellen, das Hintergrundinformationen sowie didaktische Hinweise für die Aufarbeitung des Themas im Unterricht enthielt. So konnte über die Aufführung hinaus die Diskussion über ein Stück von den Lehrern weitergeführt werden (dazu Kolneder 1983: 161ff.). Historischer Abriss 50 begannen andere Theaterschaffende, Theater mit Kindern und Jugendlichen zu spielen, um dieses Ziel zu erreichen. Ein Beispiel liefert das 1969 gegründete Kindertheater im Märkischen Viertel in Berlin. Zu seinen Gründern zählte Volkhard Paris, der in einem Konzeptpapier die bildende Wirkung des Theaterspiels unterstrich: „Durch das Selbstspiel der Kinder sollen hemmende Faktoren abgebaut und Ich-Stärkung ausgebildet werden, es sollen kognitive, emotionelle und motivationale Fähigkeiten entwickelt werden“ (zit. n. Hoffmann 2008: 83). Noch eine weitere Berliner Theatergruppe interessierte sich für die Theaterarbeit mit Kindern: das Hoffmann‘s Comic Theater, das ab 1970 neue Formen und Formate des Theaterspielens erprobte.45 So wurde 1971 und im Rahmen des von der Westberliner Akademie der Künste veranstalteten KJT-Festivals eine Kinderstadt aufgebaut. Dabei ging es der Gruppe um neue Sichtweisen auf die Wirklichkeit: „Sieben Tage lang konnten Kinder Buden, Häuser und Geschäfte auf einem Abenteuerspielplatz errichten, drei Tage lang konnten sie dort die Geschäftigkeit im Kapitalismus als Ladenpächter und Arbeiter gegen Bankiers und Armee nachspielen. Die Erwachsenen hatten gewisse Schaltfunktionen, die es zur Eskalation der ausbeuterischen Verhältnisse kommen lassen konnten“ (Schneider 1984: 23).46 In den folgenden Jahren entwickelten sich das Theater für und dasjenige mit Kindern und Jugendlichen als nahezu unabhängige Strömungen voneinander. Parallel zu dieser Entwicklung im bundesdeutschen KJT-Bereich ist festzuhalten, dass die großen Theater ab Mitte der 1960er Jahren des Kinder- und Jugendpublikums gewahr wurden, als nämlich ihre Gesamtbesucherzahlen rapide zurückgingen. Wie Rischbieter (1970: 5) in Theater heute bemerkt, gingen um 1968 nicht mehr als 5% der Bevölkerung regelmäßig ins Schauspieltheater. Hinzu kam noch, dass keine neue Besuchergeneration heranwuchs: Der Verkauf von Schüler- und Studentenkarten sank rapide von 9,5% 1963/64 auf 8,4% 1967/68 und die Tendenz blieb weiterhin rückläufig. Angesichts des drastischen Besucherschwunds empfahl der Deutsche Bühnenverein seinen Mitgliedsbühnen, das Kinder- und Jugendpublikum zum Gegenstand künftiger Werbebemühungen zu machen. Nach Schedler (1972: 147) führte dies zuerst nur zu einer Inflation der Weihnachtsmärchen – nun nur über das ganze Jahr verteilt. Der Bühnenverein veranstaltete 1969 eine Umfrage zur Situation des KJTs, an der sich über 72% der Mitglieder (Staats-, Stadttheater, Landesbühnen und einige Privattheater) beteiligten. Es offenbarte sich die prekäre Lage des KJTs in der Bundesrepublik: 62 aus den 117 befragten Theatern führten (einschließlich des obligaten Weihnachtsmärchens) insgesamt 75 Inszenierungen für Kinder vor, 23 keine einzige; hinzu kamen 37 Inszenierungen für Jugendliche von 23 Theatern (Lipp 1980: 100). Daraufhin publizierte der Verband zwei Jahre später eine breit angelegte Studie zum Kinder- und Jugendtheater, die an verantwortliche Theaterleiter und Politiker gerichtet war. Den Verfassern der Studie ging allerdings nicht um 45 Zur Vorgeschichte s. den Beitrag „Hoffmann‘s Comic Theater 1963-1968“ in: Hüfner (1970: 250ff.). 46 Vgl. ausführlicher zu diesen beiden Gruppen bei: Schedler (1972: 260ff.) u. Kayser (1984: 14ff.). Historischer Abriss 51 inhaltlich-dramaturgische Fragen, sondern allein um organisatorische Aspekte: Jedes Theater sollte mindestens zwei Kinderstücke pro Spielzeit spielen; die jungen Zuschauer sollten so früh wie möglich an die Bühnenkunst herangeführt werden; Kinder sollten über das Kindertheater ihre Liebe zur Bühnenkunst entdecken, um später die leeren Theatersessel zu füllen.47 Gegen Ende der 60er Jahre erwuchs allerdings ein neuer Blick für das KJT. So wurden Stücke entwickelt, die ihr junges Publikum ernst nahmen und die Intention ihrer Arbeit nicht nur auf die Unterhaltung des Konsumenten beschränkten. Zwar hatten die Märchenbearbeitung (meist nach den Brüdern Grimm) und das Literaturtheater (d.h. Adaptionen von Jugendbüchern und Klassikern der Weltliteratur für die Jugend) auch in dieser Zeit weiterhin Bestand – die Jahresstatistik 1968/69 des Deutschen Bühnenvereins in der Sparte Kindertheater weist ausschließlich Märchenproduktionen aus48 –, aber auch an den städtischen und staatlichen Bühnen zeigte das neue, vor allem durch freie Theatergruppen vorangebrachte und praktizierte „emanzipatorische Kinder- und Jugendheater“ seine Auswirkungen (Schneider 1998c: 9). Herausragende Beispiele für eine solche grundlegende Neuorientierung waren die ersten, vom Grips-Theater entwickelten Stücke Stokkerlok und Millipilli (UA: 17.5.1969), Maximilian Pfeiferling (UA: 5.11.1969) und Mugnog-Kinder! (UA: 2.5.1970), die recht bald von vielen Theatern in der ganzen Bundesrepublik nachgespielt wurden. Die Stücke haben gemeinsam, dass sie sich auf Themenbereiche aus der Um- und Alltagswelt von Kindern oder Jugendlichen konzentrieren. Dabei erscheinen Kinder als unterdrückte Minderheit, deren Naturrecht auf Widerstand es zu fördern gilt. Die Grips-Stücke machen zum ersten Mal Kinder zu aktiven Handlungsträgern ihres eigenen Geschicks, indem diese sich gegen die Interessen von autoritären Erwachsenen und kinderfeindlichen Institutionen durchzusetzen versuchen. Maximilian Pfeiferling erzählt beispielsweise von einem Jungen, der mit seinem Zahnlückenpfiff ein Mittel findet, sich gegen die Erwachsenen zu behaupten. Auf formaler Ebene war in diesen Stücken der Einfluss Brechts zu erkennen. Um beim o.g. Beispiel zu bleiben: Am Anfang der Vorstellung stellt sich jeder Schauspieler vor und soll das Kinderpublikum grüßen. Jeder erzählt, was er kann (nähen, die Zeitung lesen, fernsehen, „klauen“, usw.) und welche Rolle er übernimmt (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Hausbesitzer, usw.). Diese Art Verfremdungseffekt wird dadurch vervollständigt, dass die Schauspieler in der Pause die einfache Ausstattung unmittelbar vor den Kindern wechseln. Außerdem wird die einfache, überschaubare Handlung regelmäßig von „Songs“ betont, die das 47 Dazu das Vorwort zur Studie zum Kinder- und Jugendtheater in: Deutscher Bühnenverein (1971: 2f.). 48 Dazu auch Schedlers bezeichnender Beitrag bei Theater heute (8/1969) „So sieht Kindertheater hierzulande aus – Sollte es aber so aussehen?“. Hier konstatiert Schedler, dass es außer Dramatisierungen und Bearbeitungen von Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur in der damaligen BRD praktisch kein Kindertheater mehr gab. In seinem Beitrag unternimmt Schedler eine Kritik zu ausgewählten Aufführungen von neun Bühnen (u.a. München, Nürnberg, Dortmund). Kritische Aufmerksamkeit finden z.B. Inszenierungen von Kästners Pünktchen und Anton oder Forsters Robinson soll nicht sterben. Dabei formuliert er seine Einwände gegen solche Kindertheaterpraxis. Historischer Abriss 52 Geschehen kommentieren. Die Ãœbersteigerung und die kabarettistische Verzerrung zur Groteske gehörte sonst zu den Elementen der ersten Grips-Stücke (Kolneder 1983: 11ff.; Fischer 2002: 49ff.). Dieses neue KJT wollte kein Illusionstheater mehr sein – daher die realistische Darstellung. Dadurch wurde eine sich von den gängigen Märchenvorstellungen abhebende neue Welle des Kindertheaters ausgelöst und dabei eine rege Diskussion eröffnet. Gesprochen wurde über Märchen- oder Traumwelt, die die Kinder der Realität fernhielt, oder die Emanzipation der Kinder, die sie zum Handeln anspornte. Dass diese Diskussion schon bald auch eine breitere interessierte Öffentlichkeit beschäftigte, lag an den im Oktober 1969 in Theater heute erschienenen Sieben Thesen für sehr junge Zuschauer, die Melchior Schedler in offensichtlicher Anlehnung an Peter Weiss‘ Thesen für das dokumentarische Theater verfasst hatte. Diese Thesen entfachten heftige Kontroversen, denn Schedler forderte im Kern die Abschaffung des überkommenen Weihnachtsmärchens. An seiner Stelle empfahl er Spielvorlagen, die sich ganz im Sinne der Grips-Stücke an der Realität der Kinder orientierten, deren Konflikte mit der Umwelt behandeln sollten, um deren Ich-Stärke zu erhöhen. Aber vor allem wollte er die Kinder selbst zu Akteuren machen, um ihre soziale Fantasie und Kreativität zu mobilisieren.49 1.3.7 Das KJT der 1970er Jahre Im Rahmen einer solchen Aufbruchstimmung diskutierten und erprobten Kindertheaterschaffende neue Konzepte; Straßentheater und Clownerien sollten kleine Zuschauer belustigen und animieren; die Guckkastenbühne musste zugunsten eines „Mitspieltheaters“ aufgegeben werden. Für längere Zeit blieben im neuen deutschen KJT politische Aufklärung und Sozialkritik zentrale Anliegen. Es entstanden viele neue Stücke, die sich mit Gegenwartsproblemen beschäftigten. Dabei sollte die gesellschaftliche Realität 49 So schreibt Schedler: „[...] Das Kindertheater muss sich seine Stoffe in unserer Gegenwart suchen, die nicht die Gegenwart Wilhelm Grimms [...] ist (wie die Märchenfanatiker implizieren) und nicht die von Erich Kästners Neuer Sachlichkeit (wie uns die Jugendbuch-Puristen einreden wollen). Wir brauchen Spielvorlagen die sich der Erfahrungsbereiche unserer Kinder bedienen. Dazu gehören die moderne Arbeitswelt ebenso wie Comics und kommerzialisierte Lebenshilfe, antiquierte Schulsysteme ebenso wie die Erosion aller familiären und gesellschaftlichen Beziehungen. [...] Die Kinder sollen Stücke sehen dürfen, deren Themen Suburbs und Minderheiten sind, die APO und die Gastarbeiter. Die Dramatik für Kinder muss sich darum kümmern, ihre traditionelle Reise- und Abenteuerstoffe durch realistische Abbildungen der Dritten Welt zu ersetzen und auch darum, kindliche Sexualität auf die Bühne zu bringen [...]“ (These 2). Und weiter: „[...] Das Kindertheater muss seine kleinen Zuschauer zu Mitspielern machen, es muss seine Zuschauer auf die Bühne lassen, um sich von ihnen [...] einen Vorgang rekonstruieren zu lassen, von dem der Fragende nichts weiß. [...] Die Zuschauer werden gebeten, das Bühnenbild ab-, um- oder aufzubauen. [...] Die Akteure lassen sich Ratschläge geben, wie die Handlung weiterzugehen habe. [...] Die Spielvorlagen müssen so beschaffen sein, dass sie sich durch das Eingreifen der Kinder verändern können. Es muss dem Theater für sehr junge Zuschauer darauf ankommen, kindliche Spontaneität freizusetzen und den Kindern durch ihre aktive Mitbestimmung Selbstbewusstsein und Kombinationsfreude zu geben. [...]“ (These 4) (Schedler 1969: 30ff.). Historischer Abriss 53 erkennbar und durchschaubar gemacht werden. Damit setzte nach Einschätzung von Doderer (1994) eine ganz neue Phase im kinderdramatischen Bereich ein. Diese beschreibt er als eine Phase „[...] eines sich langsam ankündigenden tiefgreifenden Themenwandels, der Hinwendung zu Darstellungen sozialer Probleme, realistischerem Stil und zu einer aktiveren Rolle des jugendlichen Publikums“ (Doderer 1994: 29). Dies spiegelte sich vor allem in den Stücken des Grips-Theaters wieder, das für das ganze Jahrzehnt modellbildend wurde und die Entwicklung anderer Gruppen entscheidend beeinflusste. Mit den Grips-Stücken nach der Aufbruchsphase um 1970 beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte des neueren deutschen KJTs (Fischer 2002). Ob Balle, Malle, Hupe und Artur (UA 1971),50 Trummi kaputt (UA 1971), Mannomann! (UA 1972) und Doof bleibt doof (UA 1973), jedes mal wurde von Grips dem KJT ein neuer stofflicher Bereich aus dem Alltag erschlossen. Zu Klassikern des KJTs avancierten zumindest zwei der Grips-Stücke: Ein Fest bei Papadakis (UA 1973), das als erstes deutschsprachiges Theaterstück überhaupt die Vorurteile deutscher Arbeitnehmer gegen die Gastarbeiter behandelte, und Mensch Mädchen! (UA 1975), das sich mit dem Thema Mädchen- und Frauenemanzipation auseinandersetzte. Mit Das hältste ja im Kopf nicht aus wurde auch 1975 das erste „emanzipatorische“ Stück für Jugendliche im Grips-Theater aufgeführt. Damit begann eigentlich die neue Phase in der Entwicklung des Ensembles. Mit dem Konzept eines „emanzipatorisches Jugendtheaters“ wurden weitere Stücke entwickelt und aufgeführt. Dabei wurden Konflikte der nächsten Umwelt aufgegriffen, z.B. Schule, Arbeitswelt, Jugendarbeitslosigkeit und Identifikationsschwierigkeiten (Die schönste Zeit im Leben, UA 1978; Alles Plastik, UA 1981), aber auch abstraktere Themen wie Dritte- Welt-Problematik (Banana, UA 1976) oder Umweltverschmutzung und Ökologie (Wasser im Eimer, UA 1977). Bald wurden weitere selbständige Kindertheatergruppen gegründet, die nicht minder erfolgreich eigene theatralische Konzeptionen entwickelten. Im Vordergrund standen dabei zwei andere Berliner Gruppen. 1970 wurde das Birne-Theater für Kinder gegründet, das als der Einführer vom „Mitspieltheater“ gilt. Kennzeichnend dafür war das aktive Eingreifen des Publikums ins vorgegebene Spiel. Kristov Brändli (geb. 1947), Mitgründer des Birne-Theaters, hat das „Mitspiel“-Konzept so beschrieben: „Mitspiel bedeutet: Eingriff! Die Kinder greifen in das Stück, in den Gang der Handlung ein und versuchen, die Handlung nach ihren Erkenntnisen und Gefühlen zu beeinflussen“ (Brändli 1977: 10). Die Spieler des Birne-Theaters setzten sich laut Brändli im gemeinsamen Spiel und Gespräch mit der Realität und den konkreten Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen auseinander und schrieben vor diesem Hintergrund ihre Stücke. So wurden Erfahrungen gesammelt: „Wir reden und spielen viel mit Kindern, weil wir in den Stücken von den 50 Das Stück wurde, wie auch schon zwei Jahre früher Stokkerlok und Millipilli, mit dem Brüder- Grimm-Preis des Landes Berlin für das beste neue Kindertheaterstück ausgezeichnet. Historischer Abriss 54 konkreten (Lebens-)Erfahrungen der Kinder ausgehen. Indem wir diese Situationen spielen, ergibt sich für die Kinder und uns die Möglichkeit, Zusammenhänge zu hinterfragen und bessere Handlungsmöglichkeiten zu überlegen“ (zit. n. Bauer 1980: 110). Zu den Erfolgen der Birne-Gruppe gehört das oft nachgespielte Krimi-Stück Langfinger (UA 1975 in West-Berlin),51 in dem es um Ladendiebstahl von Kindern und den Abbau von Vorurteilen geht: Ein Kommissar, der zugleich die Funktion eines Spielleiters übernimmt, hat einen Uhrendiebstahl aufzuklären. Verdächtigt sind zwei gleichaussehende Mädchen; das eine kommt aus begüterten, das andere aus ärmlichen Verhältnissen. Im Mittelpunkt stehen dabei die gesellschaftlichen Vorurteile, wobei die zuschauenden Kinder über die Täterin zu entscheiden haben. So lernen sie, ihre eigenen Vorurteile zu untersuchen (Schneider 1984: 35ff.). Vom Grips-Theater trennten sich 1973 einige Mitspieler, um das Ensemble Rote Grütze zu gründen, das einige der meistaufgeführten, -nachgespielten und -kritisierten Stücke herausbrachte: Mit ihrem Mitspielstück Darüber spricht man nicht! (UA 1973 in West-Berlin)52 durchbrach sie das Sexualtabu im KJT. Das Stück mit dem Untertitel „Ein Spiel vom Liebhaben, Lusthaben, Kindermachen und Kinderkriegen, vom Schämen und was noch alles vorkommt“ erzählte von Kindern, die ihre Sexualität erkennen, hinterfragen und mit ihr lustvoll umgehen. Mit Puppen und wenigen einfachen Requisiten werden Alltagsszenen geschaffen, die eigene Gefühle zeigen und erklären, was andere fühlen. Spontanität, Spielwitz und häufige direkte Einbeziehung des Kinderpublikums in die Spielhandlung schaffen eine offene und freundliche Atmosphäre, um sich über Sexualität ohne Zurückhaltung auseinandersetzen zu können. Das Stück ist so angelegt, dass an vielen Stellen Fragen aufgeworfen werden, die bei der Aufführung gemeinsam zu beantworten sind (KJTZ 1992: 286ff.; ausführlich dazu bei Schneider 1984: 46ff.). Aufgrund der Thematik und jargonhaften Alltagssprache wurde das Stück von konservativen Kreisen mit starkem Misstrauen aufgenommen; man schreckte sogar nicht davor zurück, der Gruppe „Sexualindoktrination“ von Kindern und Jugendlichen zu unterstellen (Schröder 1986: 16) und hatte daher in einigen Städten Auftrittsschwierigkeiten. Nach Darüber spricht man nicht! entstanden die Jugendstücke Was heißt hier Liebe (UA 1976) und Mensch, ich lieb dich doch (UA 1980), die von Sexualität und Drogenkonsum handelten. Mit diesen Stücken wurde die Rote Grütze zu einem der bedeutendsten Ensembles in der Bundesrepublik. Dass die Berliner Gruppen „sich zu Anfang der siebziger Jahre [...] so nachdrücklich in Szene setzen konnten“ (Jahnke 2001: 44) ermutigte die Gründung weiterer freier Gruppen in vielen anderen deutschen Großstädten. So entstand 1973 das Klecks-Theater in Hamburg, im gleichen Jahr das Rammbaff-Kindertheater in Hannover, 1975 das Klappmaul-Theater in 51 Abgedruckt in: 3mal Kindertheater (Bd. 5). München: Ellermann, 1976. 52 Abgedruckt in: Brombacher, Günter et al. 61984 [1973]. Darüber spricht man nicht. München: Weismann; Frankfurt a.M.: Verlag Autorenagentur. Historischer Abriss 55 Frankfurt/Main und 1978 das Reibekuchen-Theater in Duisburg. 1981 zählte man fast 60 freie Gruppen, die ständig Theater für Kinder und Jugendliche produzierten. Diese spielten entweder die antiautoritären Stücke der Berliner Gruppen nach, oder aber – und das galt für die Mehrzahl – sie entwickelten eigene Textvorlagen, in denen in Mitspielform Konflikte von Kindern und Jugendlichen aufgegriffen wurden, die zumeist vor kleineren Zuschauergruppen (z.B. Schulklassen) aufgeführt wurden (Jahnke 2001: 44). Die Arbeit der neuen, engagierten Kindertheatergruppen regte Kinderbuchautoren an, die für ungewöhnliche Formen und Inhalte offen waren, sich dem KJT zuzuwenden. Damit machte sich eine neue Tendenz im deutschen KJT bemerkbar. Wichtig war dabei die Wiedererscheinung des Fantastischen. Schon ab Mitte der 1970er Jahre erschienen insofern Clowns- und Märchenstücke, die mehr oder weniger als Gegenreaktion zum streng realistischen Kindertheater à la Grips entstanden. Herausragende Beispiele dafür waren die Stücke von zwei Autoren: Friedrich Karl Waechter (1937-2005; s.u. Kap. 3) und Paul Maar (geb. 1937), die in den 1970er Jahren sowohl der bundesdeutschen Kinder- und Jugendliteratur als auch dem KJT wichtige Impulse gaben (Schneider 1984: 68f.). Die kinderdramatische Produktion vom Zeichner, Cartoonist und Kinderbuchautor Friedrich K. Waechter wurde durch die Konzepte der antiautoritären Erziehung und der Frankfurter Kinderladenszene angeregt. Bei ihm verbanden sich gesellschaftskritisches Bewusstsein, Nähe zur naiven Gedankenwelt von Kindern, Sinn für Situationskomik und groteske, manchmal makabre Einfälle zu sehr eigenständigen Bühnenstücken. Die ersten Stücke beruhten auf Grimmschen Märchenstoffen, die er neu bearbeitete. Hierzu gehören Die Beinemacher (1974), Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (1975 geschrieben und dann mehrmals überarbeitet; UA 1981 in München) und Die Bremer Stadtmusikanten (UA 1977 in Frankfurt/Main). Allerdings stellten diese Märchenbearbeitungen in keinem Fall bloße Paraphrasierungen der zugrunde liegenden Märchenvorlagen dar, sondern eigenständige und eigenwillige Interpretationen. So unterschieden sich Waechters Stückfassungen deutlich von den erzählerischen Fassungen der Brüder Grimm, desgleichen von den traditionellen Weihnachstmärchenstücken. Zum Erstlingswerk Die Beinemacher schreibt Schneider (1984: 75): „Aus dem Märchen ,Tischlein deck dich‘ [...] entstand das Waechtersche Szenario unter dem neuen Titel [...] worin zwar noch die märchenhaften Elemente der Vorlage verwandt wurden, aber eigentlich nur, um in dieser ,Verfremdung‘ die Merkmale einer frühkapitalistischen Welt besser paraphrasieren zu können.“ Die beiden darauffolgenden Stücke stellen zwei weitere Beispiele für die neue Dramatisierung von alten Volksmärchen im Rahmen des Anspruchs von „emanzipatorischem Kindertheater“ dar. Dabei, so Schneider (1984: 75), „[erproben] Abhängige und Unterdrückte [...] Auswege der Abwehr und des Schutzes gegen Angriffe der Herrschenden. Von daher Historischer Abriss 56 emanzipieren sich seine Helden, werden zu Aktiven und lassen das Bestimmtsein durch übernatürliche Kräfte hinter sich.“ Wenngleich Waechters frühe Arbeiten für das KJT hauptsächlich Märchenstoffen galten, so beschäftigte sich Waechter auf keinen Fall ausschließlich damit. Mit dem „Mitspiel“-Stück Pustekuchen (UA 1975 in Frankfurt/Main) trat eine zweite, stofflich-thematisch ganz anders angelegte Linie hervor: Das Stück verbindet fantastische und realistische Geschichten. Der Ausgangspunkt der Handlung ist ein doppelbödiges Spiel im Spiel, das dazu auffordert, den Alltag zum Bühnenraum und die Gegenstände der Alltagsumgebung zu Requisiten zu machen. Theater als Spiel steht im Vordergrund, aus zuschauenden Kindern sollen aktive Mitspieler werden. Gemeinsame Lösungen werden angeboten und sollen untereinander durchgespielt werden (Schneider 1984: 76). Die anfangs fast reine märchenhafte Phase wurde auch durch eine parallellaufende Clownsstück-Phase fortsgesetzt. Halbwegs realistische Ausgangssituationen aus dem kindlichen Erfahrungsbereich wurden hier mit fantasievoll-clownesken Elementen kombiniert. Angekündigt wurde dieser neue Ansatz mit Schule mit Clowns (UA 1975 in Frankfurt/Main), das zum Erfolgsstück wurde. Damit wurden dem „emanzipatorischem Kindertheater“ neue ästhetische Möglichkeiten eröffnet. Da benutzte Waechter nämlich das Mittel der Clowneske, um die Autoritätsstrukturen im Schulunterricht zu kritisieren. Das Stück thematisiert eine lustige Schule, in der ein autoritärer, strenger Lehrer verzweifelt versucht, vier Clowns-Schüler Allgemeinbildung beizubringen. Die Clowns bemühen sich redlich, aber stillsitzen und lernen gelingt ihnen nicht so recht. Das Stück spielt an einem Ort, den die Kinder kennen: der Schule, mit Schülern, die sich all die Unarten leisten. Nichts ist wie in einer realen Schule und doch haben alle Szenen etwas damit zu tun. Mit diesem Stück wurden Schule und Schulalltag spielerisch umgebaut, auf die fantastisch witzige Ebene der Clownerie verlagert (Schneider 1984: 77). Die Form des Clownstheaters setzte Waechter in weiteren Stücken fort, so z.B. bei Kiebich und Dutz (UA 1979 in Frankfurt/Main). Damit legte Waechter ein Theaterstück vor, das sich mit den Themen Freundschaft und Angst beschäftigt. Das Stück handelt vom kindlichen Verhältnis zur Wirklichkeit allgemein, wobei zwei prototypische Grundhaltungen, diejenige von Angst und Regression (Dutz) und diejenige von Neugier und Aktion (Kiebich) in den Hauptrollen entwickelt werden. Ausgangspunkt ist also die zaghafte Annäherung zweier ungleicher Freunde und das Aufzeigen ihrer unterschiedlichen Kommunikationsebenen. Beide durchlaufen dann einen Bewusstwerdensprozess und landen schließlich auf einer gemeinsamen Freundschaftsebene. Wie in den Grips-Stücken sollte mit diesem Stück das Vertrauen auf die eigene Stärke vermittelt werden; es sollte den Kindern Mut gemacht werden, damit sie den Widrigkeiten des Lebens begegnen konnten. Indem Waechter allgemeinmenschliche Themen wie Freundschaft, Angst und Solidarität behandelte und diese fantasievoll darstellte, unterschied Historischer Abriss 57 er sich vom Kindertheater eines Grips-Theaters. Indem er aber diese Themen zur Ãœberwindung alltäglicher Situationen einsetzte, bezog er sich auf die Realität. Insofern ließe sich eine augenscheinliche Parallelität zum Grips-Theater beobachten. Clownhaftes fand sich auch in den Stücken vom Kinderbuchautor und Zeichner Paul Maar. In seinen Stücken integrierte er „Szenen, die aufgebaut sind wie ein Clowns-Sketch, Slapstick, Pantomime, optische Sensationen (wenn Kisten z.B. ihre Farbe wechseln), Happening-artige Aktionen [...] usw.“ (Maar zit. n. KJTZ 1994: 236). In Kikerikiste (UA 1973 in Hamburg), einem Spiel über das Entstehen solidarischen Handelns, in dem der Ablauf – ähnlich wie bei Waechter – clownesk und slapstickhaft in Form komischer Nummern konzipiert ist, versucht zum Beispiel ein Musikmarschierer in glitzernder Uniform, mit großer Pauke, zwei Freunde mit falschen Versprechen auseinander zu bringen (Schneider 1984: 69). Der erneute Rückgriff auf Märchen- und Clownerie-Elemente bei Waechter und Maar ließ sich als Gegenpol zu der von Grips und anderen Gruppen ausgelösten „Neue Welle“ (Schedler 1972: 147) und der Tradition der Dramatisierung von realitätsnahen Stoffen verstehen. Die Stücke waren zwar dem sozial-emanzipatorischen Kindertheater verpflichtet, bedeuteten also keine Wende zurück zum Weihnachtsmärchen und dem Traum-Abenteuer-Spiel, allerdings: Wurden beim Grips-Theater Realität und Konfliktpotentiale dieser Realität anhand konkreter gesellschaftlicher Situationen dargestellt, so abstrahierten Maar und Waechter ihre Themen und erweiterten sie um fantastische Inhalte (Schneider 1984: 68). Die Inhalte und Formen, die im bundesdeutschen KJT in den 1970er Jahren hervorgebracht wurden, spiegeln den Umbruch des KJTs in einem Angebot, das von Unterhaltungsstücken über Märchen- und Literaturadaptionen bis zum kritischen Kinder- und Jugendstück reicht. Ein Gesamtüberblick über die 1977/78 an deutschsprachigen Bühnen aufgeführten Kinder- und Jugendtheaterstücke lässt sich aus der Werkstatistik des Deutschen Bühnenvereins gewinnen: Von 171 inszenierten Stücken waren 30% Märchen oder märchenhafte Stoffe, 25% dem „emanzipatorischen Kindertheater“ zuzurechnen, 20% Unterhaltungsstücke ohne explizit märchenhaften oder emanzipatorischen Charakter und 12% Kinderliteraturadaptionen (Lipp 1980: 109f.). 1.3.8 Das KJT der 1980er Jahre Auch wenn bis Mitte der 1980er Jahre problembehandelnde Stücke immer noch als das „einzig wahre“ KJT galten, so zeigte schon die Entstehung des Clowntheaters und die Wiederentdeckung der Märchen für das KJT bereits Ende der 70er Jahre, dass Theaterschaffende auch wieder Interesse am Vergnügen ihres Publikums hatten. Dazu Schneider (1998c: 10): „Allmählich [...] wurden die Elemente der vergnüglichen Historischer Abriss 58 Zuschauervorstellung, des spaßigen, lustvollen Vorführens wiederentdeckt und damit der anfänglichen didaktisch-pädagogischen Strenge wieder abgeschworen“. Im Laufe der 80er Jahre veränderte sich tatsächlich die Einstellung der Stückeschreiber und Theaterschaffenden gegenüber ästhetischen Fragen. Jene wollten den Kindern und Jugendlichen nun auch Spaß und Freude bereiten, die durch die Inszenierung vermittelt werden sollten. Es entstanden viele Stücke, die Realität und Fantasie kombinierten. Das Kindertheater versuchte dabei, andere Wege zu gehen: auch den eines neuen Märchentheaters. Insofern wurden die ehemals verpönten Märchen in bearbeitender Form wieder in die Spielpläne aufgenommen. Dass sich märchenhafte und fantasiebetonte Stoffe im KJT durchsetzen konnten, war vor allem – so meint die Forschung – der Verdienst von zwei Autoren, die bereits in den 1970er Jahren ihren Durchbruch hatten: Friedrich K. Waechter und dem ebenso bereits erwähnten Paul Maar. Waechter interpretierte Märchenstoffe aus der Grimm-Sammlung mit Witz und Poesie – etwa die Neufassung des Stückes Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (1982) –, Maar hingegen verwendete Märchen bzw. märchenhafte Stoffe als Anlass, um seine fantasievollen Stücke zu schreiben. Auch ein anderer Autor verdient in diesem Zusammenhang Erwähnung: Wilfrid Grote (geb. 1940), dessen Kinderstücke emanzipatorischen Anspruch mit der Welt des Märchens, des Traums und der Fantasie verbanden. Die Hinwendung zum Fantastischen und Märchenhaften wurde durch eine Bucherscheinung begünstigt: Ende der 1970er Jahre erschien erstmals in deutscher Ãœbersetzung das Buch des amerikanischen Kinderpsychologen Bruno Bettelheim (1903-1990) Kinder brauchen Märchen. Darin erforschte Bettelheim aus psychoanalytischer Perspektive, warum die Erzählungen für Kinder so wichtig und fesselnd sind. Der Erfolg der Thesen von Bettelheim beschleunigte in den 1980er Jahren die Rehabilitation der Gattung „Märchen“ – auch für das KJT. Bettelheims Ansichten fielen nämlich in eine Zeit, in der Märchen in dem Verdacht geraten waren, als Instrumente bürgerlicher Repression Heranwachsenden falsche Vorstellungen und Einstellungen zu vermitteln. Die Gewaltdarstellungen, vor allem in den Erzählungen der Brüder Grimm, spielten in diesen märchenkritischen Debatten eine zentrale Rolle. Aus gesellschaftstheoretischer Sicht wurde argumentiert, Märchen legitimierten Gewalt, indem sie aggressive Lösungsmuster anböten. Aus pädagogischer Perspektive wurde vermutet, dass die dargestellte Gewalt Aggressionen und Ängste bei Kindern hervorruft. Bettelheim machte darauf aufmerksam, dass die Märchen – im Gegensatz zu dem, was die Kritiker der 1960er und 1970er Jahre behaupteten – wohl der Erfahrungswelt der Kinder entsprechen. Das „Zauberhafte“ der Märchen entspricht nämlich nach seiner Untersuchung zum Beispiel dem animistischen Denken des Kindes, denn bis zum Pubertätsalter denke das Kind, dass leblose Gegenstände und Sachen ein menschenähnliches Leben führen (Bettelheim 1995: 55ff.). Bettelheim hob die Märchen-Diskussion somit nicht nur auf ein neues Niveau, sondern gab zusätzlich „den Kindertheater-Produzenten neue Argumente in die Hand. In der Praxis Historischer Abriss 59 bedeutet[e] das allerdings, dass die Mehrzahl der Theater Bettelheim als Alibi für ihre ,Weihnachtsmärchen‘-Praxis zitiert[e], um die eigene ,schlechte Tradition‘ zu kaschieren“ (Jahnke 2001: 56). Wie auch immer soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass nach einer Statistik des Deutschen Bühnenvereins im Jahr 1987 die Märcheninszenierungen auch zehn Jahre später noch den Löwenanteil zum bundesdeutschen KJT lieferten: Zählt man die Aufführungen der Spielzeit 1986/87, so kommt man zu der Erkenntnis, dass der Anteil der Märchen mit etwas über 30 Prozent konstant geblieben ist. Interessant ist aber eine andere Feststellung: Zählt man die Zahl der Besucher, dann ist der Anteil der Märchen weit größer, nämlich fast genau 40 Prozent! Das kommt daher, dass gerade die Märchen in großen Häusern gespielt werden, während viele andere Kinder- und Jugendstücke in wesentlich kleineren Räumen, also auch vor weniger Zuschauern, ablaufen. (Deutscher Bühnenverein 1987: 46) Tatsächlich griffen die meisten Bühnen wieder auf die Praxis zurück, „Ensemblemitglieder mit dem Schreiben von Bearbeitungen bekannter Märchenvorlagen zu beauftragen“ (Jahnke 2001: 55). Darüber hinaus produzierten einige Intendanten der deutschen Staats- und Stadttheater zur Weihnachtszeit wie eh und je üppig ausgestattete Weihnachtsmärchen als Kassenfüller. Diese in den Augen der Befürworter einer Erneuerung „niedrige“ Märchen- und Spielpraxis – die übrigens bis heute ungebrochen anhält – blieb das ganze Jahrzehnt erfolgreich erhalten. Wie beliebt das an Görners Vorgaben orientierte Märchentheater war, lässt sich wieder aus den Statistiken des Deutschen Bühnenvereins zu den verschiedenen Spielzeiten zwischen 1981 bis 1990 ablesen: In den Tabellen mit den höchsten Aufführungszahlen überwiegen an der Spitze Märchen und Abenteuer: Unter den ersten zehn Hits findet man immer nur bekannte Bearbeitungen nach den Brüdern Grimm. Es gibt von Dornröschen (mit 1089 Aufführungen das meistgespielte Kinderstück der Spielzeit 1981/82) über Aschenputtel (mit 771 Aufführungen an der Spitze der Tabelle der Spielzeit 1985/86) bis zu Der gestiefelte Kater (in der Spielzeit 1989/90 vorn mit 358 Aufführungen) all die bekannten Grimmschen Märchenbearbeitungen. Das Pendant zum traditionellen Märchentheater bildeten Friedrich K. Waechter (s.u. Kap. 3), Paul Maar sowie der neue Autor Wilfrid Grote. Mit Maar entwickelte sich das KJT inhaltlich und eroberte dabei neue Bereiche. Anfang der 1980er Jahre entwickelte er in enger Zusammenarbeit mit der Württembergischen Landesbühne in Esslingen drei „Stücke der Spielfreude“ (Schneider 1998c: 10) mit fantastischen Elementen: Mützenwexel, Freunderfinder und Die Reise durch das Schweigen, die als Esslinger-Trilogie bekannt wurden. In den beiden ersten Stücken verändert sich der Alltag durch fantastische Ereignisse: Mützenwexel (UA 1981), teilweise auf der Basis von Improvisationen des Ensembles entstanden, ist ein turbulentes Spiel über die Macht in der Familie: Darin kann jedes Historischer Abriss 60 Familienmitglied Macht über die anderen ausüben, sobald eine rätselhafte Mütze ihren Besitzer wechselt. Freunderfinder (UA 1982) erzählt von einem Jungen, der seine Isolation zunächst dadurch überwindet, dass er sich einen Freund erfindet, bis er auf eine wirklliche Freundin trifft. Mit Die Reise durch das Schweigen (UA 1983) entwickelte Maar ein modernes Märchenstück mit „strenge[r] Farbsymbolik“ (Jahnke 2001: 100): Darin wird die Geschichte eines jungen und stummen Prinzen erzählt, der in die Welt hinausgeht, um seine Sprache wiederzufinden; die Reise endet mit der Entdeckung des Ichs, das mit den Wörtern heranreift (Jahnke 2001: 100). 1986 entstand Eine Woche voller Samstage (nach dem gleichnamigen Kinderbuch von 1973), in dem ein respektloses Fantasiewesen (das Sams) einem verschüchterten Büroangestellten (Herrn Taschenbier) in situationskomischen Episoden zu Selbstbewusstsein verhilft. Im gleichen Jahr erschien ein neues Märchenstück: Das Wasser des Lebens (UA 1986 in Würzburg). Damit entwarf Maar auf der Grundlage des Märchens der Brüder Grimm (KHM 97) eine märchenhafte Parabel über den Ãœbergang vom Kind- zum Erwachsensein: Drei junge Menschen (Elisabeth, Nanna und Brauskopf) machen sich auf, die Quelle zu finden, die ewiges Jungsein verspricht. Zwei geben jedoch unterwegs auf, gründen eine Familie und lassen sich auf die Abenteuer des Alltags ein, während Nanna weiterzieht und nach vielen Schwierigkeiten tatsächlich vom Wasser des Lebens trinkt und für sich den Traum vom ewigen Jungsein erfüllen kann (KJTZ 1994: 235). Auf formaler Ebene zeichnen sich Maars Stücke durch ihre stationenhafte Episodenstruktur aus. In Die Reise durch das Schweigen werden z.B. die Grundsituationen der Selbstfindung des jungen Prinzen beschrieben. Auch in der Bühnenfassung von Einer Woche voller Samstage bedient sich Maar des Stationenhaften. Dem Buch entnimmt er die wichtigsten Stationen der Handlung, die den Wochentagen folgt. Zeitsprünge werden durch einen Erzähler überbrückt. Auch bei Das Wasser des Lebens kommen Erzähler vor: Die Figuren sind gleichzeitig Protagonisten und Erzähler der Geschichte, indem sie aus der Rolle heraustreten und eine Erzählerfunktion übernehmen. Weitere charakteristische Elemente der Maarschen Stücke sind die psychologische Figurenzeichnung sowie Sprachspielereien und Situationskomik, die für vergnügliche Unterhaltung sorgen (KJTZ 1994: 233). Auch Wilfrid Grote entwickelte im Laufe der 1980er Jahre mehrere Kinderstücke, die reale bzw. alltägliche Problematiken mit der Welt des Märchens und der Fantasie verbinden. Ähnlich wie Maar ist auch Grote ein Autor, der in seinen Stücken fantastische Erlebnisse in den Alltag so einbaut, dass dieser schließlich verändert erscheint. Nach diesem Muster entstanden u.a. Das Krokodil weint mit (UA: Theater der Jugend München 1980), König in der Pfütze (UA: Avanti- Theater Aachen 1982) und Hinter den sieben Tapeten (UA: Theater der Jugend München Historischer Abriss 61 1984).53 Das Stück Das Krokodil weint mit, das in 6 Revue-Abteilungen Mut zu allen möglichen Arten von Tränen machen will, spielt in einer Erwachsenenwelt, die aus der Sicht eines kindlichen Betrachters beschrieben wird und in der sich die mitspielenden Figuren sehr kindlich benehmen, d.h. so, als ob sie einer kindlichen Fantasie entsprungen wären. Denselben Kunstgriff wandte Grote später noch häufiger an, z.B. bei König in der Pfütze, das einen emanzipatorischen Anspruch mit der Welt des Märchens verbindet: Das Stück wird von einem Märchenerzähler mit einer Art „Es war einmal“ eingeleitet, scheint allerdings in unserer Zeit zu spielen: Der König lässt sich in einer gepanzerten Luxuslimousine durch das exotische Marrakesch kutschieren und seine Untertanen in der Teppichfabrik für sich arbeiten bzw. im Krieg für sich kämpfen. Im Stück taucht ein Aufruf zur fantasievollen Auflehnung gegen eine tyrannische Obrigkeit auf, also gegen einen Ausbeuter, der nicht Mitglied der eigenen Klasse ist. Das zentrale Anliegen ist, den Kindern zu zeigen, dass man sich von Angst nicht lähmen lassen darf.54 Obwohl Grote bestimmte Formen von Mitspieltheater für seine Stücke ablehnt, gibt es hier einige Mitmachelemente: Die kindlichen Zuschauer sind immer wieder aufgefordert, mit den einzelnen Figuren im Stück neue Kunststücke, Tänze und Lieder zu entwickeln und einzustudieren, um sie vor der Hinrichtung durch den König zu bewahren, der jeden ersten Freitag im Monat etwas Neues vorgeführt bekommen möchte. Auch Grotes Hinter den sieben Tapeten ist in einer kindlichen Fantasiewelt angesiedelt. Darin wird die Geschichte eines sich ständig streitenden Paares (Ohrenrot und Naseweis) erzählt, das durch ein Loch in der Wand – hinter den sieben Tapeten: eine Anspielung auf die sieben Berge als Ort des Abseits, wo man aus dem Abstand (wieder) zu sich selbst finden kann – in eine Märchenwelt gelangt. Dort stoßen die beiden auf eine komische Figur: Siebensinn, die ihre sechs Kinder (Nase, Ohr, Hand, Mund, Auge, Herz) verloren hat und diese nun sucht. Grote baut in die Handlung eine Reihe von Dialogen, die aus verschiedenen bekannten Märchen (z.B. Schneewittchen, Rumpelstilzchen, Rapunzel) stammen. Neben selbst erfundenen Märchen bearbeitete Grote auch Märchenstoffe aus der Sammlung der Brüder Grimm unter besonderer Berücksichtigung ihres sozialen Gehaltes, wie beispielsweise Der treue Johannes (UA: Theater der Jugend München 1984), Der Bärenhäuter (UA: Theater in der Kreide, München 1985) und HansMeinIgel (UA: Städtische Bühnen Essen 1986).55 In Letzterem steht sich z.B. Kinder- und Erwachsenwelt gegenüber; darin wird das Thema der Liebe der Eltern zu ihrem Kind, bzw. des Fehlens dieser Liebe, abgehandelt: Es geht 53 Die beiden letzten Stücke sind in der Stücksammlung Hinter den sieben Tapeten (Frankfurt a.M., 1985) abgedruckt. 54 Dem Abdruck des Textes ist eine kurze Einleitung des Autors vorangestellt: „[...] wer Angst hat, kann nicht klar sehen. Denn Angst legt sich wie ein undurchdringlicher Schleier vor die Augen. [...] Nun ist es wirklich nicht schlimm, wenn sich einer mal vor Angst in die Hosen macht, besser ist es, wenn einer immer wieder Löcher in den Schleier reißt“ (Grote 1985) 55 Grotes Bärenhäuter kam 1985 beim Verlag der Autoren in Frankfurt/Main heraus; Der treue Johannes und HansMeinIgel liegen nur als Bühnenmanuskript beim Stückgut Theaterverlag in München vor. Historischer Abriss 62 darum, dass Kinder mit ihren Eigenarten nicht so von den Eltern angenommen werden, wie sie sind. Bei der Bearbeitung hält sich Grote sehr eng an die Märchenvorlage. In leichter Abänderung des Grimmschen Märchens lässt Grote zwei Königspaare sich in den Wald verirren, beiden hilft HansMeinIgel, den Weg zurück zum Schloss zu finden. Von beiden verlangt er in einem schriftlichen Vertrag den gleichen Lohn – nämlich das, was ihnen zuerst begegnet, sobald sie nach Hause kommen. Grote baut dazu in seine Handlung einfache Momente aus dem heutigen Alltag ein, die eigentlich völlig natürlich sind (der König muss z.B. seine Notdurft verrichten), die er allerdings ins Absurde übersteigert und dadurch die „Märchenrealität“ (hier: die königliche Würde) in Frage stellt. Auch bei Der treue Johannes ist Grote ähnlich verfahren. An kritischen Stellen besteht Johannes, der als Erzähler immer wieder aus dem Märchen heraustritt, darauf, dass es seine Geschichte sei, und sie nach seinem Willen weitergehen müsse. Und am Schluss versichert man sich gegenseitig, dass es ein Märchen sei, das gut ausginge. Um es noch besser ausgehen zu lassen, hat Grote den Schluss verharmlost. Im Vergleich zum Grimmschen Märchen werden die beiden Kinder des Königspaares nicht wirklich umgebracht, um den versteinerten Johannes mit ihrem Blut bestreichen zu können.56 Die Hinwendung zu einer fantasievolleren Ästhetik im westdeutschen KJT wurde nach Schneider (1998c: 11) auch von der Einflussnahme ausländischer Theatergruppen, insbesondere aus dem europäischen Ausland, unterstützt.57 Die Arbeit anderer europäischer Kinder- und Jugendtheater wurde in der Bundesrepublik vor allem durch Gastspiele und Festivals bekannt. Das Mailänder Teatro del Sole von Carlo Formigoni (geb. 1933) z.B. gastierte bereits Anfang der 1980er Jahre am Theater der Jugend in München (Kayser 1985:115f.) sowie an verschiedenen Landesbühnen und Stadttheatern in Baden-Württemberg (u.a. das Landestheater Tübingen, das Theater der Stadt Heidelberg, das Schnawwl-Theater in Mannheim). In Zusammenarbeit mit dem Tübinger Ensemble entstanden außerdem Schneewittchen (UA 1982) und Die Schöne und das Tier (UA 1983). In diesen Stücken entwickelte Formigoni auf der Basis der psychoanalytischen Märcheninterpretation von Bettelheim sein choreographisches Improvisationstheater (Jahnke 2001: 98f.).58 56 Ãœber die Aufführungen von Der treue Johannes am Theater der Jugend in München und Der Bärenhäuter am Kinder- und Jugendtheater in Essen berichtet Angelika Laubscher in ihrem Artikel „Von Sindbad dem Lastträger und von Sindbad dem Abenteurer. Bemerkungen zu neueren Inszenierungen im Kinder- und Jugendtheater“, in: Fundevogel 26/Mai 1986, S. 8f. 57 Bei Chronisten wie Jahnke ist die Rede von „Internationalismus“ in der westdeutschen KJT-Szene (dazu Jahnke 2001: 106ff.). 58 Als stilistische Elemente lassen sich der sehr körperbetonte Einsatz der Spieler nennen, der Einsatz von Rhythmusinstrumenten zur Unterstützung von Spannungsmomenten sowie eine sehr sparsame und karge Ausstattung. Da die Stücke in gemeinsamer Improvisationsarbeit mit den Schauspielern entwickelt wurden, sind sie auch von deren Spielfreude geprägt. In diesem Sinne werden auch die dargestellten tragischen Gefühlswelten wie Tod, Eifersucht, Liebe immer durch komische Elemente etwas aufgebrochen. Formigoni versieht die Binnenhandlung, das eigentliche Märchengeschehen, oft mit einer realistischen Rahmenhandlung: In Schneewittchen z.B. wollen die Eltern ausgehen, das Kind Historischer Abriss 63 Ab Mitte der 1980er Jahre wurde die deutsche KJT-Landschaft dann durch das schwedische und das niederländische KJT geprägt (Jahnke 2001: 106): Ein von der bundesdeutschen Sektion der ASSITEJ veranstaltetes deutsch-schwedisches Kindertheatertreffen in Kiel vermittelte 1984 die Besonderheiten des schwedischen Kindertheaters. Hinzu kamen die Ãœbersetzungen schwedischer Kinderstücke sowie zahlreiche deutsche Erstaufführungen vor allem in Essen und München, die den Trend zum Schwedenstück unterstützten. Bemerkenswerte Uraufführungen waren Medeas Kinder (DE 1983) von Suzanne Osten (geb. 1944) und Per Lysander (geb. 1944), Eine Nacht im Februar (DE 1986) von Staffan Göthe (geb. 1944) und Metamorphosen (DE 1988) von Nils Gredeby (geb. 1954). Allen Stücken gemeinsam ist, dass sie stark psychologisch orientiert und an Märchen- und Mythenstrukturen angelehnt sind. Inzwischen gehören diese Stücke zum Repertoire des deutschen KJTs. Durch die internationalen KJT-Festivals „Schauspiele“ in München (1985, 1986 und 1988) wurde auch das KJT der Niederlande bekannt. Vor allem das Theater Wederzijds aus Amsterdam und sein viel gespielter Autor Ad de Bont (geb. 1949) inspirierten die deutsche Szene durch Grenzüberschreitungen zum Musik- und Tanztheater für Kinder und Experimente mit der bildenden Kunst – z.B. Versammlung um die Braut (DE 1986). Darüber hinaus diente die Amsterdamer Gruppe mehreren deutschen Ensembles als Vorbild, wie z.B. dem Münchner Theater der Jugend, die nach der Methode der holländischen Truppe arbeiteten: Aus individuellen Rollenwünschen und Themenvorstellungen wurde in gemeinsamer Arbeit durch Recherche und Improvisation das Konzept eines Stückes entwickelt; danach begann der Regisseur-Autor mit der Niederschrift der Bühnenfassung. Aus der Vielzahl von niederländischen Stücken, die Eingang in die Spielpläne der westdeutschen Kinder- und Jugendtheater fanden, sind besonders erwähnenswert: Ad de Bonts Das besondere Leben des Hilletje Jans (DE 1986 in Nürnberg) und Dussel & Schussel (DE 1987 in Frankfurt/Main) sowie Der Junge im Bus (DE 1989 in Berlin) von Suzanne van Lohuizen (geb. 1953). Auch diese Stücke gehören bis heute zum Repertoire des deutschen KJTs. bleibt allein mit der Großmutter zurück, die ihm nun das Grimmsche Märchen vorliest. Das Mädchen beginnt zu träumen und die Märchengeschichte erscheint als Auseinandersetzung mit der realen Welt, den realen Konflikten in der Familie des Mädchens (Jahnke 2001: 99). Die Verbindung zum Traumspiel (z.B. Peter Pan, Peterchens Mondfahrt) wird hier deutlich. In Die Schöne und das Tier wird die Geschichte auf drei Ebenen erzählt – als Spiel im Spiel, in dem die Handlung als öffentliche Theaterprobe ausgegeben wird, als Märchen vom Tierbräutigam und als Mythos von Amor und Psyche (Jahnke 2001: 57). (Zur Arbeitsweise von Formigoni vgl. auch Hentschels ausführliche Analyse der Märchenbearbeitung Torsolo, Torcicollo et Torcibudella (1986) nach Der goldene Zweig aus der Sammlung Perraults in: Hentschel 1988: 228ff.). Historischer Abriss 64 Theoretischer Rahmen 65 2. Vom Märchen zum Stück: Methodische und theoretische Ãœberlegungen zur Dramatisierung von Märchen Die vorliegende Arbeit behandelt das Verhältnis zwischen einer epischen Vorlage (dem Märchen) und deren Dramatisierung, d.h. deren Bearbeitung für die Bühne, wobei das Augenmerk im Besonderen auf die Kinderbühne gelegt wird. Insofern soll eine Gattungsform des Dramas angesprochen werden, die aus der dramatischen Gestaltung von Märchenstoffen resultiert: das Märchenstück. Bei der Besprechung vom Märchenstück muss eingehend von zwei Gattungen bzw. gattungsmäßigen Erscheinungnen die Rede sein: vom Theaterstück und vom Märchen. Dabei dürfen weitere Kernfragen nicht überhört werden: Was sind Gattungen? Inwiefern lässt sich der Begriff „Gattung“ bei unserem Vorhaben anwenden? Darüber hinaus geht es bei der Märchenstück-Besprechung auch um grundsätzliche Fragen der Gattungstheorie, von der Beständigkeit absoluter Gattungen über die widersprüchliche Frage historischer Gattungen bis hin zur Frage der Gattungsmischung. Sind die Schlüsselmerkmale unserer Gegenstände erst einmal festgelegt, dann wird wiederum die Rede davon sein, inwieweit von einer Gattung Märchenstück gesprochen werden kann. Die Gattungsdebatte umfasst ein weites Gebiet, was uns eine Erklärung zu unserer Gattungsvorstellung abverlangt. Bekanntlich handelt es sich bei Gattung um einen mehrdeutigen Begriff. In der traditionellen Poetik bedeutete Gattung einen Satz von künstlerischen Normen, die von Autoren und Kunstkritik beachtet werden mussten, solange man an der Erhaltung einer gewissen Ordnung interessiert war (Lausberg 1960). In der Literaturgeschichte hat Gattung dagegen unterschiedliche Bestimmungen gefunden. Einmal ist sie als oberflächliche Einordnung von Kunstwerken hingenommen worden, deren geniehafte Individualität aber nur sehr schwer eine vereinfachende Schematisierung duldet (Croce bei Fubini 1971: 69ff.). Und wieder einmal gilt sie als das Auftreten von formellen Merkmalen sehr unterschiedlicher Art (Verssprache, Motive, Personenbeschaffenheit, Stil, Mischung mit anderen Gattungen usw.), die Gemeinsamkeiten und Konventionen innerhalb künstlerischer Produktionen einer Zeit bzw. einer Strömung zu identifizieren erlaubt. Die skeptische Auffassung ausgenommen, wonach es bei Gattungen letztendlich um eine klassifikatorische Angelegenheit geht, sieht man dennoch, inwieweit eine normative und eine geschichtliche Auffassung von Gattung schwer zu vereinen sind. Die normative, im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Frankreich (Boileau) und Deutschland (Gottsched) besonders beliebte Auffassung geht von einer nicht mehr wandelbaren, ja fertigen Vorstellung von Gattung aus, was wiederum eine Hierarchie sowie das Bild einer mehr oder weniger durchschaubaren Unterteilung stiftet. Die geschichtliche, am Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts entstandene Auffassung (F. Schlegel, Hegel) gibt dagegen eine solche Erwartung auf und Theoretischer Rahmen 66 bemüht sich oft in Zusammenarbeit mit phänomenologischen Annäherungen wie Formalismus und Strukturalismus (Propp, Lüthi, Lotman, Pfister), Merkmale herauszufinden, die von einer wandelnden Kodifizierung zeugen. Insofern muss die geschichtliche Auffassung ebenso die Erwartung aufgeben, eine erschöpfende Kartografierung von Ober- und Untergattungen durchführen zu können. Dementsprechend lässt sich eine normative Poetik schwerer als eine historische mit der Erkenntnis der tatsächlichen Kunstproduktion vereinigen, während eine geschichtliche dank ihrer axiologischen Behutsamkeit besser in der Lage ist, Neuigkeiten zu begegnen und sie einzuordnen. Mitten in diesem Zwiespalt bietet die kritische Philologie des Peter Szondi (1929-1971) ein hilfreiches Mittel zur Anwendbarkeit der Größe Gattung. In der Nachfolge der Bestrebungen um eine historische Poetik der Frankfurter Schule (Adorno, Benjamin) schlägt Szondi vor, als Richtlinie einer historischen Poetik Hegels Postulat zur Bestimmung von wahrer Kunst zu benutzen (Szondi 1963: 10). Hegels Gleichung von Kunst als Umsetzung von Form in Inhalt sowie umgekehrt von Inhalt in Form erlaubt Szondi und der Frankfurter Schule, formelle Aspekte als den Niederschlag zeitgeschichtlicher Problematiken anzusehen, sowie den Ausdruck geschichtlicher Belange als mitbedingtes Ergebnis der Entfaltung formeller Mittel. Hegels dialektisches Postulat erlaubt eine Aufhebung des früheren Gegensatzes zwischen Wesen und Zeit, Norm und Wandlung. Szondi wendet es auf den Bereich des Theaters an, indem er eine Gattung bestimmt, welche ohnehin als geschichtliche, dennoch verhältnismäßig beständige Größe angeschaut werden kann, nämlich das moderne Drama. Bekanntlich erlaubt Szondis Diagnose des modernen Dramas, eine Verbindung zwischen gesellschaftskritischen Ansprüchen der Moderne und der Konventionen des modernen Dramas zu bestimmen. Ist die Moderne in Europa darauf angelegt, den Menschen als Individuum anstatt eines Versatzstückes innerhalb einer Hierarchie sowie die Sprache anstatt der Gewalt als Schlichtmittel unter den Menschen aufzufassen, so ist das moderne Drama bemüht, sich das zunutze zu machen, was auf das Verhältnis zwischen den Menschen als echtes Bewährungsfeld der menschlichen Existenz hinweist: „Es [das Drama] war das geistige Wagnis des nach dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbilds zu sich gekommenen Menschen, die Werkwirklichkeit, in der er sich feststellen und spiegeln wollte, aus der Wiedergabe des zwischenmenschlichen Bezuges allein aufzubauen“ (Szondi 1963: 14). Der Aufbau einer neuen Form bedeutet unter diesem Gesichtspunkt nicht nur ein widersprüchliches Abtasten von Ausdrucksmitteln, sondern auch eine mühselige, vom Dichter und von seinen Zeitgenossen oft erst andeutungsweise geahnte Suche nach neuen Entsprechungen zwischen Inhalt und Form. Die Absage an ein Regelwerk erfordert aus theoretischer Sicht einen flexiblen Umgang mit den Bezugspunkten. Insofern stellt Szondis historische Ästhetik eine weitere grundlegende Berichtigung der normativen Poetik dar. So wie „die Eule der Minerva erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug [beginnt]“ (Hegel Theoretischer Rahmen 67 1964: 28), so entsteht in Kunst und Poetologie eine dreifache Spannung. Erstens versuchen die Künstler mit Hilfe bewährter Formen neue Stoffe auszudrücken. Zweitens entstehen somit widersprüchliche, z.T. ungeahnte neue Formen, deren Geeignetheit erst später erkannt wird. Einem solchem Widerspruch mit Erwartungen in Hinblick auf Beständigkeit der Formen kann man erst mit einer historischen Poetik beikommen, die auf Polaritäten setzt. Insofern wird in dieser Arbeit prototypisch vorgegangen. Zu den Herausforderungen der Gattungstheorie gehört, dass in der Spannung zwischen Bewährung und Erneuerung oft sehr wenige Werke eine Gattung kanonisch vertreten. Vielmehr muss in Kritik und in Forschung die Diskussion von einer prototypischen Gattungsvorstellung ausgehen (Propp 1928 [dt. 1975], Lüthi 2005 [1947], Rölleke 2004 [1985]; Szondi 1963 [1956], Klotz 1978 [1960], Pfister 1997 [1977]). Ähnlich wird hier vorgegangen. Unser Augenmerk gilt einerseits dem historischen Prototyp von Bühnentexten, so wie er im französischen Barock (Corneille, Racine) und in der deutschen Klassik und Vorklassik (Goethe, Schiller, auch Lessing) unter der Form des modernen Dramas (Szondi 1963: 14ff.) ausgebaut wurde. Damit wird keineswegs behauptet, dass das moderne Drama ein Vorbild für das Märchenstück ist oder dass etwa Märchenstücke an einem solchen Maßstab gemessen werden müssen. Vielmehr geht es darum, anhand des Protoyps modernes Drama die Tendenz und Möglichkeiten des Bühnenstücks als Satzung medialer Chancen, aber auch medialer Einschränkungen im Blick zu behalten. Das Bühnenstück findet gegenüber einem unmittelbaren Publikum statt, dessen Empfindungskraft umso effektiver in Einfühlung umgesetzt wird, je unmittelbarer die Handlung dargestellt und je weniger Verzerrungen in zeitlicher, räumlicher und gestalterischer Hinsicht im Angesicht der Zuschauerschaft vorgenommen werden. Im modernen Drama wurde an und für sich eine bestimmte Illusion, ja eine Konvention gefördert, die eng mit der humanistischen Erwartung einhergeht, Konflikte unter Menschen ließen sich in Sprache umsetzen. Ein Konflikt könne nämlich unter Individuen auf unübersehbar einheitliche Weise durchgenommen und in einen Abschluss zugespitzt werden, zumal alles im abgesteckten Zwischenraum unter den beteiligten Menschen sowie unter strenger Verwendung von Sprache darstellbar wird. Offensichtlich bietet kaum ein Stück des modernen Dramas ein absolut treues Porträt menschlicher Handlungen. Kein Stück des modernen Dramas kann in seinen Einzelheiten mit der geschichtlichen Wirklichkeit übereinstimmen. Aber die Gattung an sich nimmt die medialen Chancen der Einfühlung durchweg wahr, die die Aufführung in sich birgt. Insofern kann das moderne Drama als Bezugspunkt einer ernst zu nehmenden und erfolgreichen Tendenz auf der Bühne verstanden werden. Das moderne Drama stellt in unserer Arbeit einen medialen Bezugspunkt und kein ästhetisches oder poetisches Vorbild dar. Wenn auch in unaufhörlicher Verwandlung, so ist diese historische Gattung bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Nordamerika und Europa maßgeblich gewesen (Arthur Miller, Theoretischer Rahmen 68 Jean Paul Sartre, Harold Pinter usw.). Weder das Gewicht der alten griechischen Tragödie, noch die histories des Shakespeare, noch das Krisentheater des 20. Jahrhunderts (Absurdes Theater, Samuel Beckett, Thomas Bernhard) haben die vorteilhafte Dialektik des modernen Dramas endgültig in Frage gestellt. Man kann sogar behaupten, dass in der Abwechslung mit entgegengesetzten Gattungen das moderne Drama eine eigene Bekräftigung erfahren hat. Die interne Dialektik des modernen Dramas übernimmt vielmehr schlüsselhafte Anforderungen der klassischen Poetik bezüglich Bühnentexte, wie z.B. den Anspruch auf Einheitlichkeit, die Einhaltung der Wahrscheinlichkeit und die Rolle der Einfühlung. Sofern das moderne Drama also einen wiederkehrenden Prototyp der modernen Theaterkunst im westeuropäischen Kulturkreis vertritt, stellt es einen Bezugsrahmen für jeden Versuch bereit, umittelbar vor Zuschauern mit Hilfe von Schauspielern eine Handlung darstellen zu wollen. So wie bei jeder anderen angewandten Form der Theaterkunst (Vaudevil, Schwank), die weniger auf Experiment und mehr auf Wahrnehmung bewährter Fußstapfen aus ist, wird auch bei Märchenbearbeitungen für ein Kinderpublikum von der Anwendung von Schablonen ausgegangen. Gleichzeitig ist es nicht verwunderlich, dass jede solche Schablone sich nach den dialektischen Vorzügen des Dramas bzw. des modernen Dramas ausrichtet, daher im 18. und 19. Jahrhundert wiederholt verwendet wurde und deren Meisterwerk im deutschsprachigen Raum Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) ist. Märchenstücke weisen zwar einen unübersehbaren Abstand zum kanonischen Drama auf, so wie wir es in Goethes Iphigenie verkörpert antreffen. Dennoch weisen sie ebenso gut gemeinsame Merkmale nach, sobald sie eine aufführbare Vorlage darstellen, deren Handlung und Figuren die mediale Grundlage mit dem modernen Drama als kulturgeschichtliche Gipfelleistung teilen. Im Rahmen der westlichen Kultur der Neuzeit sowie insbesondere des deutschsprachigen Kulturkreises hat sich eine Begrifflichkeit um die Gattung Drama herausgebildet, die es uns erlaubt, uns dieser Vorstellung als prototypischen Bezugspunktes zu bedienen. Insofern stellen die Leistungen von Aristoteles (1994), Freytag (1969 [1922])59, Szondi (1963), Klotz (1978), Pfister (1997), Platz-Waury (1999 [1977]), Asmuth (1984 [1980]), Andreotti (1996), Melchinger (1956) sowie Salvat (1981) neben weiteren Autoren wie Fischer-Lichte (1983; 1990), Ubersfeld (1998 [1977]), Bobes (1997 [1987]), Pavis (1998), Balme (2003 [1999]), GarcÃa Barrientos (2007 [2001]) und Brincken & Englhart (2006) nützliche Richtlinien dar, die bei der Erarbeitung besagten prototypischen Bezugspunkts Hilfe geleistet haben. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit dem abgesteckten Märchenstück als „Weihnachtsmärchen“, wie sie vor allem bei Tornau (1958), Schedler (1972) und Jahnke (1977) vorliegt. Wie dargelegt wird, haben die Erwartungen an und die Vorstellungen von der Debatte um die Bühnenbearbeitung 59 Erstmals 1863 erschienen. Theoretischer Rahmen 69 von Märchen den Merkmalen des modernen Dramas und des Dramas im allgemeinen oft entsprochen. Was die Terminologie anbelangt, geht die Berufung auf das moderne Drama als den medialen Bezugspunkt der europäischen Moderne mit praktischen Lösungen einher, indem die attributiven Hinweise darauf nicht modern-dramatisch, sondern schlichtweg dramatisch lauten werden. In der Tat spielt am zeitgenössischen Horizont eine Alternative im Sinne des antiken Dramas keine Rolle, weder als alte Tragödie noch als alte Komödie. Daher schließen wir uns Szondi (1963: 13) an, wenn er als Adjektiv für modernes Drama einfach „dramatisch“ wählt, sowie überhaupt für modernes Drama schlicht „Drama“ gesagt wird. Um die Prototypik des Ansatzes im Auge zu behalten, wird der Bezugspunkt gelegentlich durch das entsprechende substantivierte Adjektiv (Dramatisches) oder sein entsprechendes Derivat (Dramatik) bezeichnet. Ab und zu wird ebenso die Rede von Drama sein, aber in eben der gleichen Absicht: als prototypischer, ideell-geschichtlicher Gattungsbegriff, der zahlreiche Umformungen zulässt. Bei Märchen seinerseits ist von einer konkreten Ausprägung der historischen Gattung Märchen die Rede, nämlich derjenigen, die im neuzeitlichen Europa des 19. Jahrhunderts besonders im deutschsprachigen Raum eine eigene Tradition gestiftet hat. Schon weil der Ausgangspunkt der Bühnenbearbeitungen kein rein poetologischer, sondern vielmehr eine breite Vielfalt solcher bearbeiteter Textvorlagen ist, erübrigt sich eine Stellungnahme zu allgemeinen Gestaltungsprinzipien der epischen Kunst. Damit ist bei uns die volkstümliche Variante des Märchens gemeint, so wie sie für die deutschsprachige Literatur durch Jacob Grimm (1785-1863) und seinen Bruder Wilhelm Grimm (1786-1859) festgehalten wurde, und zwar in der von ihnen herausgegebenen Anthologie Kinder- und Hausmärchen (Erstdruck 1812; zweiter Band 1814, Druckangabe 1815. Die letzte Ausgabe der Sammlung erschien 1857).60 Von unserem Standpunkt aus wird insofern sowohl von Märchen als auch von Grimms Märchen synonymisch die Rede sein. Die Einschränkung auf die Grimmschen Märchen ist auf den tatsächlichen Einbezug von zahlreichen Märchen aus der Grimmschen Sammlung in die historische Gattung Märchenstück zurückzuführen. In ihrer Historizität würden sich Grimms Märchen als eine der historischen Ausprägung des Dramas in der europäischen Moderne besonders zuvorkommende Variante erweisen. Literaturgeschichtlich anders als bei Märchentraditionen aus anderen Kulturkreisen werden die Konflikte in der Grimmschen Sammlung vorwiegend durch Menschen und personifizierte Figuren, eher als durch Tiere oder durch Wunderwesen getragen. Eine solche 60 Zitiert wird nach folgender Ausgabe: Brüder Grimm. Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher nicht in allen Auflagen veröffentlicher Märchen. Hrsg. v. Heinz Rölleke. Stuttgart: Reclam, 21997 [1980]. Im Folgenden wird diese Quelle als KHM abgekürzt. Auch die Zählung der Märchen ergibt sich durch die Abkürzung KHM plus die entsprechende Nummerierung. Theoretischer Rahmen 70 Anthropologisierung der Protagonisten eines sich auf unterschiedliche Kulturkreise erstreckenden erzählerischen Gutes zeugt von einer Funktionalisierung des anonymen Kulturgutes, die der von den Gelehrten selbst beteuerten Akkuratheit Lügen straft. In der Diskussion um das Editionsvefahren der Brüder Grimm ist deutlich auf solche Mängel an Akkuratheit bei der Gewährleistung der Quellenechtheit hingewiesen worden: „Wir wissen heute, dass diese von den Brüdern Grimm immer wieder betonte Haltung zur Volksüberlieferung eine Fiktion ist“ (Uther 1990: 281), was für die Nachwelt wiederum sicherlich eine unerwartete Abwendung von den Verfahrensweisen der bewährten Philologen und Mitbegründer der historischen Philologie bedeutet. Viel wahrscheinlicher lassen sich die motivischen Besonderheiten der Grimmschen Fassung sowie deren umstrittenes Dokumentierungsverfahren dadurch erklären, dass hierbei diejenigen Merkmale vorgezogen wurden, die dem gesellschaftlichen Wunschbild eines freiheitlichen, aufgeklärten Bürgertums im 19. Jahrhundert entsprechen (Rölleke 2004: 27ff.). Es ging offensichtlich nicht nur um die Legitimation der deutschen Nation aus den Quellen der Vergangenheit, sondern ebenso um die Förderung eines tätigen, gefühlsvollen Menschenbildes (Uther 2008: 512-517). Die Annäherung an eine solche Idealfigur der neuzeitlichen Gesellschaft bedeutete auch im Bereich der Kinderliteratur einen Gegensatz zur Standeszugehörigkeit des alten Regimes. Bei aller Grausamkeit, ja Skurrilität mancher Märchen fanden doch die Bühnenbearbeiter der KHM der Nachfolgezeit darin einen dem modernen Drama entprechenden gemeinsamen Nenner, sofern die Figuren der Grimmschen Märchen hauptsächlich Menschen sind. Angesichts der Schwierigkeit, die Bezeichnung „Volksmärchen“ durch naheliegendere wie „Buchmärchen“ zu ersetzen, wird hier in Bezug auf Ãœberlieferung sowie vermeintliche Echtheit dem Beispiel von Bluhm und Neuhaus gefolgt (Neuhaus 2005: 4) und der Begriff „Volksmärchen“ erst unter Hinweis auf seine Bedingtheit, also auf die historischen Grimms Märchen, benutzt. Zur Annäherung an den Begriff „Märchen“ sowie zur Bestimmung gattungsmäßiger Merkmale des Märchens, die im Laufe der Verwandlung in ein Bühnenstück geformt werden, wird auf grundlegende Literatur zurückgegriffen. Hierzu kommen phänomenologische Annäherungen wie Formalismus (Propp 1975) und Strukturalismus (Lüthi 2005; 1977 [1962]; 1990a [1962]; 1990b [1975]) hauptsächlich in Frage. Zu entstehungs- und gattungsgeschichtlichen Fragestellungen zum Märchen, insbesondere zu den KHM findet der Forscher im Bereich der Grimmphilologie eine ergiebige Hilfe. Vor allem die Ansätze von Rölleke (2004; 1998) und Uther (2008) bieten uns die ausführlichsten und grundlegendsten Darstellungen. Daneben ist im Zusammenhang mit der literaturhistorischen Forschung noch Grätz (1988) von Bedeutung. Theoretischer Rahmen 71 2.1 Grundlegende Merkmale von Märchen und Drama Die Umformung eines Märchens in einen Bühnentext legt bedeutende Widersprüche bloß. Sie sind durch die Abweichungen, ja Gegensätze zwischen der epischen Vorlage und den Erfordernissen eines Bühnentextes bedingt. Sie stellen Bühnenbearbeiter vor erhebliche Herausforderungen. Um das Ausmaß der Herausforderung auszuloten, wird in den nächsten beiden Abschnitten eine Gegenüberstellung zwischen grundlegenden Gestaltungselementen der geschichtlichen Gattung Märchen und einer im Sinne eines medialen Bezugspunktes prototypisch aufgefassten Gattung Drama vorgenommen. Ãœber die individuell schöpferische Leistung hinaus geht mit einer jeden Bearbeitung von Märchen für die Bühne ein vielfältiges Umschalten formeller Konventionen aus entgegengesetzten Gattungssystemen einher, die im Laufe der Jahrhunderte ausgeformt wurden. Auf der Bühne trifft das Bemühen von Märchenbearbeitern insofern nicht nur auf neue bühnengerechte Darbietungsverfahren, sondern auch auf beträchtliche gattungsmäßige Maßnahmen. Es geht nicht nur um das Umschreiben der Vorlage für mehrere Darsteller oder um ein umfassendes Wahrnehmen der Aufführung durch ein Publikum. Jeder Eingriff bedeutet einen Schritt Weg vom Original sowie einen Schritt hin in unterschiedliche, eventuell dem Original entgegengesetzte Wege. Denn mit jedem Eingriff werden Zusammenhänge aufgerufen, die zu verschiedenen Gattungstraditionen gehören. Genauso wie bei Musik, Malerei oder Lyrik hat sich im Laufe der Geschichte im Bereich der Bühnenkunst ein reiches Netzwerk von Gestaltungsverfahren herauskristallisiert. Daher scheint die Frage berechtigt: Ist eine Bühnenbearbeitung doch ein Wechsel von Gattung, dann was erwartet ein ehemaliges Märchen überhaupt auf der Bühne? Im Voraus lässt sich annehmen, dass ein komplexes Netz von Zusammenhängen vorzufinden ist. Zum einen bietet sich das Drama bzw. das moderne Drama als ein abgesteckter Bezugspunkt mit deutlichen Formen und Konventionen. Zum anderen aber bietet die Geschichte der Bühnenkunst eine große Vielfalt weiterer formeller Lösungen, an denen wiederum kulturelle und ideologische Merkmale abgelesen werden können. Es handelt sich um Handhabungsverfahren der Bühne, die z.T. aus einer früheren Zeit stammen, jedoch meistens formelle Alternativen bzw. Fortführungen zur prototypischen Gattung darstellen. Dazu zählen in der westlichen Kulturlandschaft besonders Shakespeares Historien sowie ihre Nachfolger. Bei einer näheren Betrachtung von Gattungsmerkmalen bei Drama und Märchen scheint uns angemessen, für unsere Auseinandersetzung drei Auswertungsbereiche zu identifizieren. Erstens geht es um eine Einordnung der formellen Merkmale im jeweiligen Konventionsrahmen, denn Formen befinden sich in ganz unterschiedlichen, ja oft entgegengesetzten Rahmenverhältnissen. Das fängt bei den jeweils gewöhnlichen Formen an und mag sich bis in unterschiedliche Theoretischer Rahmen 72 Gebiete kulturgeschichtlicher Zugehörigkeit erstrecken. Ein Gespräch unter Figuren im Märchen bedarf z.B. eines offenkundigen Signalisierungszusatzes, währenddessen der Erzähler ausgeblendet werden muss. Im Drama ist es dagegen die natürlichste und offensichtlichste Darbietungsform. Genauso lehrt uns die Gattungskritik, inwiefern der Zusammenhang von Konventionen in jeder Gattung auch kulturgeschichtlichen Erwartungen bzw. Ansprüchen entsprechen kann. Insofern gleicht eine unbedachte Ãœbernahme einzelner Merkmale von einer Gattung in eine andere einer Täuschung. Zweitens soll uns das Wahrnehmen von gattungsmäßigen Merkmalen erlauben, die verschiedenen Eingriffe seitens der Märchenbearbeiter in den Griff zu bekommen, sodass man aus der Zersplitterung durch unzählige Lösungen gewisse Stränge gewinnen kann. Drittens läge es uns sehr daran, zu ermessen, inwiefern das Märchenstück als solches eine besondere Gattung mit eigenen Gattungsmerkmalen repräsentiert. Würden Märchenstücke eine historische Gattung bzw. Untergattung für sich bilden? Abgesehen vom Notieren jedes nur möglichen individuellen künstlerischen Einfalls, kommt es uns darauf an zu überprüfen, ob an der Abwandlung in der Gattung Märchenstück eine interne Kohärenz abgelesen werden kann oder aber allein einem glücklichen Zufall zuzuschreiben ist. 2.1.1 Grundlagen des Dramas Unter medialem Bezugspunkt für die Bühnenkunst ist keine universelle, außerhalb der Dramengeschichte stehende Gattungsform gemeint. Die Rede ist dabei vielmehr vom Prototyp der im neuzeitlichen Europa herausgearbeiteten Formen zur Aufführung einer Handlung vor einer Zuschauerschaft unter Beteiligung von Schauspielern. Trotz aller augenscheinlichen Ãœbereinstimmung bleiben somit sowohl literarische Varianten wie die alte Tragödie und Shakespeares Historien als auch weitere Untergattungen, wie z.B. Kirchenspiele oder Straßenprozessionen, außerhalb unserer Betrachtung, wenn auch wichtige Merkmale früherer Gattungen im modernen Drama übernommen worden sind. Wir richten uns hauptsächlich nach den um das moderne Drama aufgebauten Konventionen und zwar indem wir uns an die Interpretation anlehnen, die von Peter Szondi (1963) in der Nachfolge der historischen Ästhetik Hegels und der Frankfurter Schule ausgebaut wurde. Als eigentümlichen Beitrag dieser epochal zwischen Renaissance und Naturalismus zu verortenden Gattung betrachtet Szondi deren Aufbau rund um eine zivilisierte, sprachlich zu gestaltende Bewältigung zwischenmenschlicher Konflikte. Das moderne Drama taugt zugleich als Treffpunkt früherer Traditionen und als Bezugspunkt späterer Bestrebungen. Die berühmten drei Einheiten aus der aristotelischen Bestimmung der Tragödie stellen somit im modernen Drama eine ausgeprägte Bestrebung dar. Nichtsdestominder bietet aber die Konvention des modernen Dramas den geeigneten Rahmen zur Erprobung von „Lösungsversuchen“ (Szondi Theoretischer Rahmen 73 1963). Dies reicht von der pièce bien faite (dazu Salvat 1966: 259) und der politischen Revue über die Existenzdramatik bis hin zur Stationendramatik des Expressionismus (Szondi 1963: 109ff., 95ff. u. 105ff.). Am modernen Drama als bedeutender geschichtlicher Gattung werden unsererseits die Bezugspunkte abgelesen, zu denen entweder aus der Nähe oder aus der Ferne jede Bühnenbearbeitung eines Märchens Stellung nehmen muss. Ebenso sehr bieten die Leistungen der kritischen Philologie bei Peter Szondi eine nachvollziehbare Grundlage zur Ãœberprüfung eventueller gattungsmäßiger Merkmale eigener Art bei den hybriden Märchenstücken dar. Jenseits aller Vorurteile gegenüber Hybridität und angewandter Kunst stellt sich nun die Frage nach dem künstlerischen Wert beim vielfältigen Phänomen Märchenstück. Dabei kommen nicht nur Szondis an Hegel angelehnte kritische Philologie zur Hilfe, sondern weitere Diskussionen zur Ästhetik, die einen Fortschritt bei der Bestimmung des Gattungsbegriffs geleistet haben. Zu den bedeutendsten gehören die beiden Versuche Friedrich Schlegels (1772- 1829), Gattungen auf Grund einer selbständigen Dialektik Subjekt-Objekt zu erklären.61 Jedoch zeichnet sich die Leistung der kritischen Philologie dadurch aus, dass eine plausible Verbindung zwischen Sozial- bzw. Kulturgeschichte und Gattungsgeschichte erzielt wird, was eine Weiterverwendung des Begriffs der Gattung überhaupt erst ermöglicht. Es erübrigt sich insofern eine erschöpfende Auseinandersetzung mit abstrakteren Diskussionsebenen im Sinne der klassischen Gattungsbestimmungen bei Friedrich Schlegel. Dies soll wiederum nicht heißen, dass so einprägsame Einblicke wie diejenigen aus der Frühromantik unbeachtet bleiben. Auf alle Fälle bietet der frühromantische Ãœberblick auf die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt ein hilfreiches Bild zur Darstellung tiefliegender Gegensätze zwischen verschiedenen Gattungen. 2.1.1.1 Das moderne Drama: Ästhetik einer neuzeitlichen Gattung Bekanntlich teilt die Epoche machende Studie Szondis (1963) verschiedene paradigmatische Stücke aus der Zeit zwischen 1890 und 1950 in drei verschiedene Gruppen ein, nämlich: 1) Krise des Dramas; 2) „Rettungsversuche“; und 3) „Lösungsversuche“. Mit der Dreiteilung wird die Rolle der Stücke in der Auflösungsperiode des modernen Dramas eingeschätzt, womit 61 Für Friedrich Schlegel verhalten sich Epik, Lyrik, Dramatik – ganz im Hegelschen Sinne – wie These, Antithese und Synthese: Die epische Dichtung ist das objektive Element der Poesie, die lyrische ist das subjektive Element, und die dramatische verbindet beide Dichtungsarten, die epische und die lyrische in sich (GarcÃa Berrio/Huerta Calvo 1995: 12; GarcÃa Berrio 1994: 582ff.). Die Begriffe des „Objektiven“ und des „Subjektiven“ werden auch von seinem Bruder August Wilhelm Schlegel (1767-1845) aufgegriffen, und zwar in seiner Kunstlehre-Vorlesung, die am Ende einen Abschnitt über die „Dichtarten“ enthält: „Das Epische, das rein objektive im menschlichen Geiste. Das Lyrische, das rein Subjektive. Das Dramatische, die Durchdringung von beyden“ (Schlegel 1968: 357). Theoretischer Rahmen 74 gleichzeitig die Beschaffenheit des modernen Dramas als herausragendes Moment der Bühnenkunst schrittweise auseinandergelegt wird. Anhand eines theoretischen Dreischritts bespricht Szondi also einzelne Bühnenwerke sowie verschiedene Stilrichtungen der modernen Bühnenliteratur und knüpft an Hegels Ästhetik und seine Bestimmung der Form-Inhalt-Dialektik an. In der Wissenschaft der Logik betont Hegel das „absolute Verhältnis des Inhalts und der Form, nämlich das Umschlagen derselben in einander, sodass der Inhalt nichts ist, als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts, als das Umschlagen des Inhalts in Form“ (Hegel 1955: 302). Das eben bedeutet nichts anderes, als dass es keinen Inhalt ohne Form geben kann, und zudem, dass Letztere dem Thematischen nicht äußerlich bleibt. Eine solche Konzeption führt zum Gedanken, dass das Drama eine in sich geschlossene, aber freie und in jedem Moment von neuem bestimmte Dialektik darstellt (Szondi 1963: 15). Eine solche Auffassung erlaubt es Szondi, eine historisch- formsemantische Analyse der dramatischen Gattung sowie der Veränderungen innerhalb der Gattung vorzunehmen, wie sie Hegel selbst bereits in seiner Ästhetik – z.B. im Hinblick auf den Ãœbergang vom Epos zum Roman (Hegel 1970: 330ff.) – vorweggenommen hat. Szondis Hauptinteresse liegt auf dem Widerspruch zwischen (aktuellem) Inhalt und (überlieferter) Form, also Stoffwahl und Drama, wie dieser Widerspruch als „Krise†(Szondi 1963: 20ff.) im modernen Drama zum Ausdruck kommt und welche „Lösungsversuche“ (Szondi 1963: 105ff.) dafür gefunden wurden. Das Drama Szondi betont, dass man es beim modernen Drama mit einer historisch abgesteckten Erscheinung zu tun hat: „wie es im elisabethanischen England, vor allem aber im Frankreich des siebzehnten Jahrhunderts entstand und in der deutschen Klassik weiterlebte“ (Szondi 1963: 12). Die dramatische Form sei nicht von übergeschichtlicher Herkunft und Gültigkeit, sondern in der Renaissance, also in der Zeit entstanden, in der sich das Weltbild der Subjektivität durchsetzte und insofern Ausdruck des Wagnisses eines nach dem Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes zu sich gekommenen Menschen war (Szondi 1963: 14). Einhergehend mit dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt sei der Mensch seit der Renaissance nur als „Mitmensch“ in das Drama eingegangen. Insofern habe ihm die Sphäre des „Zwischen“, also die intersubjektive Sphäre, die wesentliche seines Daseins geschienen, und die wichtigsten Bestimmungen waren „Freiheit und Bindung“ sowie „Wille und Entscheidung“ (Szondi 1963: 14). Im Drama der Neuzeit trete insofern der Mensch als handlungs- und verantwortungsmächtiges Individuum mittels eines Entschlusses zur Tat in Erscheinung: Der Ort der „dramatische[n] Verwirklichung“ ist der Akt des „Sich-Entschließens“. Während die „Mitwelt“ dergestalt auf ihn bezogen wird, bekommt sie eine dramatische Funktion (Szondi Theoretischer Rahmen 75 1963: 14). Dabei wird eine der Bühne gerechte und den übrigen Grundgattungen Lyrik und Epos erhellende Differenzierung geleistet: Die Konzentrierung auf das „Zwischen“ schließe sowohl die innere als auch die äußere Welt aus, wobei zugleich die Abgerundetheit der dramatischen Gattung besser gewährleistet wird. Das Drama stellt eine geschlossene Welt für sich dar. In diesem Sinne auch Hegel (1970): [...] von allem aber, was vor sich geht, muss es [das Drama] die Äußerlichkeit abstreifen und an deren Stelle als Grund und Wirksamkeit das selbstbewusste und tätige Individuum setzen. Denn das Drama zerfällt nicht in ein lyrisches Inneres, dem Äußeren gegenüber, sondern stellt ein Inneres und dessen äußere Realisierung dar. Dadurch erscheint dann das Geschehen nicht hervorgehend aus den äußeren Umständen, sondern aus dem inneren Wollen und Charakter und erhält dramatische Bedeutung nur durch den Bezug auf die subjektiven Zwecke und Leidenschaften. Ebensosehr jedoch bleibt das Individuum nicht nur in seiner abgeschlossenen Selbständigkeit stehen, sondern findet sich durch die Art der Umstände, unter denen es seinen Charakter und Zweck zum Inhalte seines Wollens nimmt, sowie durch die Natur dieses individuellen Zweckes in Gegensatz und Kampf gegen andere gebracht.62 Der liberal-humanistische Anspruch auf die Selbstrealisierung des Menschen im und durch das Individuum sowie das Vertrauen in die Wirkungsmacht individuellen Handelns werden damit zu zentralen Themen des klassischen Dramas. Positive Muster dazu sind die Werke Corneilles und Racines sowie die Dramen aus der Weimarer Klassik. Absolutheit als formeller Anspruch Kennzeichnend für das klassische Drama der Moderne ist nach Szondi, dass es „absolut“ ist. Das Drama „kennt nichts außer sich“ (Szondi 1963: 15). Daraus ergeben sich mehrere Merkmale bezüglich Autor, Zuschauer, Bühne, Schauspieler und Handlung: • Im Drama tritt der Autor selbst nicht in Erscheinung: „Der Dramatiker ist im Drama abwesend“ (Szondi 1963: 15). Insofern findet der Ausdruck des Autors nur indirekt über seine Figuren statt. • Der Zuschauer ist auch nicht in die Struktur des Dramas einbezogen, d.h. er sieht sich unmittelbar mit den dargestellten Figuren konfrontiert. Der Zuschauer „wohnt lediglich der dramatischen Aussprache bei“ (Szondi 1963: 15). Seine Anwesenheit kann insofern im Drama nur durch wiederum absolute Identifizierung mit den Figuren erfolgen (Szondi 1963: 16). 62 Hegel auf http://www.textlog.de/5856.html (abgerufen am 7. Oktober 2015). Theoretischer Rahmen 76 • Die Guckkastenbühne erscheint als die richtige architektonische Form. Denn sie hat keinen Ãœbergang zum Zuschauerraum, hebt sich ab, wird erst bei Beginn des Spiels sichtbar, also existent, und entzieht sich mit Aktschluss dem Blick des Zuschauers (Szondi 1963: 16). Sie ist gut dafür geeignet, die Illusionierung des Zuschauers zu fördern. Denn sie ist mit Bühnenbild, Kostümen, Requisiten, dem Schauspielstil und der Sprache auf eine möglichst getreue Nachahmung der Wirklichkeit ausgerichtet (Pfister 1997: 44). Dadurch erhält der Zuschauer den Eindruck, einem der Realität entnommenen Schauspiel beizuwohnen; er vergisst sozusagen, im Theater zu sein (Szondi 1963: 15). • Der Bezug des Schauspielers zur Rolle bleibt aus. Vielmehr vereinen sich „Schauspieler und Dramengestalt zum dramatischen Menschen“ (Szondi 1963: 16). • Indem die Handlung im Drama nur sich selbst meint (Szondi 1963: 16), gestattet das Drama weder Variation noch Zitat. Denn zum einen würden sie sich auf etwas dem Drama Äußerliches beziehen. Und zum anderen würde dies die Anwesenheit einer dem Drama fremden, übergeordneten Erzählinstanz voraussetzen (Szondi 1963: 17). Da szenische Darstellungen aus der Ursprünglichkeit des Dramas resultieren, ist dies ein Grund, „warum historisches Spiel allemal ›undramatisch‹ ausfällt“ (Szondi 1963: 17). Auch Pfister verweist auf das absolute Verhältnis Drama-Dramatiker / Drama-Zuschauer. Allerdings setzt er dieses in Beziehung zum Begriff der „vierten Wand“:63 „Das Fehlen des vermittelnden Kommunikationssystems, [...], bedingt die ‚Absolutheit‘ des dramatischen Textes gegenüber Autor und Publikum, wie sie in der realistischen Konvention der ‚vierten Wand‘ ihre konsequenteste Bühnenrealisierung gefunden hat“ (Pfister 1997: 22). Dabei ist allerdings nach Pfister mit Einwendungen zu rechnen. Zu Recht verweist er auf die fiktive und nur punktuelle Gültigkeit der Absolutheit des Dramas, von der Szondi spricht (Pfister 1997: 22). Die fiktive Vorherrschaft verhindert nämlich nicht, dass das Drama als solches zum Dramatiker als Schöpfer bzw. „Werkproduzent“ (Pfister 1997: 20) gehört. Andererseits darf man auch nicht vergessen, dass der Dramentext für den Zuschauer geschrieben wird und die Aufführung für das Publikum ist, d.h. indirekt richtet sich die Kommunikation auf der Bühne natürlich an ein Publikum. Erst bei der Rezeption des Textes, sowohl der literarischen als auch 63 Der Terminus der „vierten Wand“ selbst wurde im 18. Jahrhundert durch Diderot eingeführt und bezeichnet die zum Publikum hin offene Seite einer Bühne, die innerhalb der Bühnenhandlung als Wand verstanden wird. Das Bühnengeschehen wird somit in einem abgeschlossenen Raum dargestellt, denn die Figuren durchschreiten diese imaginäre Wand nicht und interagieren auch nicht mit dem Publikum. Für das naturalistische Theater gegen Ende des 19. Jhs. wurde das Paradigma der „vierten Wand“ prägend (dazu Pfister 1997: 44; auch Fischer-Lichte 2005: 262f.). Theoretischer Rahmen 77 der theatralischen, wird nach Konvention die Fiktion aufgestellt, dass dramatisches Sprechen weder Sprechen des Dramatikers noch Anrede des Publikums ist (Spang 1991: 28). Und schließlich: Die Absolutheit des Dramas kann punktuell durchbrochen werden, z.B. durch dramaturgische Konventionen wie Beiseitesprechen, Monolog ad spectatores und chorische Kommentierung, und somit „verfremdend in seiner Fiktionalität bewusst gemacht werden“ (Pfister 1997: 22). Die Grundsätze des Dramas: Gegenwart, Dialog, Handlung und Figuren Durch Szondis kritische Philologie lässt sich Drama dadurch definieren, dass es eine in sich abgeschlossene Handlung durch Dialoge darzustellen anstrebt. Diese Handlung wird durch die daran beteiligten Personen unmittelbar und gegenwärtig auf der Bühne präsentiert (Schweikle 1990: 108f.; auch Wilpert 1979: 189f.). Besagte Definition stimmt in hohem Maße mit Szondis idealtypischer Auffassung des klassischen neuzeitlichen Dramas überein, wobei hier die Gegenwärtigkeit des Dramas, das Zwischenmenschliche (bzw. Dialogische) und die dramatische Handlung als grundlegende Kategorien herausgestellt werden. So ließe sich nach Szondi das Drama als „die Dichtungsform des je gegenwärtigen (1) zwischenmenschlichen (2) Geschehens (3)“ definieren. Diese drei Grundeigenschaften der dramatischen Gattung seien für klassisches Drama bzw. „dramatisches“ Drama „absolut“ (Szondi 1963: 75f.).64 a) Forderung nach Gegenwart Seit dem 18. Jahrhundert betont die Gattungspoetik die Gegenwärtigkeit der Dramenhandlung (bzw. des Bühnengeschehens) als oberstes Prinzip der zeitlichen Darstellung im Drama. Hieraus ergibt sich die Vorstellung, dass die Ereignisse der dramatischen Handlung sukzessive aufeinander folgen und in der Ausrichtung auf den Ausgang ihren zentralen Bezugspunkt finden. Idealtypisch ausgeprägt findet sich dies im Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe.65 Dabei werden die Unterschiede zwischen Epik und Dramatik an den Beispielfiguren des Homerischen Rhapsoden als dem Prototyp des epischen Erzählers und des tragischen Mimen als dem Prototyp dramatischer Repräsentation erläutert: Während der Rhapsode seine Gegenstände als vollständig vergangen erzähle, suche der Mime bzw. der Dramatiker die von ihm erzählten Ereignisse als vollkommen gegenwärtig zu darstellen (Schiller 1965: 791f.). Auch Hegel (1970: 274) unterstreicht, das Drama geschehe „in unmittelbarer Gegenwärtigkeit“ seiner Handlung. 64 Pfister (1997: 90ff.) greift diese Charakterisierung auf und verwendet für das figurenperspektivische, also „dramatische“ Drama den Begriff des „absoluten Dramas“. 65 Vgl. den gemeinsamen Artikel „Über epische und dramatische Dichtung“ (entstanden 1797, gedruckt 1827) bei Schiller (1965: 790ff.). Theoretischer Rahmen 78 Szondi bezeichnet dies als ein Merkmal des Dramas. Die fiktive Zeit des Dramas sei in der Tat jeweils die Gegenwart bzw. der „Zeitablauf des Dramas […] eine absolute Gegenwartsfolge“ (Szondi 1963: 17). Angeschaut werden weder Zersplitterung noch Einblenden aus der Vergangenheit. Um nachvollziehbar zu werden, muss eine einzige Gegenwart herrschen. Jeder Moment führt somit zum nächsten. Es herrscht eine angespannte Zielstrebigkeit ebenso wie eine Zukunftsträchtigkeit der Handlung. Vergangenheit kennt das Drama nur als vergangene Gegenwart, die als solche nicht mehr aktuell ist (Szondi 1963: 17). Dadurch wird ebenfalls die implizite Anwesenheit eines Monteurs oder einer vermittelnden Erzählfigur verhindert (Szondi 1963: 18). Jedes Ausbrechen aus der dramatischen Absolutheit des Hier und Jetzt würde vielmehr eine epische Dimension eröffnen. Die Absolutheit der dramatischen Gegenwart im klassischen Drama trägt beim Zuschauer dagegen zur Aufrechterhaltung der Einfühlung in die Bühnenbegebenheiten bei. Einfühlung ist und bleibt eine der Schlüsselkategorien des klassischen Dramas. Die Unmittelbarkeit der Darstellung sowie das Fehlen einer Vermittlungsinstanz im Drama wurde von Aristoteles in seiner Poetik reflektiert und mit dem Begriff „Mimesis“ bezeichnet. Mimesis meint in der Tragödie „die Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht“ (Aristoteles 1994: 19), sodass im Drama, im Gegensatz zum Epos, das „aus Bericht besteht“ (Aristoteles 1994: 17), die Geschichte in Form von direkter Rede dargebracht und währenddessen gehandelt wird. b) Fortbestehen im Dialog Schon bei Aristoteles galt der Dialog als Wechselrede zwischen Figuren als ein im Drama konstituierendes Element (Aristoteles 1994: 21).66 Aber die Auffassung, der Dialog der Figuren sei das Wichtigste im Drama, wurde erst mit der Frühromantik (A.W. Schlegel),67 dann vor allem durch Hegel, in den Mittelpunkt der Dramentheorie gestellt. So wird der Dialog bei Hegel nicht nur als die sprachliche Grundform des Dramas angesehen, sondern auch mit der Etablierung einer konfliktorientierten Handlungsebene in Bezug gesetzt: „Die vollständig dramatische Form [...]“, postuliert Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, „ist der Dialog. Denn in ihm allein können die handelnden Individuen ihren Charakter und Zweck [...] gegeneinander aussprechen, in Kampf geraten und damit die Handlung in wirklicher Bewegung 66 Daneben werden auch die Handlung, die Charaktere, die Erkenntnisfähigkeit (bzw. die Absicht), die Inszenierung und der Gesang als weitere formale Elemente des Dramas genannt (Aristoteles 1994: 21- 25). (Dazu Asmuth 1984: 3ff.; zum Begriff „Erkenntnisfähigkeit“ vgl. auch Aristoteles 1994: 110, Anm. 6). 67 Vgl. die Studie „Über den dramatischen Dialog“ (1796) bei Schlegel (1962: 107ff.). Theoretischer Rahmen 79 vorwärtsbringen“ (Hegel 1970: 498f.; Hervorhebungen im Original).68 Im Sinne Hegels gilt also, dass im dramatischen Dialog die Figuren sprachlich zueinander in Beziehung treten, Probleme verhandeln und verschiedene Perspektiven konfrontieren bzw. vermitteln. Dabei leistet aber auch das Dialogische das Vorantreiben von Handlung. Auch bei Szondi (1963: 14f.) wird dem Dialog als sprachlichem Mittel des Dramas eine „alleinherrschende“ Rolle zugewiesen (Szondi 1963: 15). Nur dieses Verfahren sei in der Lage, die zwischenmenschliche Wirklichkeit sprachlich zur Darstellung zu bringen: Der von Entschluss zu Entschluss führende Dialog treibe die Dramenhandlung als Zuspitzung und als Auflösung eines Konflikts zwischen Menschen vorwärts. Der Konflikt gipfelt in der Entscheidung der Hauptfigur zu einer Tat. Nach dem klassischen Dramenverständnis müssen alle Handlungsmotivationen der Figuren aus dem Dialog hervorgehen. „Der Dialog [ist] Träger des Dramas. Von der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab“, betont Szondi (1963: 19). Dabei geht es also im wesentlichen um das Reden zwecks Bewältigung von Konflikten, um das „Zwischen“ des Menschen und nicht zuletzt um das Loslassen von dunklen Hierarchien; insofern geht es um die humanistische Bejahung einer allen Menschen und nicht nur den Angehörigen höherer Stände zugänglichen Fähigkeit. Selbstverständlich finden sich Dialoge zwischen Figuren auch in lyrischen und narrativen Texten – bei letzteren durch einen Erzähler vermittelt, wenn auch durch mehr oder weniger ausführliche Redeeinleitungen.69 Aber hier wie dort kommt dem Dialog als „eine[m] fakultative[n] Gestaltungsmittel unter anderen“ (Pfister 1997: 24) keine solche Bedeutung zu wie im Drama. Damit vertritt Pfister (1997: 23f.) nicht nur Szondis Standpunkt, der Dialog sei das grundlegende Darstellungsmittel des Dramas (auch Wellek/Warren 1972: 249; Asmuth 1984: 9 u. Bobes 1997: 240ff.), sondern fragt außerdem danach, welche Aufgaben dieser im Drama hat. Pfister (1997: 151) spricht hier von einer „Polyfunktionalität“ des dramatischen Dialogs, da dieser gleichzeitig mehrere Funktionen erfüllen kann. Unter Anlehnung an Jakobsons Kommunikationsmodell unterscheidet Pfister dabei zwischen referentieller, expressiver und appellativer Funktion (Pfister 1997: 153-161):70 Dramatischer Dialog ist nicht nur ein reines Sprachgeschehen. Vielmehr gilt er als Instrument 68 Dazu auch: „Das eigentlich Dramatische endlich ist das Aussprechen der Individuen in dem Kampf ihrer Interessen und dem Zwiespalt ihrer Charaktere und Leidenschaften“ (Hegel 1970: 496). 69 Einen Grenzfall bildet hier der Briefroman, der ausschließlich oder doch überwiegend aus schriftlichen Äußerungen von einer Person in der 1. Person besteht. 70 Siehe auch die Funktionen bei Pfister, die jedoch bei uns nicht ausführlicher zur Erörterung kommen: die phatische, die metasprachliche und die poetische. Die phatische Funktion dient der Herstellung und Aufrechterhaltung des Partnerbezugs im Dialog (Pfister 1997: 161f.). Die metasprachliche Funktion bezieht sich auf die Thematisierung und Bewusstmachung der Sprache selbst als Objekt (z.B. der Redeweise einer Figur) und besteht oft in einer gestörten Kommunikation (Pfister 1997: 163ff.). Die Einstellung auf die Nachricht als solche und um ihrer selbst willen ist schließlich die poetische Funktion (Pfister 1997: 166f.). Theoretischer Rahmen 80 zur Erzeugung von Handlung, wirkt also situationsverändernd (Pfister 1997: 169). Als „aktionales Sprechen“ führt er sonst die Handlung weiter und lässt die Gegensätze, aus denen der dramatische Konflikt entsteht, zutage treten. Dem dramatischen Dialog kommt weiterhin die Funktion der Darstellung des Redegegenstands (Menschen, Dinge, Vorgänge) zu; diese referentielle Funktion herrscht in konventionellen Redeformen des Berichtens vor, so bei Expositionserzählung, Botenbericht und Teichoskopie (Mauerschau): „In narrativer Vermittlung werden hier Handlungs- und Geschehensabläufe rein sprachlich dargestellt, die aus ökonomischen Gründen nicht unmittelbar szenisch präsentiert werden können“ (Pfister 1997: 153).71 Des Weiteren dient der Dialog im Drama zur Figurenkonzeption. Weil sich die Figuren über ihre Rede selbst darstellen, hat der Dialog neben einer referentiellen auch eine expressive Funktion (Pfister 1997: 156ff.), da durch das Gesprochene (bzw. die so genannte „dramatische Replik“) eine von einer Erzählerstimme losgelöste Figurencharakterisierung geleistet werden kann (Pfister 1997: 177). Die appellative Funktion dient schließlich als Mittel für die Beeinflussung eines Dialogpartners und kommt deshalb vor allem in Ãœberredungs- und Umstimmungsdialogen zum Tragen.72 Für Pfister (1997: 158) zeigt sich der Handlungscharakter der dramatischen Rede gerade in der apellativen Funktion besonders deutlich. Eine Sonderrolle im Spektrum der Rede im Drama nimmt der Monolog ein. Pfister (1997: 23) weist darauf hin, dass die im Drama dargestellte dramatische Rede der Figuren nicht nur im Dialog, sondern auch im Monolog erfolgen kann (auch Bobes 1997: 188).73 Dialog und Monolog lassen sich nach Pfister im Hinblick auf die Situation des Sprechers auf der Bühne unterscheiden: Während der Dialog aus einer abwechselnd geführten Rede und Gegenrede von zwei oder mehreren Figuren besteht, verläuft die Kommunikation im Monolog nur in eine Richtung, d.h. sie richtet sich „an kein Gegenüber auf der Bühne“ (Pfister 1997: 180). Der Monolog ist also im Gegensatz zum Dialog ein „Selbstgespräch“. Mit dem Verfahren des Monologs verbinden sich oftmals ineinander übergehende Aufgaben, die im Drama sonst schwer zu Stande gebracht werden können. Es kann zunächst 71 Der Botenbericht z.B. erlaubt die Wiedergabe vergangener Ereignisse bzw. von Ereignissen, die in räumlicher und zeitlicher Entfernung zum Bühnengeschehen stehen. Ein bekanntes Beispiel der deutschen Klassik ist die Mitteilung des schwedischen Hauptmanns in Schillers Wallensteins Tod (1800), als er über Max Piccolominis Heldentod erzählt (4. Aufzug, 10. Auftritt, V. 3018-3072) (Pfister 1997: 153ff.). Die Teichoskopie bezieht sich hingegen auf Vorgänge, die sich im Augenblick der jeweiligen Bühnensituation abspielen, ohne dass sie von den Zuschauern wahrgenommen werden. Ein treffendes Beispiel dafür findet sich in Schillers Maria Stuart (5. Aufzug, 10. Auftritt): Dabei wird Marias Hinrichtung von Leicester durch eine Wand akustisch miterlebt (Pfister 1997: 278ff.). 72 So zum Beispiel im Dialog zwischen Emilia und ihrem Vater in Lessings Emilia Galotti (1771), als sie versucht, ihren Vater umzustimmen und zu bewegen, ihr den Dolch zu überlassen in der Absicht sich damit zu töten (5. Aufzug, 7. Szene). 73 Im deutschen klassischen Drama selbst, z.B. bei Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) sowie bei Schillers Räubern (1781) und Wallenstein-Trilogie (1799), wird die dialogische Figurenrede zum großen Teil durch die monologische ersetzt. (Zu Form und Funktion des Monologs im klassischen Drama siehe Matt 1976: 71ff.). Theoretischer Rahmen 81 zwischen mehreren Monologarten als informationsvermittelnden Kategorien differenziert werden: Der „epische Monolog“ (Wilpert 1979: 521) wird daher als Mittel der Exposition dazu verwendet, um den Zuschauer vor allem in die historische Zeit des Dramas einzuführen, sowie ihn von Vorgeschichte und Gefühlslage und Absichten der Handelnden (z.B. Offenlegung von Plänen) in Kenntnis zu setzen,74 wobei zugleich eine dramatisch spannende Funktion ausgeübt wird (Pütz 1977: 85f.). Insofern wird er in der Literaturwissenschaft auch „Expositionsmonolog“ genannt (Pfister 1997: 191). Daneben wird der „epische Monolog“ auch zur Mitteilung nicht darstellbarer oder bereits dargestellter Vorgänge eingesetzt.75 Zur Darstellung des Innen- und Gefühlslebens der Hauptfiguren wird der „lyrische Monolog“ (Wilpert 1979: 521) gebraucht. Der „Reflexionsmonolog“ (Wilpert 1979: 521) dagegen bietet den Figuren die Möglichkeit, das vergangene und das zukünftige Geschehen sowie die gegenwärtige Situation aus ihrer individuellen Perspektive zu bedenken. Damit übernimmt er die Funktion der vermittelnden Kommentierung des antiken Chors (Baumbach 1986: 349). Auf dem Höhepunkt der Verwicklungen wird schließlich der „Konfliktmonolog“ herangezogen. Er wird zumeist vom Helden gesprochen. In ihm wägt dieser das Für und Wider bestimmter Handlungsmöglichkeiten ab, er bedenkt auch Alternativen, verwirft sie wieder und kommt letztendlich zu einer Entscheidung. Diese Entscheidung führt entweder die Lösung des Konfliktes herbei oder bereitet die Katastrophe vor.76 Eine besondere Form der monologischen Figurenrede bildet das so genannte „Beiseitesprechen“ (Pfister 1997: 192ff.), wobei eine Figur ihre Gedanken für die Zuschauer hörbar äußert, es aber gegenüber den anderen Figuren durch Sprechen in eine andere Richtung verschweigt.77 74 So ermöglicht z.B. bei Schillers Räubern (1781) der erste Monolog von Franz Moor, die Hintergründe seines Handelns zu erfahren. Ein Beispiel aus dem Korpus stellt Das tapfere Schneiderlein (1995) in der Bearbeitung durch Alexander Gruber dar. In einem langen Monolog erzählt Schneider Florian Flix davon, dass er anstatt mit Drachen, Ungeheuern und Riesen nur mit Nadel, Faden und dem Mantel des vornehmen Herrn Olearius zu kämpfen hat (Gruber 1995: 1). 75 Ein geeignetes Beispiel aus unserem Korpus ist Kurt Bortfeldts Aschenputtel. Da tritt der Knappe Kugelrund-Kerngesund im ersten Zwischenspiel kurz auf und erzählt über das im Schloss stattgefundene Fest (Bortfeldt o.J.: 42). 76 Den genannten Funktionstypen entspricht in etwa das eher struktural orientierte Kategorisierungsschema von Pfister (1997: 190f.). Dabei unterscheidet der Autor zwischen aktionalen, d.h. situationsverändernden (Konfliktmonolog) und nicht-aktionalen Monologen. Letztere unterteilt er dann in informierende und kommentierende Monologe, die keine direkte Handlungsauswirkungen haben. Dazu gehören z.B. der informierende epische Monolog und der kommentierende Reflexionsmonolog. Die Stellung des lyrischen Monologs in Pfisters Schema bleibt offen. 77 Beispiele dafür sind in unserem Korpus bei Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel von C.A. Görner und Hans Zimmermann (1962 [1874]: 19) anzutreffen. Theoretischer Rahmen 82 Neben informationsvermittelnden Funktionen wird der Monolog zusätzlich verschiedenen strukturellen Bedürfnissen gerecht. Der „technische Monolog“ (Wilpert 1979: 521) wirkt daher strukturell handlungsgliedernd, und zwar in dreierlei Hinsicht: 1. Als „Brücken- oder Ãœbergangsmonolog“ (Pfister 1997: 186) wird er zur Verbindung verschiedener Auftritte bzw. zur Szenenverknüpfung eingesetzt. Dadurch verhindert man, dass die Bühne zu irgendeinem Zeitpunkt leer bleibt.78 2. Gleiches gilt für den als „Auftritts- und Abgangsmonolog“ (Pfister 1997: 186) bezeichneten Monologtyp, der zur Vorbereitung und oftmals kommentierenden Zusammenfassung von Handlungsentwicklungen gebraucht wird.79 3. Und als „Binnenmonolog“ (Pfister 1997: 186), der an jeder anderen Stelle des dramatischen Textes stehen kann, findet der technische Monolog oft zur retardatio, d.h. der Verzögerung in der Entwicklung der Handlungsabläufe Verwendung. Als technisches Mittel kann der Monolog auch die Zeit, sowohl die reale (z.B. für Umkleidungen oder Rollenwechsel) als auch die Handlungszeit,80 überbrücken helfen. Es ist festzuhalten, dass die hier vorgestellten Formen und Funktionen des Monologs in dramatischen Werken nur selten ihre ideale Ausprägung erhalten. Vielmehr begegnen wir stets Mischformen. (Weiteres zum Monolog bei Schauer/Wodtke 1961: 418ff.). Neben den Reinformen Dialog und Monolog kommt im Drama auch eine Mischung von beiden formalen Kategorien vor. So kann ein Dialog einen Monologcharakter bekommen, wenn der Redende nur noch äußerlich ein Gegenüber hat, aber eigentlich mit sich selbst verhandelt. Im gleichen Sinne kann auch ein Monolog dialogische Züge tragen, wenn ein Gegenüber vorhanden ist, an das sich der Redner wendet oder mit dem er sich auseinandersetzt. Diese beiden Sachverhalte werden jeweils als „Monologisierung des Dialogs“ (Pfister 1997: 182) und „Dialogisierung des Monologs“ (Pfister 1997: 184) bezeichnet. Bei Letzterer sind wiederum weitere Ausprägungen zu unterscheiden. Dazu gehören: 78 Das ist besonders bei Racines Phèdre (1677), aber auch bei Lessings Minna von Barnhelm (1767) und Emilia Galotti (1772) anzutreffen. Das o.g. Märchenspiel aus unserem Korpus bietet auch einige Beispiele dafür, so z.B. wird eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Bild durch den Monolog von dem Zauberlehrling Syfax vor dem Vorhang geschaffen (Görner/Zimmermann 1962 [1874]: 8). 79 Ein Beispiel dafür aus unserem Korpus ist Robert Bürkners Rumpelstilzchen (Nachdr. 2001). Da nimmt der „Märchenpostillon“ in langen Zwischenspielen den Kontakt mit den jungen Zuschauern auf und rekapituliert die Handlung der vorangehenden Szenen. 80 Auch als „reale Spielzeit“ und „fiktive gespielte Zeit“ bezeichnet. Unter der „realen Spielzeit“ verstehen wir mit Pfister (1997: 369) die Zeitdauer der Aufführung, nämlich den realen Zeitraum vom Beginn bis zum Ende der Aufführung, abzüglich der Pausen. Die „fiktive gespielte Zeit“ ist dagegen bereits im dramatischen Text mehr oder weniger präzise fixiert und braucht im inszenierten Text nur noch verdeutlicht und sinnfällig gemacht zu werden. Theoretischer Rahmen 83 1. die Apostrophe, d.h. Anrufungen abwesender Personen – z.B. an eine Gottheit – oder lebloser Dinge (Wilpert 1979: 9);81 2. der so genannte „innere Dialog“, d.h. das innerliche Sprechen mit sich selbst, wobei sich der Sprecher in zwei oder mehrere Subjekte aufspaltet (Pfister 1997: 184f.); 3. das ad spectadores, also die Wendung an das Publikum, wobei eine von einem Schauspieler dargestellte Figur die Zuschauer direkt anspricht (Wilpert 1979: 6).82 c) Erwartung einer einheitlichen Handlung Etymologisch gesehen leitet sich der Begriff „Drama“ vom griechisch-lateinischen drama ab und bedeutet soviel wie „Handlung“. Den Begriff führte Aristoteles in der Poetik erstmals theoretisch ein (Asmuth 2007: 7). Bei ihm heißt es, die Tragödie sei Nachahmung („Mimesis“) bzw. Darstellung menschlicher Handlungen (Aristoteles 1994: 7-9). Das ist freilich nicht nur auf das Drama beschränkt, auch die Epik gilt als nachahmende (mimetische) Gattung. Allerdings unterscheiden sich, wie weiter oben schon angedeutet, Epik und Dramatik hauptsächlich dadurch, dass in der ersten die Darstellung, also die Wiedergabe des Geschehens durch einen vermittelnden Erzähler erfolgt, während in der zweiten diese durch unmittelbare Schaustellung von Handelnden geschieht (Aristoteles 1994: 9). Folgt man dann tatsächlich Aristoteles’ Ausführungen, so gilt die bei ihm als mythos bezeichnete Handlung als wesentliches Element im Drama; vor allem den Charakteren gegenüber wird sie als übergeordnetes Prinzip gesehen: Es könnte ohne Handlung gar keine Tragödie entstehen, dagegen wohl ohne Charaktere (Aristoteles 1994: 21). In der Poetik betont Aristoteles wiederholt den Vorrang der Handlung vor den Charakteren; er nennt sie „Seele der Tragödie“ (Aristoteles 1994: 23), denn „die Tragödie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern von Handlung und von Lebenswirklichkeit“ (Aristoteles 1994: 23). Ganz im Sinne Aristoteles versteht auch Szondi die Handlung bzw. das Geschehen als wichtigstes Strukturelement des Dramas. Allerdings geht er in seiner Charakterisierung der klassischen neuzeitlichen Dramenform einen Schritt weiter, indem er dabei die Absolutheit der dramatischen Handlung an sich formuliert. Und zwar folgendermaßen: „Und das Geschehen ist im Drama absolut, weil es sowohl von der innerlichen Zuständlichkeit der Seele wie von der 81 Als Beispiel sei hier eine Stelle aus Hermann Wanderschecks Märchenstück Aschenputtel aus unserem Korpus angeführt: „Aschenputtel: Ach, liebe Mutter, warum bist du so früh von mir gegangen? Jetzt, wo sich der gute Vater eine neue Frau genommen hat, muss ich nur in der Asche sitzen. Die böse Stiefmutter und ihre beiden Töchter verspotten mich. Lieb Mütterlein, was fange ich nur an? Den ganzen Tag muss ich den Fußboden scheuern und Linsen aus der Asche lesen. [...] Der arme Vater ist nicht mehr der Herr im Haus und darf sich um nichts mehr kümmern. Hättest du mich doch nicht allein zurückgelassen! Ach, lieb Mütterlein, kannst du mich dort oben im Himmel hören? [...]“ (Wanderscheck o.J.: 4). 82 Als Beispiel sei auf das bereits erwähnte Märchenstück Das tapfere Schneiderlein (1995) in der Bearbeitung von Gruber hingewiesen (siehe Fußnote 74). Theoretischer Rahmen 84 äußerlichen der Objektivität abgehoben ist und in Alleinherrschaft die Dynamik des Werkes begründet“ (Szondi 1963: 76). Hier wird deutlich gemacht, dass die dramatische Handlung selbst Möglichkeiten wie Selbstreflexion (z.B. in Form eines inneren Monologs) für das klassische Drama genauso unzulässig macht wie politische, gesellschaftliche oder ähnliche Bezüge, die außerhalb des Bühnengeschehens anzusiedeln wären. Auch Pfister nennt die Handlung als wichtiges Element dramatischer Texte. Im Vergleich zu Szondi unterscheidet er jedoch prägnant zwischen „Handlung“, nämlich der „absichtsvolle[n] Wahl“ (Pfister 1997: 270) einer Bühnenfigur, und „Geschehen“, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass „zwar die Bedingungen für eine Geschichte, nicht aber die für eine Handlung erfüllt sind“ (Pfister 1997: 270). Ein Drama stellt dann Geschehen dar, wenn das menschliche Subjekt nicht mehr in der Lage ist, die Handlung zu beeinflussen, d.h. die Situationen können von den dramatischen Figuren nicht verändert werden, da diese nicht handlungsmächtig sind. Der Geschehensbegriff impliziert also bei Pfister Handlungslosigkeit, Statik und Passivität. Das ließe sich häufig in Dramen der Moderne ausgehend vom naturalistischen Drama bis hin zu Becketts absurdem Theater aufzeigen (dazu Pfister 1997: 270). Ein Wesensmerkmal der dramatischen Handlung ist der dramatische Konflikt, der aus dem Aufeinandertreffen gegensätzlicher Kräfte, Werte oder Willensrichtungen entsteht, sich entwickelt und „zu einer eindeutigen und endgültigen Lösung geführt wird“ (Pfister 1997: 320). Schon Aristoteles‘ Bestimmung der Handlung als Knüpfung und Lösung eines Knotens wies in diese Richtung (Aristoteles 1994: 57). Dass die dramatische Handlung der Entfaltung eines Konflikts zwischen Individuen – häufig zwischen Protagonist und Antagonist – dient, ist seit der Klassik eine selbstverständliche Voraussetzung im Verständnis des modernen Dramas. So sprach schon Hegel (1970) von „dramatischer Kollision“,83 also einem „Widerspruch entgegenstehender Gesinnungen, Zwecke und Tätigkeiten“ als Angelpunkt des Bühnengeschehens: „Die dramatische Handlung“, so Hegel aufschlussreich, beruhe „wesentlich auf einem kollidierenden Handeln“.84 In seiner Bestimmung des klassischen Dramas erweitert Szondi (1963: 14) dann die Kategorie des Konflikts gegenüber Hegel, indem er individuelle Konflikte und den individuellen Helden, der zwischen gleichwertigen Forderungen zu entscheiden hat, zur Konfliktgestaltung im Drama hinzurechnet. Nach Asmuth lassen sich im Drama in der Regel zwei Arten von Konflikten ausmachen: äußere und innere Konflikte. Bei äußeren Konflikten ringen zwei (oder mehrere) Parteien, die des Protagonisten und die des Antagonisten, um Macht, Besitz, die Gunst eines Menschen oder Ähnliches (Asmuth 1984: 143). Dabei spielen nach außen in Erscheinung tretende Konflikte im 83 Die von Hegel eingeführte Kategorie der „Kollision“ hat sich allerdings als Begriff in der Dramentheorie kaum durchgesetzt. Ãœberwiegend wird zusammenfassend der Begriff „Konflikt“ verwendet. 84 Hegel auf http://www.textlog.de/5855.html (abgerufen am 7. Oktober 2015). Theoretischer Rahmen 85 Drama eher eine Nebenrolle, denn sie verweisen schnell auf äußere Umstände, die die Absolutheitsforderung der dramatischen Form im Sinne von Szondi infrage stellen würden: Sie würden die Einheit der Handlung sprengen und somit auch die Chancen einer Einfühlung des Zuschauers. Ferner bedürfen äußere Umstände einer allwissenden Gestalt bzw. Erzählerinstanz, die ebenso die Einheit der Handlung sprengen würde. Neben der Darstellung äußerer Konflikte wird der damit verbundene innere bzw. seelische Konflikt aufeinanderstoßender Ansprüche daher zum zentralen Thema eines Dramas, wenn sich eine Figur zwischen entgegengesetzten Wünschen, Forderungen oder Erwartungen entscheiden muss. Der innere Konflikt leistet im Drama einen Beitrag dazu, ein zwischen politisch-öffentlichen und privaten Interessen (Pflicht und Neigung), zwischen moralischen und individuellen Bedürfnissen (Ehre und Liebe) zerrissenes Individuum herausragen zu lassen (Asmuth 1984: 144). Ãœberhaupt hilft der innere Konflikt, das Individuum als Subjekt in seiner Konfliktsituation hervorzuheben.85 Mehr als der äußere Konflikt ermöglicht der innere Konflikt es dem Zuschauer, sich mit den handelnden Figuren zu identifizieren und sich in deren „Wirklichkeit“ hineinzuversetzen (Asmuth 1984: 144). Das mimetische Prinzip, also die künstlerische Nachahmung der Wirklichkeit, wie sie Aristoteles fordert, soll den Anforderungen der Wahrscheinlichkeit genügen (Aristoteles 1994: 29). Mit Wahrscheinlichkeit ist nicht Wirklichkeitstreue oder Möglichkeit, sondern „innere Schlüssigkeit“ gemeint (Asmuth 1984: 149). Damit dies gelingen kann, muss die Handlung nach Aristoteles so geartet sein, dass sich die um einen Helden herum entwickelnde Handlung ohne jede Abschweifung und ohne Nebenschauplätze als eine geschlossene Einheit verstehen lässt. In dieser darf kein Element überflüssig sein. Jedes Element muss für die Handlung funktional zwingend notwendig sein. Insofern sieht Aristoteles die Einheit der Handlung dadurch gewährleistet, dass die einzelnen Handlungsteile so zusammengesetzt sind, „dass sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird“ (Aristoteles 1994: 29). Die Einheit der Handlung ist damit die Forderung nach Geschlossenheit und Konzentration der dramatischen Handlung. Das Ausbleiben von Zersplitterung erhöht wiederum umso mehr die Einfühlungschancen seitens des Zuschauers, denn er wird nicht dazu veranlasst sich vorzustellen, was im Ort A geschieht, wenn die Handlung auf Ort B verlegt wird. Das Bemühen um eine plausible Verknüpfung der einzelnen Handlungsteile geht mit der Ursächlichkeit der Handlungsfolge und der Zielbestimmtheit der dramatischen Handlung einher. Indem nach Aristoteles (1994: 25) die Mitte aus dem Anfang und das Ende aus dem 85 Als Beispiel dafür wird bei Szondi (1963: 14) Corneilles Le Cid (1636) genannt. Als klassisches deutsches Beispiel für den Widerstreit zweier unvereinbarer sittlicher Anforderungen ließe sich hier auch auf Goethes Schauspiel Iphigenie auf Tauris (1787) hinweisen. Theoretischer Rahmen 86 Vorhergehenden resultieren sollen,86 stellt die dramatische Handlung einen in sich geschlossenen Kausalzusammenhang dar. Daraus ergibt sich im Drama ein Handlungszusammenhang als Ganzes, das durch die Finalität der vorwärtsdrängenden Endbezogenheit der verschiedenen Teile gekennzeichnet ist (dazu auch im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller von 1797 bei Stapf [1970: 284ff.; 403ff. u. 969f.]). Dramatisches Handeln ist die Verwirklichung eines Handlungszieles, also einer intentional entworfenen Situation. Sie ist ein von zweckgerichtetem Willen beherrschter, zielorientierter Vorgang und gilt somit als willentlich. Der Entwicklungsweise der Epik gegenüber bewirken die Figuren im Drama durch zielgerichtetes Handeln eine Finalorientierung des Geschehens bzw. eine „stete Fortbewegung zur Endkatastrophe“ (Hegel 1970: 488; Hervorhebung im Original). Aber schon vor Hegel scheint in der Unterscheidung von „Motiven“ dramatischer und epischer Werke bei Goethe und Schiller auf, dass es unter dem Aspekt der Finalität der Handlungsentwicklung eigentlich um Zielstrebigkeit geht: Während der Epik „rückwärtsschreitende“ Motive eigentümlich seien, bediene sich das Drama vornehmlich „vorwärtsschreitende[r], welche die Handlung fördern“ (Schiller 1965: 790f.). Das von Aristoteles formulierte Dramenkonzept, die Handlung müsse (1) in sich geschlossen sein, also ein Anfangsmoment und einen Abschluss haben, sie solle (2) keine bedeutenden Nebenhandlungen haben, also im Prinzip nur den einen Hauptstrang umfassen, dieser solle (3) zielgerichtet auf den Abschluss hinführen, wobei die einzelnen Handlungssequenzen (4) kausal, also nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung miteinander verknüpft seien, wurde zum paradigmatischen Bezugspunkt und prägte die europäische Dramentheorie bis in die Moderne. Insbesondere im 17. und 18. Jahrhundert erscheinen die von Aristoteles aufgestellten Forderungen für die dramatische Handlung als solide Konventionen bei der Gestaltung von anspruchsvollen Dramen in Frankreich und Deutschland. Die 1674 erschienene L’Art Poétique von Nicolas Boileau (1636-1711) wirkte frühzeitig im Sinne einer Ausrichtung an antiken Vorbildern, Johann Christoph Gottscheds (1700-1766) Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen nahm um 1730 diesen Leitfaden auf und spann ihn für Deutschland fort. In beiden Poetiken wurde vor allem die so genannte „Lehre von den drei Einheiten“ recht streng ausgelegt. Sie galt als unumstößliche Norm. Erwartet wurde dabei nicht nur eine einheitliche, in sich abgeschlossene Handlung. Ebenso baute man auf eine angemessene zeitliche Ausdehnung – bei Aristoteles darf die Zeitdauer nicht 86 Diesen bei Aristoteles zentralen Aspekt des Handlungsaufbaus sieht auch Pfister als strukturierendes und Sinn stiftendes Moment, zumal er auf dem „Prinzip der Sukzession“ beruht. Demgemäß präsentieren „zwei aufeinander folgende Szenen [...] zwei aufeinanderfolgende Phasen der Geschichte“ (Pfister 1997: 273). Das Sukzessionsprinzip hat zur Folge, dass prinzipiell in der dramatisch angelegten Form chronologische Umstellungen, Rückblenden, Wiederholungen und Handlungsüberschneidungen vermieden werden. Theoretischer Rahmen 87 mehr als 24 Stunden überschreiten (Aristoteles 1994: 17) – sowie auf einen möglichst einheitlichen, überschaubaren Schauplatz.87 Das bedeutet, dass Episoden, Nebenhandlungen, Zeitsprünge und Ortsveränderungen von vornherein auszuschließen waren. Angesichts dessen darf es nicht verwundern, dass die Bühnenkonventionen nur schwer von den drei Einheiten als Gewährleistung von Wahrscheinlichkeit und Einfühlung absahen. Neben dramentheoretischen spielten aber auch bühnenpraktische Gründe eine entscheidende Rolle für die Durchsetzung der Drei-Einheiten-Lehre. Bei der Einheit des Ortes ist das leicht nachzuvollziehen. Im antiken Drama war der Chor schließlich ständig auf der Bühne, und auf der Bühne des Barocktheaters, das von Proszenium und einschiebbaren Kulissen abgegrenzt war, ließen sich keine schnellen Dekorationswechsel und damit Ortswechsel durchführen. Historisch bedingte Entwicklungen begründen allerdings die Komplexität des Dramas und führen zu Unterschieden in der Konzeption von Dramaturgie, Raum, Zeit und der Figuren. Inwiefern die französischen Klassiker Jean Racine (1639-1699) und Pierre Corneille (1606- 1684) sich an eine strenge Ãœbernahme alter, für die griechische Tragödie maßgeschneiderter Bestimmungen gehalten haben, zeigt übrigens, dass das westeuropäische Drama in seiner Historizität eigene Merkmale aufweist. Insbesondere die Stücke Racines, zu denen z.B. Phèdre (1677) zählt, zeichnen sich durch die Beibehaltung der starren Einheitenkonventionen aus. Die strenge Geschlossenheit der Handlung, die sich aus der Wahrung der Orts- und Zeiteinheit ergibt,88 wird auch äußerlich durch eine streng geregelte Verbindung benachbarter Szenen gewährleistet. So bleibt bei Szenenwechsel innerhalb eines Aktes mindestens eine Figur auf der Bühne, um die Kontinuität des Geschehensablaufs sicherzustellen. Allerdings ist die Handhabung der Drei-Einheiten-Lehre im französischen klassischen Drama nicht immer gegeben: bei Corneilles Le Cid (1637) z.B. werden vor allem die Einheiten des Ortes und der Zeit nicht beachtet. Das von Gottsched adaptierte klassizistische Formmuster bildete seinerseits zwar die Grundlage für die deutsche bzw. Weimarer Klassik, ist allerdings als ideale Ausprägung zu verstehen – vor allem bei Goethe, etwa in Iphigenie auf Tauris (1787). In der deutschsprachigen Dramenproduktion ist sie so eher selten vorgekommen. Unter dem Einfluss der Shakespeare- Rezeption beispielsweise wurde schon die Norm der Einheiten in der Frühphase des Sturm und Drang abgelehnt.89 So weist Herder in seinem Shakespeare-Aufsatz von 1773 den normativen 87 Eine Einheit des Ortes forderte Aristoteles allerdings nicht ausdrücklich (Platz-Waury 1999: 30). 88 Die einzige Haupthandlung, nämlich Phèdres verzweifelte Leidenschaft zu Hippolyte und deren Folgen, spielt sich innerhalb der vorgegebenen 24 Stunden und nur an einem einzigen Schauplatz ab und zwar in der Vorhalle des Palasts von Trézène. Die Szene wechselt im Verlauf des Stücks nicht. 89 Für den Sturm und Drang diente nämlich das (zeitlich vor der französischen klassischen Tragödie liegende) Drama Shakespeares als Vorbild. Dieses zeichnete sich vor allem durch seine allen klassizistischen Regeln widersprechende Vielfalt von Handlung, Zeit und Ort aus. Im einzelnen äußerte sich diese Vielfältigkeit in einer komplexen, häufig mehrsträngigen Handlung, in deren weiter zeitlicher Erstreckung und in der Vielzahl von Schauplätzen. Bei aller Tendenz zur Durchbrechung der drei Einheiten finden sich bei Shakespeare allerdings auch noch Stilelemente des einheitlichen Theoretischer Rahmen 88 Anspruch der Einheitentheorie streng zurück, indem er die aristotelischen „Regeln“, auf die sich Gottsched und insbesondere die französische Klassik berief, aus den besonderen Bedingungen der griechischen Bühne ableitet und damit deren Historizität betont. Und schon zwei Jahre zuvor (1771) verwirft der junge Goethe in seiner Rede Zum Schäkespears Tag die Einheiten als „lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft“ (Goethe 1994: 225). An Shakespeares Beispiel werden so neue Dramen entwickelt, die eine (im Vergleich zu Shakespeare) extreme Auflockerung von Handlung, Raum und Zeit erreichen – allen voran Goethes historisches Drama Götz von Berlichingen (1773): Es spielt an insgesamt über fünfzig Orten, und die dargestellte Zeit wird nicht auf einen Tag beschränkt, sondern durch mehrere parallel laufende Handlungen gedehnt. Wenn nach den bewussten Verstößen gegen die Einheiten in der Dramatik des Sturm und Drang ein klassisches Drama wie Iphigenie in seinen äußeren Abmessungen durchaus mit den drei Einheiten übereinkommt, so beruht das nicht auf einer Wiederbelebung der Drei-Einheiten-Lehre, sondern auf einem gewandelten Verständnis vom Drama und seiner Form (bzw. inneren Form) (Weimar 2007: 409). Schillers erstes Drama Die Räuber (1781) kennt beispielsweise die engen Grenzen der drei Einheiten nicht. Es wahrt weder die Einheit der Zeit (diese erstreckt sich über einen Zeitraum von 2 Jahren, statt der geforderten 24 Stunden), noch die des Ortes: Die Handlung spielt an verschiedenen, weit voneinander entfernten Schauplätzen, nämlich im Schloss, in der Schenke und im Wald. An die Stelle der Einheit des Ortes ist außerdem ein Wechsel zwischen Innenraumszenen und in der „freien“ Natur spielenden getreten. Weiter ist nicht einmal von einer Einheit der Handlung im klassischen Sinne zu sprechen. Dass beide Brüder (Karl und Franz) einander nie begegnen, zeigt die Zweisträngigkeit der Handlungsführung. Abgesehen von vorsätzlichen Experimenten (Die Braut von Messina) bedienen sich Schillers Dramen der späten Phase überhaupt der alten Regeln nur dort, wo es für die Konzeption sinnvoll ist – z.B. in Maria Stuart (1800) mit weitgehender Beachtung der drei Einheiten. In der Folge der normativen Poetiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts wurden dann im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts Aristoteles’ Ãœberlegungen zum Aufbau der Dramaturgie neu entdeckt. Die ästhetischen Forderungen des Aristoteles an die Tragödie wurden um die Mitte des Jahrhunderts von Gustav Freytag (1816-1895) in seiner 1863 veröffentlichten Abhandlung theoretisch übernommen. So fasst Freytag (1969) mit Berufung auf Aristoteles die Theorie des klassischen, aristotelisch geprägten Dramas in stark schematisierter Form zusammen, indem er die Dramenstruktur als „pyramidalen Aufbau“ beschreibt und die Handlung nach einem Fünf-Akt-Schema konzipiert.90 Die nach diesem Muster aufgebaute Handlung wird von Freytag (1969: 102 u. 170f.) folgendermaßen begrifflich bestimmt: Dramas (vgl. hierzu Klotz 1978: 238). 90 In komprimierter Form findet sich die Einteilung der Handlung auch in drei Akte (Platz-Waury 1999: 113; auch Pfister 1997: 414 [Anm. 96]). Hierzu auch Hegels (1970) idealtypische Form des Dramas, Theoretischer Rahmen 89 1. Akt - Einleitung 2. Akt - Steigerung 3. Akt - Höhepunkt 4. Akt - Fall oder Umkehr 5. Akt - Katastrophe Die Einleitung oder Exposition (Asmuth 1984: 102) dient im 1. Akt zur Darlegung der Verhältnisse und Zustände, denen der dramatische Konflikt entspringt einschließlich ihrer Vorgeschichte.91 Dem steht zu, alle relevanten, d.h. alle am Konflikt beteiligten Figuren einzuführen und vorzustellen sowie die Konfliktkonstellation deutlich werden zu lassen (Asmuth 1984: 104). Durch ein „erregendes Moment“ (Freytag 1969: 102), d.h. ein wichtiges Ereignis oder einen bedeutsamen Entschluss der Hauptfigur, wird dann im 2. Akt der Konflikt in steigender Handlung zum Höhepunkt (3. Akt) geführt. Hier durchläuft der Konflikt bzw. der Weg oder Entwicklungsgang des Helden eine entscheidende Phase, in der eine Wende zum Guten oder zum Schlechten einsetzt – von Freytag als „tragisches Moment“ (Freytag 1969: 102) bezeichnet. Dadurch wird im vorletzten Akt des Dramas der Fall des Helden oder die Umkehrung des Handlungsverlaufs eingeleitet. Die fallende Handlung findet in der Konfliktlösung (Katastrophe) ihren Abschluss, oft nachdem der Ausgang durch ein „Moment der letzten Spannung“ (Freytag 1969: 102), das die fälschliche Hoffnung auf die mögliche Errettung des Helden bewirkt, noch verzögert worden ist. In der Diskussion hat es sich eingebürgert, den von Freytag beschriebenen modellhaften Dramenaufbau nach klassizistischem Schema als „geschlossenes Drama“ (Klotz 1978: 14) zu bezeichnen. die folgendermaßen beschrieben wird: „Der Zahl nach hat jedes Drama am sachgemäßesten drei solcher Akte, von denen der erste das Hervortreten der Kollision exponiert, welche sodann im zweiten sich lebendig als Aneinanderstoßen der Interessen, als Differenz, Kampf und Verwicklung auftut, bis sie dann endlich im dritten auf die Spitze des Widerspruchs getrieben sich notwendig löst“ (Hegel aufhttp://www.textlog.de/5855.html; Hervorhebungen im Original) (abgerufen am 7. Oktober 2015). 91 Die Exposition braucht keinesfalls auf den Drameneingang beschränkt zu sein (Pfister 1997: 124). Es gibt eine ganze Reihe von Stücken, in denen der Zuschauer im Verlauf des Dramas schrittweise von der Vorgeschichte in Kenntnis gesetzt wird. Das ist vor allem für das so genannte „analytische Drama“ charakteristisch, also für jene Form des Dramas, das in der letzten Phase eines fortgeschrittenen Ereigniszusammenhangs einsetzt und rückwärts schreitend die vergangenen Ereignisse auseinander rollt (Platz-Waury 1999: 113). Die Handlung entfaltet sich so als Entschlüsselung einer die Gegenwart bestimmenden Vergangenheit. Als Prototyp des analytischen Dramas gilt Sophokles’ König Ödipus (ca. 425 v. Chr.). Klassische Beispiele sind Schillers Die Braut von Messina (1803) und Kleists Der zerbrochene Krug (1806). Als Musterbeispiele des modernen Dramas gelten die Stücke Ibsens, z.B. Gespenster (1881) und John Gabriel Borkman (1896) (Szondi 1963: 18ff.). Und im US-amerikanischen Drama der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert lassen sich – wohl bedingt durch den Einfluss Ibsens – dann auch weitere Beispiele für ganz oder teilweise durch eine analytische Struktur bestimmte Dramen finden, etwa mit Millers All My Sons (1947) und Death of a Salesman (1949) (Szondi 1963: 115ff.). Theoretischer Rahmen 90 Der Formtyp des „geschlossenen“ (oder „tektonischen“) Dramas trifft im wesentlichen die Form der von Aristoteles beschriebenen Tragödie; daher ist die „geschlossene“ Form zugleich die „aristotelische“ Form des Dramas: „Das geschlossene Drama strebt danach, eine geistige Totalität zu vermitteln [...] Ganzheit, Einheit, Unversetzbarkeit der Teile charakterisieren die Handlung, die einen Ausschnitt aus einem pragmatisch, zeitlich und räumlich Größerem und Komplexerem darbietet“ (Klotz 1978: 216f.). Zentrale Merkmale des „geschlossenen Dramas“ nach Klotz liegen in der Orientierung an der neuzeitlichen klassizistischen Drei-Einheiten-Lehre (Raum, Zeit, Handlung). Kennzeichnend dafür ist also ein einsträngiger Verlauf, der alle Ereignisse in einer einzigen Handlung integriert. Nebenhandlungen sind dabei ohne Eigengewicht. Besitzt ein Drama außerhalb der Haupthandlung andere Seitenstränge, so dienen sie einzig dem Prinzip der Ganzheit, d.h. sie werden allein dazu benutzt, neue Aspekte, die Teil der Haupthandlung sein müssen, einzuführen und zu erklären. Die Handlung des „geschlossenen Dramas“ ist schlüssig, linear und kontinuierlich. Sprunghaftigkeit wird stets vermieden. Die verschiedenen Szenen gleiten unmittelbar ineinander über, Szenenwechsel werden nur durch Veränderung der Figurenzahl auf der Bühne angezeigt. Eine Figur bleibt allerdings immer auf der Bühne, während die Neuankommenden zumeist am Ende der Szene angekündigt werden.92 Die dargestellte Handlung im Drama der „geschlossenen“ Form ist kausal verknüpft (d.h. aufeinander aufbauend) und strebt insofern in einer Entwicklung auf einen bestimmten Schluss hin. Zu der Einheit der Handlung kommt als weiteres Merkmal des „geschlossenen“ Dramas die begrenzte Figurenzahl, d.h. eine entsprechend geschlossene Figurenkonstellation, mit wenigen Figuren, zwischen denen ein dichtes und kompliziertes Netz von Beziehungen existiert. Auf Nebenfiguren wird entsprechend verzichtet. 93 Den Gegenpol zur „geschlossenen“ Dramenform bildet die „offene“ Form (Klotz 1978: 14). So zeichnet sich das „offene“, „atektonische“ Drama durch komplexe Verhältnisse von Ort, Zeit und oft mehrsträngiger Handlung aus. In seiner dramaturgischen Konstruktion ist es davon geprägt, dass es keinen „Ausschnitt als Ganzes“ sondern „das Ganze in Ausschnitten“ zeigt (Klotz 1978: 215f.). Bevorzugt wird dabei im Gegensatz zum „geschlossenen Drama“ ein Handlungsgefüge, in dem die Gesetze der „Einheit, Ganzheit und Unversetzbarkeit der Teile“ genauso aufgehoben werden wie die Einheiten des Ortes und der Zeit: „Der Einheit von Handlung, Raum und Zeit dort steht hier die Vielfalt von Handlung, Raum und Zeit gegenüber“ (Klotz 1978: 219). Lange Zeitspannen, zahlreiche Ortswechsel sowie wiederkehrende Leitmotive oder Sprachbilder, die für Verknüpfungen sorgen, kennzeichnen das Strukturmodell 92 Das ließe sich anhand von Beispielen aus Goethes Iphigenie illustrieren: „[...] Ich sehe den König kommen“ (I, 2); „[...] Still! / Sie kommt [...]“ (II, 1); „[...] Hier! - Der Bote / kommt von dem Könige mit schnellem Schritt“ (IV, 1). (Goethe 2013: 10, 26f., 44) 93 In nahezu idealtypischer Ausprägung präsentiert sich der Formtyp des „geschlossenen“ Dramas im französischen klassischen Drama – vor allem bei Racine, etwa in Phèdre (1677) – sowie im Drama der deutschen Klassik (Goethe und Schiller in ihrer Weimarer Zeit). Theoretischer Rahmen 91 der „offenen“ Form im Drama. Ferner gibt es keinen klaren Anfang und Schluss: Die Handlung setzt unvermittelt ein und bricht auch unvermittelt ab und zwar gerade deshalb, um den Ausschnittscharakter des Dargestellten hervorzuheben.94 Als Vorwegnahme zu späteren Ausführungen zum Märchenstück sei an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass zur Beschaffenheit der neuen Gattung oft die Einhaltung einer einheitlichen Handlung gehört, aber kaum diejenige des Ortes noch der Zeit. d) Figuren als Handlungsträger Geht man von der obigen Bestimmung des Dramas als Nachahmung einer Handlung („Mimesis“) aus, so wird klar, dass diese Handlung von einem handelnden Subjekt ausgeführt werden muss. Die beiden Kategorien Figur und Handlung sind also untrennbar miteinander verbunden. Auf ihre dialektische Bezogenheit ist von Pfister (1997: 220) hingewiesen worden. Im Allgemeinen stehen beide Kategorien im Drama in einem kausalen Motivationsverhältnis wechselseitiger Bedingtheit: Einerseits ist die Veranlagung einer dramatischen Figur Ursache für bestimmte Handlungsweisen, andererseits kann die Figur durch Ereignisse der Handlung beeinflusst werden und z.B. ihren Charakter ändern (Platz-Waury 1999: 106). Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Konvention (dazu Asmuth 1984: 90ff.) ist bei uns von Figur die Rede. Von Bezeichnungen wie „Person“ oder „Charakter“ ist deshalb Abstand zu nehmen, um so einerseits die ontologische Unterscheidung zwischen fiktiver Figur und realem Menschen hervorzuheben, und andererseits, weil der Begriff „Charakter“ im Deutschen eher auf die allgemein geistige Eigenart eines Menschen abzielt.95 Damit schließen wir uns Pfister an, der den Begriff „Figur“ statt „Person“ oder „Charakter“ vorzieht, da er auf ein „intentional Gemachtes, Konstrukthaftes, Artifizielles“ verweist und dessen Funktionalität betont (Pfister 1997: 221). Pfister unterstreicht den Unterschied zwischen fiktiver Dramenfigur und realem Menschen und stellt fest, dass eine fiktive dramatische Figur von ihrem Kontext nicht ablösbar sei, da sie nur in diesem Kontext, also der Welt des Dramas existiere. Die Figuren eines Dramas existieren nur im Stück und durch das Stück. Sie führen kein Eigenleben und sind nur präsent, soweit sie dargestellt sind. Als Träger der Handlung haben sie bestimmte Eigenschaften und Merkmale, verfolgen Absichten und lassen Gründe für ihr Handeln erkennen. Aufgrund ihrer Konstrukthaftigkeit sind sie durch einen begrenzten Merkmalsatz von Eigenschaften bestimmt (Pfister 1997: 221; auch Platz-Waury 1999: 76). Daher kommt jeder einzelnen Information von 94 Der Formtyp des „offenen“ Dramas ist vor allem durch das mittelalterliche Drama, das Drama Shakespeares, des Sturm und Drang (der junge Goethe, der junge Schiller) und des Naturalismus vertreten. 95 Vgl. zu „Charakter“: Duden online: http://www.duden.de/rechtschreibung/Charakter (Zugriff am 07.10.2015). Theoretischer Rahmen 92 vornherein besondere Bedeutung zu, so kann z.B. der Rollenname einer Figur hinweisend auf ihren Charakter sein (Pfister 1997: 221f.). Dadurch unterscheiden sich die Figuren eines Dramas von realen Personen, aber nicht von den Figuren in narrativen Texten. Zur Abgrenzung von der Erzählliteratur bedarf das Drama einer zusätzlichen Bestimmung. Diese findet sich im Bereich der Darstellung. Dazu gehört vor allem die Tatsache, dass die Gattung des Dramas den Menschen auf der Bühne zu einer Rede zwingt (vgl. Dürrenmatt bei Pfister 1997: 224). Sieht man also von Vermittlungsinstanzen und Konventionen wie etwa der „des unmotivierten Monologs“ (Pfister 1997: 223) ab, dann ist eine dramatische Figur nur so weit darstellbar, als sie sich als Redende durch das Gespräch selbst darstellt, zumindest im klassischen Drama: „Der Mensch im Drama erscheint dominant als ein Sich-selbst-Darstellender, nicht ein Für-Sich-Seiender, d.h. [...] er erscheint dominant als Redender“ (Pfister 1997: 223). Die Figuren des Dramas also sind vor allem bestimmt durch das, was man von ihnen sieht und hört. Und sie existieren nur, soweit sie sinnlich wahrnehmbar sind. Solche Darstellungsweise der Figuren im Drama impliziert auch, dass oft anders als Romanfiguren etwa dramatische Figuren immer einen fragmentarischen Charakter haben müssen, d.h. ihr Satz an Informationen eingeschränkt, ja begrenzt ist. Im Vergleich zum Romanleser, der in minutiösen Darstellungen nahezu alles über die Figuren erfahren kann (soziale Determination, psychologische Veranlagung), hat der Zuschauer eines Stücks nur beschränkt Einsicht in die biographische Dimension einer Bühnenstückfigur sowie in ihr Innenleben. Das liegt einerseits am limitierten Umfang eines Dramas und andererseits daran, dass Innenschau nur durch Äußerungen der Figur selbst möglich ist (Pfister 1997: 222f.). Lenkt man den Fokus nun auf die Anlage dramatischer Figuren, so bieten sich nach Pfister folgende Möglichkeiten an, wenn man die Eigenschaften bzw. Merkmale einer Dramenfigur herausarbeiten möchte: Konstellation und Konfiguration, Konzeption und Charakterisierung (Pfister 1997: 225ff.). Vor allem Pfisters Ãœberlegungen zur Konzeption und Charakterisierung dramatischer Figuren erweisen sich als optimaler Ausgangspunkt für die genaue Beobachtung und Analyse der Figuren im Märchenstück. Daher werden wir uns weiterhin darauf stützen. Nach Pfister stellt die Figurenkonzeption das Menschenbild bzw. die Grundvorstellungen der dramatischen Figuren dar, die diesen zugrunde liegen und somit auch die vom Autor intendierten Bestimmungen mit einbeziehen, während die Figurencharakterisierung „die formalen Techniken der Informationsvergabe“ (Pfister 1997: 240) bezeichnet, mit denen dramatische Figuren präsentiert werden. Die Figurencharakterisierung speist sich aus einem überhistorischen festen Repertoire. Im Gegensatz dazu ist die Figurenkonzeption eine rein historische Kategorie, die nur in ihrer jeweiligen Konkretisierung typologisch variabel ist. Die einzelnen Varianten in der Konzeption dramatischer Figuren werden im Folgenden zusammenfassend dargestellt, um anschließend das Repertoire möglicher Techniken der Figurencharakterisierung zu entfalten. Theoretischer Rahmen 93 Was die Figurenkonzeption anbelangt, so unterscheidet Pfister im Wesentlichen vier Dimensionen, nach denen die Figuren im Drama eingeteilt werden können: Eine erste Möglichkeit ist die Untersuchung der Figuren im Hinblick auf ihre Entwicklung während des Handlungsverlaufs, d.h. die Differenzierung von statischen Figuren, die sich nicht verändern und im Verlauf des Stücks ihre Ansichten und Einstellungen beibehalten, und dynamischen Figuren, die sich besonders in ihrem Charakter wandeln und weiterentwickeln (Pfister 1997: 241ff.). Ein zweites Kriterium ist die Einteilung in ein- oder mehrdimensionale Figuren, wobei hiermit die Charakterisierung entweder durch einen kleinen und in sich schlüssigen Satz an Merkmalen (eindimensional)96 oder durch eine hohe Anzahl von komplexen Merkmalen (mehrdimensional) erfolgt (Pfister 1997: 243f.). Der Gegensatz von ein- oder mehrdimensionalen Figuren deckt sich im Ãœbrigen weitgehend mit dem von Typus vs. Individuum. Vor allem das Drama des 16. und 17. Jahrhunderts bedient sich des Typus als einer Figur, die durch ein mehr oder weniger festes Verhaltensmuster definiert ist. Als Typus wird eine Figur ohne individuelle Prägung bezeichnet, eine Figur, die beispielsweise für einen Stand (König, Höfling, Bauer), eine Berufsgruppe (Müller, Schneider) oder eine Altersstufe steht, reduziert auf deren charakterliche Eigenschaften. Pfister hat ein ganzes Repertoire solcher Typen herausgearbeitet: der Geizige, der Heuchler, der Prahlhans usw. Individuum meint demgegenüber die individuell gezeichnete, komplexe und entsprechend widersprüchliche Figur, die in der Geschichte des klassischen Dramas des 18. Jahrhunderts eine Rolle spielt. Um die Individualität plausibel zu machen, ist eine Fülle an charakteristischen Details erforderlich, die die dramatische Figur mehrdimensional erscheinen lässt. Dies erfolgt dadurch, dass sie wandlungsfähig ist und in verschiedenen Situationen immer neue Seiten ihres Wesens erkennen lässt. Das hat unter anderem die Folge, dass die Figur einmalig und unverwechselbar, ja von den anderen Figuren abgrenzbar wird, dass also Identität per definitionem gewährleistet werden kann (Pfister 1997: 245f.).97 Hinsichtlich der Figurencharakterisierung unterscheidet Pfister wiederum vier Verfahren, die zur Darstellung der Figuren in Anspruch genommen werden können: explizit und implizit figural sowie explizit und implizit auktorial. Explizit figurale Figurencharakterisierungen erfolgen durch Eigenkommentare oder Fremdkommentare anderer Figuren und implizit figurale Charakterisierungstechniken beschränken sich auf die Selbstdarstellung der dramatischen Figur durch ihre Sprechweise, ihr Verhalten, aber auch durch ihr Aussehen (Pfister 1997: 251ff.). Die explizit figurale Form der Charakterisierung nimmt im älteren, der klassischen Tradition 96 Im Extremfall sind die Figuren auf einen einzigen Charakterzug reduziert, der sie zu Karikaturen werden lässt. 97 Neben den hier vorgestellten Varianten in der Figurenkonzeption unterscheidet Pfister noch zwischen „geschlossener“ vs. „offener“ und „transpsychologischer“ vs. „psychologischer“ Konzeption (Pfister 1997: 246ff.). Da diese von Pfister unternommenen Unterscheidungen für die Figurenanalyse der Märchenstücke aus unserem Korpus nicht so stark im Vordergrund stehen und deshalb für die folgende Untersuchung nicht relevant sind, verwenden wir sie für unsere Analyse nicht. Theoretischer Rahmen 94 verpflichteten, rhetorisch orientierten Drama den Löwenanteil an. Denn die Handlung ist hier zumeist ins Wort verlagert, weshalb man durch die Rede mehr über die Figuren erfährt als durch ihr Handeln. Neuere Dramatiker ziehen eher die implizite Charakterisierung vor. Sie bauen lieber auf die Beobachtung der Figurenhandlungen als auf den Bericht (Asmuth 1984: 86). Vgl. dazu Lessing: „Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen. [...] Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern“ (Lessing 1973: 272). Zu der explizit auktorialen Charakterisierung zählen vor allem die im Nebentext vorkommenden Schilderungen und Regieanweisungen des Autors, aber auch sprechende Namen sind in dieser Kategorie wieder zu finden. Bei der implizit auktorialen Figurendarstellung handelt es sich um Korrespondenz- und Kontrastrelationen, d.h. die Beziehungen der Figuren untereinander werden analysiert (Pfister 1997: 262ff.). Hierbei erschließt sich die Möglichkeit, eine Methode anzuwenden, die im Rahmen der formalistisch-strukturalistischen Märchenforschung ihren Ursprung hat und später eine Anwendung in der Dramenanalyse gefunden hat (Pfister 1997: 234). Die Rede ist hier von Vladimir Propps Modell, das die einzelnen Figuren nach ihren Handlungsfunktionen einander zuordnet: Held - Helfer - Widersacher (dazu Propp 1975, insb. Kap. 6 „Die Verteilung der Funktionen auf die handelnden Personen“). Ein ähnliches Modell entwickelte Étienne Souriau (1950) für das Drama, allerdings mit den sechs Funktionen Held, Helfer, Gegner, erstrebtem Wert, Schiedsrichter und gewünschtem Erwerber. Nach Souriau ließen sich in jeder gegebenen Situation die beteiligten Figuren und die dramatischen Funktionen auch einander zuordnen. Das wird von Pfister als potentielles Beschreibungsmodell für eine „handlungsfunktionale Strukturierung des Personals und die Abfolge der Figurenkonstellationen“ im Drama angesehen (Pfister 1997: 234; dazu auch Asmuth 1984: 99f.). Davon ausgehend ließen sich Bühnenfiguren mit ihren verschiedenen Merkmalen „als Verkörperungen von Funktionen begreifen, die im Rahmen des Handlungsablaufs zu besetzen sind“ (Asmuth 1984: 99). Eine einzelne Figur kann eine, aber auch mehrere Funktionen verkörpern, und umgekehrt kann eine Funktion auch in mehreren Figuren verkörpert sein (Pfister 1997: 234).98 Unter den von Propp und Souriau genannten Handlungsfunktionen kommt jener des Helden bzw. Protagonisten eine vorrangige Stellung zu, steht doch der Held im Mittelpunkt der dramatischen Handlung bzw. sein Handeln wird von einem bestimmten Ziel bestimmt, das er im Laufe der Geschichte erreichen muss, also etwa Liebe, Ehrgeiz, Macht usw. Als Kontrast zum 98 Ersteres kann z.B. an der Figur der Gräfin Orsina bei Lessings Emilia Galotti (1772) nachgewiesen werden (Asmuth 1984: 101). Als bekannte Beispiele für Figuren, die die gleiche Funktion wahrnehmen, sind andererseits Orest und Thoas aus Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) zu nennen. Hier fungieren die beiden Figuren füreinander als Gegner, da sich ihre Absichten Iphigenie betreffend widersprechen. Theoretischer Rahmen 95 Helden konzipiert und ihm in der Figurenkonstellation unmittelbar gegenübergestellt tritt die Funktion des Gegenspielers bzw. Antagonisten in Erscheinung. Der Gegenspieler steht dem Erreichen des Ziels des Helden im Wege und zwingt ihn damit immer wieder zu Umwegen. Diese antagonistische Kraft kann entweder personifiziert werden99 oder unpersönlich sein, so z.B. in Form von einem Machtkollektiv,100 von gesellschaftlichen Verhältnissen oder aber von einer negativen inneren Qualität des Protagonisten. Von der Held-Gegenspieler-Beziehung aus lässt sich dann die Figur des Helfers bestimmen. Im Konflikt mit seinem Gegner bleibt der Held oft auf die Hilfe von anderen Figuren, also den so genannten Helfern angewiesen. Innerhalb des Bühnenstücks übernehmen solche Helferfiguren in der Regel eine beigeordnete Funktion, da sie z.B. für die Hauptfigur handeln, deren Nachrichten überbringen oder dieser als Vertraute oder Ratgeber zur Seite stehen.101 Gleich wie der Held kann auch der Gegenspieler einen Helfer besitzen. Andreotti (1996: 154) bezeichnet ihn entsprechend als „negativen Helfer“. Als schlimmer Helfer zeichnet er sich durch die Rolle des Intriganten aus, der durch sein Komplott den Helden zu übertölpen versucht102 (ausführlich zur Intrigantenrolle in: Asmuth 1984: 124ff.). 2.1.1.2 Alternative Versuche zum absoluten Drama Zu Recht hat Pfister auf die Problematik der Beziehbarkeit des Szondischen Idealtyps auf konkrete historische Bühnentexte hingewiesen. Die Bestimmungen dessen, was Szondi „absolutes Drama“ nennt, lassen deutlich erkennen, dass eine besondere dramaturgische Form postulativ zum Idealtypus des neuzeitlichen Dramas erhoben wird. Es ist das Drama der streng geschlossenen Form: die französische Tragödie und die klassischen Dramen Schillers und Goethes (Die Braut von Messina, Iphigenie auf Tauris). Diese absolute dramatische Form ist somit an einen kurzen Zeitraum und eine relativ kleine Zahl von dramatischen Werken gebunden. Neben und vor dem „absoluten Drama“ existieren wiederum vielmehr bezeichnende Alternativen bzw. vorwegnehmende Abzweigungen zum späteren Idealbild, das bei uns den Wert eines protoptypischen Bezugspunkts einnimmt, so z.B. im Mittelalter, bei Shakespeares histories und im spanischen Barock-Prototyp. Diese lassen sich grob als „epische“ (bzw. „undramatische“) Varianten des Dramas erfassen. Bei Pfister wird Szondis absolute dramatische Form für „eine idealisierte Norm“ gehalten, „die in der Geschichte dramatischer Texte immer wieder durchbrochen wird“ (Pfister 1997: 99 Z.B. Elisabeth in Schillers Maria Stuart (1800). 100 Etwa die herrschende Oberschicht bei Büchners Woyzeck (1879). 101 In Lessings Minna von Barnhelm (1767) z.B. stellen Franziska und Paul Werner als Diener und Vertraute typische Helferfiguren dar. 102 So wie wir es für den Kammerherrn Marinelli in Lessings Emilia Galotti (1772) und den Sekretär Wurm in Schillers Kabale und Liebe (1784) kennen. Theoretischer Rahmen 96 103f.). Darin liegt aber der Hauptwert von Szondis Ausführungen für unsere Annäherung an das Märchenstück. Das moderne absolute Drama gibt weniger ein fertiges, abgerundetes ästhetisches Bild ab als einen Satz medialer Möglichkeiten, der die Zuschauerschaft unmittelbar wahrnimmt und zwar in zweifachem Sinne. Als Gattungsprototyp zeigt der darin vorhandene mediale Trend allen Interessierten an der Handhabung der Bühne einerseits, unter welchen Voraussetzungen die Chancen zur Wahrnehmung der Anwesenheit der Zuschauerschaft und somit zur Förderung der Einfühlung zunehmen. Andererseits weist Szondi, und zwar unter Anlehnung an Hegel, inwiefern ein Bühnenstück keine hohle Gebärde sein darf. Das moderne absolute Drama nimmt nicht nur medial seine Zuschauerschaft wahr, sondern auch kulturgeschichtlich. Der Versuch, auf äußere Umstände, Zufälligkeiten, Bestimmungen durch die Obrigkeit usw. zu verzichten, geht im absoluten Drama der westeuropäischen, religiös weitgehend reformierten Neuzeit mit dem Hinweis auf zwei Merkmale ihres idealen Menschenbildes einher: das Individuum als Sitz von Entscheidungen und Quelle von Konflikten sowie die Individuen als Benutzer eines fälligen Mittels zur Schlichtung von Konflikten, nämlich die Sprache. Insofern bieten sich die bisher ausgeführten Gattungsmerkmale des Dramas unter Verweis auf Szondi als nützliches Beschreibungsinstrumentarium für die Analyse von Bühnenstücken an. Das von Szondi (1963: 14-19) beschriebene Drama stellt einen medialen Bezugspunkt dar. Allerdings also nicht unbedingt einen ästhetischen, sondern vielmehr einen mit bedeutsamen sozialen Implikationen geprägten Bezugspunkt. Es zeichnet sich vor allem durch drei Aspekte aus: die Bedeutung des Helden bzw. des Individuums als Subjekt, das aktiv handelt; die Möglichkeit, die (zwischen)menschliche Wirklichkeit sprachlich durch eine entscheidungsträchtige Handlung zur Darstellung zu bringen; und die Bedeutsamkeit des Individuums als Mitgestalter von Neuerungen bzw. Konflikten in seiner gesellschaftlichen Umgebung. Für die mediale Angemessenheit der immer wieder angestrebten, jedoch meistens erst im Ideal anzutreffenden Form des absoluten Dramas spricht die Nachhaltigkeit oder Ausdauer als Bezugspunkt der Bühnenkunst im westlichen Theater, auch wenn die darzustellenden Konflikte nicht mehr hineinpassten, ja dagegen krass gestoßen sind. Davon zeugen die ergiebigsten Impulse der europäischen und der nordamerikanischen Dramatik zwischen 1880 und 1950, welche Szondi einmal als „Krise des Dramas“ und dann als „Lösungsversuche“ der Gattung einstuft. Repräsentative Stücke Tschechows, Hauptmanns, Strindbergs, Ibsens und Maeterlincks legen Zeugnis davon ab. Szondi weist einprägsam nach, inwieweit es den Autoren schwer gefallen ist, sich von der bewährten Form abzuwenden, um eben neue Konflikte auf die Bühne zu bringen, die nicht mehr der Erwartung entsprachen, die Bühne stehe für den Ort eines einfühlsamen Austragens von Konflikten durch Rede und Handlung. Es handelte sich um die Theoretischer Rahmen 97 Bewältigung neuer Themen, denen gegenüber der Dialog und die Vorstellung eines verantwortlichen Individuums zu kurz kommen, was die absolute Dramenform zu sprengen drohte. Dies würde u.a. bedeuten, die Zuschauerschaft vor neue Formen zu stellen. Dem versuchten die Autoren mit allerlei Tricks und einfallsreichen Lösungen zu entgehen. Ihre Stücke handelten von sozialen Missständen, von der Auflösung traditioneller Bindungen, vom lähmenden Gewicht der eigenen Vergangenheit, von der Unmöglichkeit eines selbstbestimmten Handelns, von der Dezentrierung des Subjekts in der modernen Massengesellschaft u.a. Solche Themengefüge passten nicht nur nicht mehr in die alten, aber publikumsbeliebten Formen, sondern überhaupt in die Darstellbarkeit angesichts eines Publikums. Sowohl die Darstellung äußerer Umstände als auch diejenige intimster Widersprüche wiesen immer wieder über die Schranken des absoluten Dramas hinaus. Bei den großen Dramatikern der Jahrhundertwende wurde also deutlich, dass die Konventionen des absoluten Dramas gesprengt würden. Die Entfremdung des Individuums gegenüber der Industrialisierung und Verstädterung, aber auch gegenüber sich selbst sowie gegenüber der einst vertrauten menschlichen Umgebung, erzeugt neue Spannungen, die mit Hilfe des absoluten Dramas nur mit größter Mühe, ja mit ausgesprochenen Tricks seitens der Autoren aufgegriffen werden konnten. Um einen Ausweg aus der Sackgasse bemühte sich im Rahmen unterschiedlicher Lösungsversuche noch eine spätere Generation, bis es dann endlich zum epischen Theater des Bertolt Brecht in der Nachfolge der deutschen Neuen Sachlichkeit kommen konnte. Damit bot sich im 20. Jahrhundert ein zweiter Bezugspunkt für die Bearbeiter von Märchenstücken an, der aber erhebliche Einschränkungen in sich barg. Bevor darauf eingegangen wird, lohnt es sich, die Lösungsversuche in der Bezeichnung Szondis in Erinnerung zu rufen, denn sie zeugen wieder von der immensen Anziehungskraft des absoluten Dramas. Damit sind die Versuche von Pirandello, Sartre, GarcÃa Lorca, Wilder, Priestley oder Arthur Miller gemeint, einen Ort zum Redeaustausch, ja zum Dialog unter Menschen allgemein zu schaffen. Zum großen Teil hängen solche Versuche mit dem Verbreiten existentieller Perspektiven zusammen, die den Wert des Einzelnen wieder in den Vordergrund zu stellen versuchen, auch wenn es dabei eher um das Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit und Nichtigkeit im Schoße der Zeit geht, also um weit weniger als um den Elan der Aufklärung. Bezeichnenderweise haben solche Versuche, für die Würde des Einzelnen gegenüber blinden Mächten zu plädieren, immer wieder nach der absoluten Dramenform gegriffen, solange es um Bühnenstücke gegangen ist. Am ergiebigsten jedoch erweist sich ein Ansatz, der zurückreicht bis zu Shakespeares histories und zugleich die Impulse zur Auflösung der Ortskonvention durch das Stationendrama von Strindberg bis zum Expressionismus übernimmt. Gemeint ist das Epische Theater des Bertolt Brecht, dessen Appell an den nüchternen Zuschauer eine tiefgreifende Erneuerung aller mimetisch-realistischen Verfahren für die Bühnenkunst nach sich gezogen hat. Neben der Theoretischer Rahmen 98 absoluten Form des modernen Dramas bietet es sich als Bezugspunkt für Bearbeiter von Märchenstücken an. Allerdings muss zugleich eingesehen werden, dass die höhere Freiheit in der Handhabung dramaturgischer Mittel paradoxerweise am besten mit einer kritischen Perspektive einhergeht, die die Einfühlung in das Bühnenspiel stören kann. Niemand dürfte sich alsdann wundern, wenn die Annäherungen an die Konventionen des Dramas eher gesucht werden und nur schlimmstenfalls, wenn keine andere Wahl als die völlige Verzerrung des Originalmärchens übrig bleibt, auf die Ästhetik des sonst bewährten epischen Theaters des Brecht zurückgegriffen wird. Auf alle Fälle ist das Epische Theater als eine tiefgreifende Erneuerung der Bühnenkunst anzusehen. Dramatische Texte werden zu hybriden Werken, die epische bzw. erzählerische Elemente (Titelprojektionen, Spruchbänder, Erzählerfigur, kommentierende Songs) in ihren Ausdruck aufnehmen, d.h. sie vereinen dramatische Momente mit erzählerischen Ausdrucksformen. Die Darstellung erzählender Elemente in der dramatischen Struktur wird vor allem durch das „epische Ich“ ermöglicht, das nun in Form einer Dramenperson auf die Bühne kommt. Das „epische Ich“ erlaubt die Bevorzugung der narrativen vor der dramatischen Darstellung der Geschichte. Es stellt eine reflexive Distanz zum Dargestellten dar. Es berichtet über das Geschehen, das sich nicht mehr wie bei der traditionellen Form selbst hervorbringt, sondern durch das „epische Ich“ vermittelt wird. Dieses ist oft nicht direkt in das Geschehen involviert, sondern wird zu dessen Erzählinstanz. Die Episierung des Dramas führt zu einer „Einbeziehung des Dichters, der als episches Ich das Wort nimmt“, so Szondi (1963: 98) aufschlussreich. Die Episierung des Dramas im 20. Jahrhundert prägt sich nach Szondi bei verschiedenen Autoren in der Tat unterschiedlich aus. Als episierende Alternativen zum Drama nennt er u.a. das expressionistische Drama, die politische Revue, die Montage und das Epische Theater. Bei all diesen von Szondi unter „Lösungsversuche“ eingeordneten Erscheinungsformen, die das Drama um neue Gestaltungsmöglichkeiten erweiterten, kommt die episierende Synthese voll zum Tragen. Diese entwickelt aus den neuen Inhalten eine entsprechende neue Form und bringt damit Form und Inhalt, also Ausdruck und Bedeutung, wieder zur Deckung. Das expressionistische Drama (Kaiser, Toller) geht auf Strindbergs Stationendrama zurück (Szondi 1963: 105ff.) und löst die Handlung in einer ekstatischen Ãœberfülle an Bildern auf. In der politischen Revue des Regisseurs Erwin Piscator erscheinen die Bilder, wie im sozialen Drama des frühen Hauptmann, als Ausschnitte und daher als Hinweise auf Äußerliches (SZondi 1963: 110ff.), und die Einbeziehung des Films zur Aktualisierung des Geschehens bestätigt vollends den Sieg des Epischen (Szondi 1963: 112f.). Weitere formelle Neuerungen stellen neben dem Nebeneinander von Bühnengeschehen und Leinwandgeschehen auch Bildprojektionen dar, ferner Chöre und Aufrufe, die sich unmittelbar an das Publikum wenden. Piscator stellt neue Mittel der Technik in den Dienst der Bühne: Er setzt laufende Bänder, Theoretischer Rahmen 99 Simultanbühnen und Drehscheiben ein (Szondi 1963: 114) und hebt damit die Guckkastenform des Theaters auf.103 Die traditionell strenge Komposition des Dramas durch eine Folge von fünf Akten, die jeweils in durch das Hinzukommen oder das Abtreten von Figuren markierte Auftritte gegliedert waren, ist im 20. Jahrhundert von einer lockeren Szenenfolge abgelöst worden. Dabei hat nicht selten die vom Film übernommene Technik der Montage die Vorherrschaft des herkömmlichen Handlungsaufbaus ersetzt, wie sie bei Bruckner, etwa in Die Verbrecher (1929), anzutreffen ist. Der Zuschauer erfährt so die Handlung durch das „epische Ich“, das als unsichtbare Hand der Montage sozusagen alle Fäden in der Hand hält. Nach der Montagetechnik werden die miteinander nicht zusammenhängenden Szenen nebeneinander gestellt, wodurch weder eine einheitliche, organische Handlung noch ein zeiträumlicher Zusammenhang entstehen können (Szondi 1963: 126f.). Brecht steht ebenso wie der Regisseur Piscator in der direkten Nachfolge des Naturalismus sowie in nächster Zeitgenossenschaft zur Neuen Sachlichkeit. Schon ins naturalistische Drama waren Elemente des Epischen eingedrungen, da nicht mehr die Beziehung des Menschen zu den Mitmenschen, sondern der soziale Hintergrund zum anonymen Hauptdarsteller geworden war. Wie dem Naturalisten Hauptmann geht es Brecht wesentlich um die Miteinbeziehung der realen sozialen und ökonomischen Lebensumstände der Menschen, um Objektivität und einen naturwissenschaftlichen Blick auf die Bedingungen seiner Zeit. Anders als Hauptmann geht Brecht nun einen Schritt weiter und fordert, dass sich der wissenschaftliche Blick, dem sich die Natur unterwerfen musste, nun den Menschen zuwende (vgl. Kleines Organon für das Theater, Brecht 1993). Insofern vergleicht er das Theater mit einem wissenschaftlichen Labor, in dem „die zwischenmenschlichen Beziehungen im Zeitalter der Naturbeherrschung, genauer: die »Entzweiung« der Menschen“ (Szondi 1963: 116) abgebildet werden sollen. Wegen der Grundeigenschaften des Dramas war ihm jedoch vollständig klar, dass ein solches Vorhaben nicht durch die überlieferte dramatische Form realisiert werden konnte. Dazu bedurfte es vielmehr einer neue Bauform, deren Strukturen Brecht ausdrücklich als „episch“ bezeichnet. Zur Bestimmung des Begriffs soll auf das bekannte Brecht-Schema mit einigen der ersten theoretischen Ãœberlegungen zum Epischen Theater hingewiesen werden (vgl. die Anmerkungen zur Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, Brecht 1967). Darin stellt Brecht (1967: 1009f.) die „dramatische Form“ der „epischen Form“ des Theaters gegenüber. Erwähnenswert erscheinen an dieser Stelle vor allem die folgenden Hinweise: 1) Im Gegensatz zum dramatischen Theater „verkörpert“ die Bühne in der epischen Form 103 Die Revueform diente als Folie für eine spezielle Dramaturgie des deutschen Jugendtheaters ab den 1970er Jahren. Vor allem freie Gruppen, wie z.B. das Grips Theater, knüpften in ihren Stücken an die Tradition der politischen Revue an, wie sie Piscator bekannt gemacht hatte (vgl. dazu Jahnke 1996: 77). Theoretischer Rahmen 100 des Theaters nicht einen Vorgang, sondern erzählt ihn. 2) Der Zuschauer wird im epischen Theater nicht über das Sprungbrett der Identifikation in die Handlung des Stückes hineinversetzt, sondern ihr im Gegenteil vielmehr diesem gegenübergesetzt. Dabei macht die von Brecht entwickelte Theaterform aus dem willenlos sich Identifizierenden Zuschauer den aktiven Betrachter. Grundsätzliche Absicht ist es, den Zuschauer aus seiner gewohnt passiven Haltung, die durch die Suggestion (bzw. Einfühlung) des Dargestellten entsteht, herauszuholen und ihn zu einer kritischen Stellungnahme anzuspornen. 3) Nicht der Ausgang, sondern der Gang, also der Verlauf der Handlung ist für Brecht wichtig. Damit ist in diesem Zusammenhang auch die Aufwertung der einzelnen Szenen im Sinne ihrer autonomen Bedeutung berührt, die wiederum im Gegensatz zum klassisch-dramatischen Strukturprinzip steht. Was den Zeitablauf anbelangt, so liegen häufig zwischen den einzelnen Szenen (oft auch als „Bilder“ bezeichnet) große Zeitsprünge, was offenbar im krassen Gegensatz zur absoluten Form des Dramas steht. Der Anspruch auf „Verfremdung“ prägt Brechts Theatertheorie. Durch eine verfremdende Darstellung soll dem Zuschauer ein distanziert-kritischer Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er lebt, eröffnet werden (vgl. Punkt 2). Die Distanz zum Geschehen, die dafür nötig ist, wird durch die so genannten „Verfremdungseffekte“ (kurz „V-Effekte“) erreicht (Knopf 1980: 388ff.). Das ganze Theaterspiel kann so durch Prolog, Vorspiel oder Szenenüberschriften als etwas Dargestelltes verfremdet werden. Auch die einzelnen Figuren können sich durch Selbstvorstellung oder Ãœberführung in die dritte Person selber verfremden. Hervorgerufen wird auch der „V-Effekt“ durch Unterbrechungen des Handlungsablaufs – u.a. durch die Einführung von Kommentaren, den Einschub von Zwischenspielen oder den Einbau von Songs und Liedern. Außerdem wird die Verfremdung durch die Schauspielweise verstärkt, indem der Darsteller nicht wie in der traditionellen Theaterpraxis in seiner Rolle aufgeht, sondern Distanz behält; er soll klar als Schauspieler zu erkennen sein. Dazu schlägt Brecht dem Schauspieler bei der Erarbeitung seiner Rolle vor, dass er gewissermaßen die darzustellende Figur zeigt und dabei mögliche Alternativen des Verhaltens erkennen lässt. Das Bühnenbild ist im epischen Theater ein weiteres Merkmal der Verfremdung: Die Bühne wird nur mit den notwendigsten Requisiten ausgestattet, sie kann auch eine Leinwand zur Projektion von Texten und Bilddokumenten besitzen, Lichtquellen sind teils deutlich zu sehen. Dem Zuschauer soll Theoretischer Rahmen 101 nicht wie im klassischen Theater eine andere „Welt“ vorgetäuscht werden; er soll vielmehr durch die verfremdende Darstellung das Schauspiel klar als solches erkennen.104 Somit bietet sich Brechts Episches Theater als ein Satz bewährter stilistischer Mittel, der genauso wie die Konventionen des absoluten Dramas allen Bearbeitern von Märchenstücken zur Verfügung steht. Dennoch darf es nicht verwundern, wenn epische Mittel auch bei der Bühnendarbietung von Erzmustern der epischen Kunst, so wie Märchen es sind, dennoch nicht unbedingt vorgezogen werden. Episches Theater setzt auf Abstand und Distanz, was von Bearbeitern nicht unbedingt vorgezogen zu werden braucht. Darüber hinaus war Brecht ein großer, einmaliger Dichter, der seine Sprache vergleichbar mit Shakespeare gehandhabt hat. Bei aller Anziehungskraft, die Bearbeiter für Brecht und sein Episches Theater empfunden haben mögen, erweisen sich die genannten Einschränkungen als echte Nachteile, die Bühnenbearbeiter eventuell von einer kompromisslosen Nachahmung Brechts abgehalten haben mögen. 2.1.2 Annäherung an das Märchen als literarische Gattung Die Besprechung der Gattung Märchenstück macht eine Auseinandersetzung mit dem Begriff „Märchen“ erforderlich. Bei allem Anschein von Selbstverständlichkeit ist es nicht leicht, ihn zu erfassen und einzugrenzen. Die Gattungsbezeichnung „Märchen“ ist ein weit gefasster Begriff und wird einmal eingeschränkter, einmal ausgedehnter verwendet. Im Hinblick darauf wurden daher seitens der Märchenforschung Begriffe wie „Märchen im eigentlichen Sinn“ und „eigentliche Märchen“ geprägt. Im Mittelpunkt stehen die nach dem Verzeichnis von Aarne/Thompson/Uther (ATU) so genannten „Zauber- oder Wundermärchen“ (Lüthi 1990a: 2 u. 17). Es gibt zahlreiche Definitionsversuche zur Bestimmung des „eigentlichen Märchens“. Gemeinsam ist ihnen die Verbindung des Märchenbegriffs mit den Ausdrücken „Zauber“, „Wunder“ und „Übernatürliches“. Im Allgemeinen ist das Märchengeschehen vor allem durch wunderbare Begebenheiten bestimmt, die den allgemein anerkannten Naturgesetzen widerprechen (Lüthi 1990a: 2f.). In diesen Märchen begegnen uns „Zauber, Wunder, Ãœbernatürliches“ als etwas völlig Selbstverständliches. Darin herrscht bei allen Märchenforschern von Jolles (1999 [1930]) über Lüthi (2005) bis Klotz (1985) Einigkeit. Weiterhin umfasst „Märchen“ mehrere Subgruppierungen. Neben den zu den „eigentlichen Märchen“ gehörenden Novellen- und Legendenmärchen gibt es auch die so genannten 104 Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre knüpfte das Berliner Grips-Theater an die von Brecht entwickelte Form an. Auf literatur- und theatertheoretischer Ebene besteht zwischen dem Konzept des „emanzipatorischen Kindertheaters“ à la Grips und dem Epischen Theater Brechtscher Prägung weitgehende Ãœbereinstimmung. Auf formaler Ebene z.B. ist in den frühen Grips-Stücken der Einfluss Brechts deutlich zu erkennen (ausführlich zum Erbe Brechts beim Grips-Theater vgl. Fischer 2002: 97ff.). Theoretischer Rahmen 102 „Schwank-“ und „Tiermärchen“ (Pöge-Alder 2011: 28; Lüthi 1990a: 16). Zwischen den verschiedenen Subgruppierungen lässt sich oft nur schwer unterscheiden, da Ãœbergänge sowie Ãœberlappungen formaler und inhaltlicher Natur zwischen ihnen häufig fließend sind (Lüthi 1990a: 17). Gemeinsam sind ihnen Märchenmotive; unterschieden werden sie durch deren Kombination mit anderen Motiven und ihre Darstellungsart (Pöge-Alder 2011: 48). So verfügen Novellenmärchen über eine wesentlich größere mimetische Veranlagung als die Zaubermärchen, denn die zauberischen Elemente fehlen hier ganz und werden etwa durch unlösbare Rätsel ersetzt, wie bei der Klugen Bauerntochter (KHM 94). In novellenartigen Märchen geht es um Liebe, Treue, Schicksalsmächte und Verbrechen (Lüthi 1990a: 18). Legendenmärchen folgen hingegen in etwa dem Schema der Zaubermärchen, nur treten in ihnen Legendenfiguren wie die Jungfrau Maria auf; sie zeichnen sich durch einen belehrenden Schluss aus (z.B. Marienkind, KHM 3). Schwankmärchen gelten als „Mittelgattung“ oder „Zwischengattung“, die Zaubermärchen und Schwank miteinander verbinden (Uther 2007: 335; Solms 1999: 98). So übernimmt das Schwankmärchen vom Zaubermärchen das dreiteilige Handlungsschema (Panzer 1982: 40) sowie die wunderbaren Figuren (Riesen, Teufel usw.), das Wunder an sich aber fehlt (Solms 1999: 98). Dabei wird das Märchenwunder ersetzt durch Mut und List des Helden gegen die Ãœbermacht des Starken, so etwa in Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) (Solms 1999: 99; 2009: 194f.). Das Schwankmärchen erinnert mehr an eine Parodie oder Satire denn an das übliche Märchengeschehen: Die Ordnung des irdischen Daseins wird dabei in Frage gestellt; Wesen und Prägungen von Menschen oder Tieren werden überspitzt dargestellt, um sich über Schwächen oder auch die vermeintliche Stärke anderer lustig zu machen. Bei den Tiermärchen schließlich, z.B. das von Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27), sind die Hauptfiguren oder Träger der Handlung keine Menschen, sondern nahezu ausschließlich anthropomorphisierte Tiere (Bies 2009: 624). Viele von den Tiermärchen sind auch schwankhafte Erzählungen (Solms 1991: 201). Bei aller Bedeutung der Erzählmotive als Merkmale einer solchen literarischen Gattung, ist es doch ersichtlich, wie schwer aus deren Vielfalt eine einheitliche Gattungscharakterisierung zu gewinnen ist. Insofern ist die Forschung auf weitere Annäherungen angewiesen, nämlich einerseits bezüglich der Eingriffe durch einen Vermittler auf eine Typisierung der Texte hin, andererseits auf Grundlage des Zusammenspiels der Motive, wobei vom mimetischen Wert der Motive in strengerem oder in schwächerem Grad abgesehen wird. Ersteres Einordnungsfeld wird durch die Unterscheidung zwischen „Volks-“ und „Kunstmärchen“ bezeugt, die im frühen 18. Jahrhundert besondere Popularität vor allem durch den Einfluss der französischen Feenmärchen fanden (Grätz 1988). Kunst- und Volksmärchen als Unterkategorien des Märchens lassen sich in mehreren Punkten voneinander abheben. So wird z.B dem Volksmärchen eine Autorlosigkeit zugeschrieben, wodurch es sich grundlegend Theoretischer Rahmen 103 vom Kunstmärchen abgrenzt (Lüthi 1990a: 5). Allerdings, wie in Neuhaus auseinandergesetzt, werden beide Untergattungen in der heutigen Märchenforschung anhand unterschiedlicher textinterner Merkmale voneinander unterschieden und definiert (s.u.), und zwar nicht mehr allein anhand der Frage, ob der Märchentext einen bekannten Autor hat oder nicht (Neuhaus 2005: 3ff.). Das zweite Beobachtungsfeld ist durch die sich ergänzenden Beiträge aus der strukturellen Analyse entscheidend bereichert worden, also sowohl aus der formalen Analyse bei Propp als auch aus der Stilanalyse bei Lüthi. Der Beobachter kommt allerdings bald zum Ergebnis, dass die Fragestellung nach dem Vermittler und diejenige nach der Handhabung struktureller Verfahren sich einander kaum ausschließen. Vielmehr bekräftigen Befunde aus der strukturellen Motivdiskussion die Bestimmung eines Volksmärchens gegenüber einem Kunstmärchen. So widerspricht Neuhaus dem Prinzip der Mündlichkeit: „Das hier betonte Definitionsmerkmal der mündlichen Tradierung ist heute nicht mehr haltbar. [...] Bei der mündlichen Weitergabe von Märchen [...] [handelt es sich] um einen Mythos“ (Neuhaus 2005: 3). In dieser Hinsicht führt Neuhaus weiter aus, dass dem Volksmärchen das Merkmal der mündlichen Weitergabe nicht abgesprochen werden solle, nur müsse dessen Bedeutung relativiert werden. Veränderungen durch Oralität seien bis zum 18. Jahrhundert oftmals aufgrund von Analphabetismus geschehen, oder weil schriftliche Zeugnisse fehlten. All dies sei aber nicht mehr rekonstruierbar (Neuhaus 2005: 3f.). Die Zuordnung „Volksmärchen - mündlich tradiert, kein Autor“ und „Kunstmärchen - Autor“ ist für Neuhaus auch nicht mehr haltbar, so meint er weiter: „Alle Märchen haben einen Autor, selbst wenn der sich heute nicht mehr feststellen lässt“ (NeuhauS 2005: 3). Unter Rückgriff auf verfügbare Untersuchungen zu Grimms Märchen (u.a. Rölleke, Bluhm) wird dann bei ihm an vielen Beispielen aufgezeigt, wie sehr die Märchen von den Brüdern Grimm stilisiert und bearbeitet wurden, dann aber als „authentisch“ und „natürlich“ ausgegeben wurden (Neuhaus 2005: 136ff.). Hier soll das „Märchen“ nach wie vor als Form der volkstümlichen Erzählprosa in Betracht gezogen werden (Schweikle 1990: 472). Neben dem Versuch einer Definition des „Märchens“ im Hinblick auf Struktur, Form und Wesenszüge sollen dabei auch Abgrenzungen zwischen den in der germanistischen Literaturwissenschaft eingeführten Begriffen „Volksmärchen“ und „Kunstmärchen“ getroffen werden. Das „Märchen“ interessiert uns vor allem in Bezug auf dessen gattungsspezifische Grundmerkmale. So wird unser Hauptaugenmerk zunächst darauf liegen, was unter einer märchenhaften Struktur zu verstehen ist (s. 2.1.2.1). Ãœber phänomenologische Belege zu gattungsspezifischen Merkmalen hinaus sind auch Aspekte wie der Kontext, aus dem Märchen und Urheber stammen, sowie die Ãœberlieferungs- und Wirkungsgeschichte der Märchen für unser Anliegen relevant. Wichtige Ergebnisse dazu haben philologische Deutungsansätze, insbesondere die Beiträge zur Grimm-Philologie Theoretischer Rahmen 104 geliefert, die sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (insb. ab den 1970er Jahren) zur spezifischen Erforschung des umfangreichen Werks der Brüder Grimm, seiner gesellschaftlich-historischen Bedingungen und weitreichenden Rezeption herausgebildet hat. Vor allem für das Phänomen der „Buchmärchen“, also der zwischen „Volks“- und „Kunstmärchen“ stehenden Texte (Bausinger 1979: 974ff.) hat sich die philologische Methode als besonders ergiebig herausgestellt. Besondere Aufmerksamkeit gilt den Märchen der Brüder Grimm (s. 2.1.2.2). Dabei wird der Versuch unternommen, die aktuelle Forschung zur Entstehung und Entwicklung der Grimmschen Märchensammlung mit einzubeziehen. Berücksichtigt werden sowohl das einzelne Märchen als auch die KHM als Gesamtkonzept. Die Untersuchungen Röllekes und Uthers haben eindeutig nachgewiesen, dass die Grimms ihre Texte nicht in fertiger Form vorliegend hatten, sondern sie aus Büchern, Zeitschriften und mündlicher Ãœberlieferung gesammelt und somit ausschließlich Texte in bereits bearbeiteter Form übernommen haben, und dadurch lediglich das bisher letzte Glied einer langen Erzähltradition sind. 2.1.2.1 Aufbaumerkmale des Märchens 2.1.2.1.1 Propps formale Ansätze Der literaturtheoretische Ansatz des Formalisten Vladimir Propp (1895-1970) stellt sich als Hilfe beim Aufspüren formeller Regelmäßigkeiten des Märchens heraus, die über funktionelle oder ideologische Erklärungszusammenhänge hinausgehen. Propp arbeitet in der Tradition des russischen Formalismus um 1920. Gemeinsames Ziel der russischen Formalisten ist es, sämtliche Einheiten eines Systems (bzw. einer Struktur) herauszuarbeiten und einzuordnen, sowie die Regeln ihrer Kombinationen zu beschreiben. Vor allem werden die formalen Regeln der Textkomposition gesucht. Dabei werden außerliterarische Bezüge (z.B. der Kontext, aus dem die Literatur und insbesondere der Autor stammen, die sozioökonomischen und historischen Bedingungen usw.) ausgeblendet und damit die Literatur als autonomer Bereich betrachtet. Für die Formalisten steht die einem Werk zugrundeliegende Struktur im Mittelpunkt der modernen Literaturwissenschaft. Mit seiner vom russischen Formalismus geprägten Märchen-Morphologie (russ. 1928), die ihre Wirkung erst im Zuge einer englischen Ãœbersetzung aus dem Jahre 1958 entfaltet hat (erst 1972 ins Deutsche übersetzt),105 hat Propp beachtliche Pionierarbeit auf dem Gebiet der strukturalistischen Erzählforschung geleistet (Nünning 2004: 600). Darin postuliert er, analog zur Beschreibung von Organismen in der Biologie, Strukturmäßigkeiten des Märchens als 105 Zum Herkunftsnachweis aller hier und im Folgenden angeführten Belege s. die deutsche Ausgabe von 1975. Theoretischer Rahmen 105 literarischer Gattung ableiten zu können, die mit Hilfe von Strukturformeln darstellbar sind. Propp ist darüber hinaus ein erfolgreiches Analyseverfahren von Figurenkonstellationen in Volksmärchen zu verdanken. Ãœberhaupt gilt Propps Figurentypologie heute als einer der einflussreichsten Beiträge zur Märchenforschung. Propp nennt seine Methode morphologisch und versucht, die Frage nach dem Urmärchen durch die systematische Analyse eines begrenzten Satzes von russischen Volksmärchen zu beantworten. Er nutzt vor allem die den Grimmschen Märchen vergleichbare Märchensammlung von Alexander N. Afanassjew (1826-1871), die 1855-1863 erschien und ebenfalls Bearbeitungen in den Tendenzen des 19. Jahrhunderts unterlag. Auch wenn Propp seine Untersuchungen auf die von Afanassjew gesammelten Märchen, insbesondere auf die „Zauber- oder Wundermärchen“ bzw. „Märchen im eigentlichen Sinn“106 der Sammlung eingeschränkt hat, lassen sich seine Grundüberlegungen und zentralen Erkenntnisse weitestgehend auf andere europäische Volksmärchen übertragen (Poser 1980: 80) – auch auf die von den Brüdern Grimm gesammelten KHM. Für Propp sind Märchen fixierte Texte und nicht in den historischen Zusammenhang ihres Zusammentragens und Veröffentlichens eingebettet (Poser 1980: 195). Bei seiner Analyse geht Propp insofern nach der Struktur der Märchen vor, wozu er die Handlungsabläufe und die handelnden Personen betrachtet. Auch beabsichtigt er, die wiederkehrenden Elemente des Zaubermärchens zu untersuchen. Aus der Untersuchung des Afanassjew-Korpus folgert er, dass Märchen einen einzigen Typus darstellen, in dem vor allem dieselben „Funktionen“ (so nennt Propp die kleinsten Einheiten der Handlung) immer wieder auftauchen: Während Namen und Attribute einer handelnden Person verschieden sein können, bleiben ihre Handlungen bzw. „Funktionen“ stets konstant (Propp 1975: 25). Propps grundlegende Entdeckung besteht also darin, dass es zahllose Zaubermärchen gibt, die einen völlig verschiedenen Inhalt, aber die gleiche Struktur haben. Er sieht in der Struktur das Konstante, der Inhalt sei dagegen variabel. Außerdem ist Propp davon überzeugt, dass in den Zaubermärchen die Handlungen wichtiger als die Handlungsträger seien – er hält die Handlungen für das Wesentliche: „Die Funktionen der handelnden Personen“ sind „unabhängig davon, von wem oder wie sie ausgeführt werden. Sie bilden die wesentlichen Bestandteile des Märchens“ (Propp 1975: 27). Als Beispiele für „Funktionen“ nennt Propp u.a.: „Ein Familienmitglied verlässt das Haus für eine Zeit“; „dem 106 Der Begriff stammt von Walter A. Berendsohn (1884-1984). „Eigentliche Märchen“ sind für ihn nur die „Liebesmärchen“: „Das Märchen ist eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, die ihren Abschluss in der endgültigen Vereinigung des Paares findet. Die Vollform hat zwei Abschnitte; der eine handelt von den Hindernissen vor der ersten Vereinigung, der andere von der Trennung und den Hindernissen bis zur Wiedervereinigung“ (Berendsohn 1968: 35). Auch Lüthi (1990a: 2) weist auf den Begriff hin und stellt fest, dass die „eigentlichen Märchen“ von der Märchenforschung größtenteils als Zauber- oder Wundermärchen genommen werden, da sie den Kern des von Antti Aarne geschaffenen und von Stith Thompson bearbeiteten, heute als grundlegend betrachteten Typenregisters bilden. Theoretischer Rahmen 106 Helden wird ein Verbot erteilt“; „der Held und sein Gegner treten in einen direkten Zweikampf“; „der Feind wird bestraft“; „der Held vermählt sich und besteigt den Thron“. Propps Kernthese legt nahe, dass es 31 verschiedene „Funktionen“ bzw. Handlungseinheiten für das Zaubermärchen gibt (Propp 1975: 31-65). Viele von denen gruppiert er paarweise als Gegensätze, wie z.B. Mangel-Beseitigung, Verbot-Verletzung, Kampf-Sieg usw. Dies heißt allerdings nicht, dass alle 31 „Funktionen“ in jedem Märchen enthalten seien, wohl aber, dass alle „Funktionen“ eines gegebenen Märchens in der idealtypischen Reihe zu finden sind, und zwar an der richtigen Stelle (Propp 1975: 27f.). Demnach ließe sich die Struktur jedes Märchens als eine Aneinanderreihung von „Funktionen“ bestimmen. Die im Märchen aufeinander folgenden „Funktionen“ bilden nach Propp eine lineare Kette, die sich durch eine klare und feste Strukturierung auszeichnet. Propp (1975: 234) spricht in diesem Zusammenhang von „eisernen Kompositionsgesetzen“.107 So nimmt die Märchenhandlung ihren Ausgang von einer „Schädigung“ oder einem „Fehlelement“, worauf der Märchenheld108 ausziehen und Abenteuer oder schier unlösbare Aufgaben zur Behebung eines solchen Mangels bewältigen muss. Die am Anfang dargestellte Konfliktsituation entwickelt sich dann über „vermittelnde Funktionen zur Hochzeit oder anderen abschließenden Funktionen“. Propp (1975: 91) spricht hier von „konfliktlösenden Funktionen“. Das Gesetz der Dreizahl und das positive Märchenende sind dabei maßgebliche Faktoren. Darüber hinaus postuliert Propp in seiner Märchen-Morphologie sieben Grundtypen von Handlungsträgern bzw. Figuren, die den genannten 31 „Funktionen“ zugeteilt werden: Gegenspieler (oder Schadenstifter), Schenker (oder Lieferant), Helfer, Zarentochter (oder die gesuchte Gestalt) und deren Vater, Sender, Held und falscher Held (Propp 1975: 79f.). Demnach kennt das Märchen also sieben „handelnde Personen“, genauer: Rollen – denn ein und dieselbe Figur kann mehrere Rollen übernehmen (Propp 1975: 98 u. 122). Im handlungsorientierten Ansatz Propps werden Figuren also auf ihre Funktion in der Tiefenstruktur reduziert und damit nicht inhaltlich, sondern strukturell analysiert (wogegen Lüthi dem Inhaltlichen Nachdruck verleihen wird: Für ihn ist der Held nicht bloß ein Instrument im Dienste der Handlung. Als repräsentativer Vertreter des Menschen steht der Held gleichzeitig als Handlungsträger im Mittelpunkt des Märchens). Propps „Funktionen“ bezüglich der Märchenfiguren sind in der Märchenforschung und darüber hinaus weitgehend übernommen worden. Allerdings nicht ohne Kritik. Kritisch hinterfragt wird Propps Anspruch, erst und allein mit Hilfe seiner Methode und mit der Bestimmung der „Funktionen“ klären zu können, was das Märchen an sich darstellt. Kritisiert 107 Dies hat durchaus Verwandtschaft mit der Definition, die Aristoteles dem mythos bzw. der Handlung als „Seele des Dramas“ gibt: Handlung sei eine Zusammenfügung der Geschehnisse mit fester Folge von „Anfang“, „Wende“ und „Lösung“ (Aristoteles 1994: 57). 108 Wenn hier und im Folgenden vom Märchenhelden bzw. Helden die Rede ist, so ist auch die Märchenheldin bzw. Heldin gemeint, auch wo dies nicht ausdrücklich erwähnt wird. Theoretischer Rahmen 107 wird ebenso, inwiefern bei der Auswahl des Untersuchungsmaterials bereits eine Vorentscheidung getroffen wird, was als Zaubermärchen zu gelten hat. Ihm wird insofern nicht selten vorgeworfen, dass sich seine Untersuchung ausschließlich auf diejenigen russischen Zaubermärchen beziehen lässt, die bereits in sein Untersuchungskorpus aufgenommen wurden. Dabei könnte man durch eine etwas gröbere Einteilung der Funktionen sicher eine höhere Generalisierbarkeit schaffen (Brackert 1980: 31ff.). Auch wirft Brackert (1980: 37) Propp vor, dass sein Analysemodell schnell an seine Grenzen stößt, sobald man den Rahmen des Märchens verlässt. Andere Märchenforscher, wie Bausinger (1980: 52f.) oder Lüthi (2005: 118), machen darauf aufmerksam, dass Propps gekürzte Strukturformeln (z.B. Mangel/Beseitigung, Verbot/Verletzung, Kampf/Sieg) zu allgemein seien und sich damit auch auf andere literarische Gebilde neben dem Märchen problemlos übertragen ließen. Und Dundes findet den absoluten Gebrauch des Proppschen Begriffs „Funktion“ befremdend und versucht dies durch das Wort „motifeme“ (Motivem) zu ersetzen (Lüthi 1990a: 120; Bausinger 1999: 258). Trotz aller Kritik ist nicht zu verkennen, dass Propps literaturwissenschaftlich-formale Herangehensweise einen neuen Weg der Märchenforschung beschritten hat. Mit seinen Untersuchungen zur „Morphologie des Märchens“ hat er wichtige Grundlagen zu einer strukturalen Analyse von Erzähltexten und besonders der Gattung der Märchen geliefert. Das von Propp entwickelte Verfahren zur Analyse von Märchen wirkte anregend in der gesamten Erzählforschung und fand in der zweiten Jahrhunderthälfte des 20. Jahrhunderts Erweiterungen und Fortsetzungen, wobei diese insbesondere auf die strukturalistischen Ansätze der so genannten Pariser semiologischen Schule verweisen, der u.a. Roland Barthes (1915-1980), Claude Bremond (geb. 1929), Algirdas J. Greimas (1917-1992) und Tzvetan Todorov (geb. 1939) angehörten (Zuschlag 2002: 36ff.). Propps Arbeit war ebenfalls anregend für andere bekannte französische Strukturalisten wie z.B. Étienne Souriau (1892-1979). In ausdrücklicher Anknüpfung an Propp versuchte er, Propps erfolgreiches Analyse- und Beschreibungsverfahren von Figurenkonstellationen in Volksmärchen auf dramatische Texte anzuwenden (Souriau 1950: 83ff.).109 Das hat für unsere Zwecke manchen großen Nutzen gebracht, insbesondere beim Vergleich der Träger der grundlegenden Handlungfunktionen im Märchen und im Bühnenstück. In der Nachfolge Propps ragt der Schweizer Märchenforscher Max Lüthi (1909-1991) heraus: Beide haben ein Muster entworfen, das auf eine bestimmte Gruppe von Märchen zutrifft, insbesondere auf die KHM der Brüder Grimm und die durch diese Tradition beeinflussten Aufzeichnungen in anderen europäischen Ländern. Dabei fokussiert Lüthi aber andere Aspekte: In seiner Formbetrachtung versucht er im Vergleich zu Propps „reduktionistischem“ Verfahren, das sich auf die Organisation der Abfolge der Motive konzentriert, die „ästhetischen Werte“ dagegen eher vernachlässigt (Bausinger 1984: 343), 109 Eine ausführliche Darstellung zum Modell Souriaus findet sich bei Asmuth (1984: 99ff.). Theoretischer Rahmen 108 stilistisch-ästhetische Fragen deutlicher zur Geltung kommen zu lassen. Insofern wäre Lüthis Leistung als „eine Art Gegenstück zu Propps Strukturanalyse“ zu werten, wie Lüthi selbst formuliert (Lüthi 2005: 3). Lüthi hält Propps grundlegende Aussage, dass die Struktur aller Märchen gleich sei und lediglich seine Inhalte voneinander abweichen nicht in jedem Fall vertretbar. Für ihn kann umgekehrt auch ein und dieselbe Aussage in ganz verschiedenen gebauten Sätzen formuliert werden. In diesem Fall bliebe der Inhalt konstant und die Struktur wäre variabel. In der Tat sollte man aber nach Lüthi statt von konstanten und variablen besser von strukturbildenden und nicht strukturbildenden Elementen sprechen. Trotz der angegebenen Einwände erkennt Lüthi aber auch die weitreichende Bedeutung von Propps Werk an – er hat die Proppsche Leistung im letzten Kapitel seines dem Volksmärchen gewidmeten Werkes gewürdigt (Lüthi 2005: 115ff.) – und stellt dabei fest, dass sich seine eigene Stilanalyse und Propps Strukturanalyse ergänzen (Lüthi 2005: 121). 2.1.2.1.2 Lüthis stilistischer Ansatz Ab den 50er Jahren stellt Lüthi die grundlegende Merkmalbestimmung für die literaturwissenschaftliche Märchenforschung dar. Darin analysiert er neben der Grimmschen Märchensammlung Volksmärchen aus ganz Europa110 und hebt deren formale und stilistische Merkmale hervor. Diese beschreibt er anhand einer Grundform, die eine Konstruktion ist: Es gibt sie eigentlich nicht (Lüthi 2005: 7). Dabei handelt es sich um eine idealtypische Sicht bzw. eine typologische Beschreibung des Märchens, die geographische und individuelle Eigenschaften außer Acht lässt. Entsprechend beschäftigt er sich auch nicht mit der sozialhistorischen Einbettung der von ihm ausgewählten Märchen (Lüthi 1990a: 25). Als Literaturwissenschaftler geht es Lüthi um eine formale Literaturbetrachtung: Ihn interessiert das Märchen vor allem in seiner schriftlich fixierten Erzählform und zwar sowohl in Hinblick auf den Stil als auch auf die Struktur. Lüthi ist hierbei mit der Ãœberzeugung Propps einverstanden, dass die Struktur, nicht der Inhalt die Grundlage des Märchens bilde. Als grundlegende Erkenntnis gilt, dass das europäische Volksmärchen trotz unterschiedlichster Variationen eine Grundform besitzt, die durch gleiche Wesenszüge charakterisiert ist (Lüthi 1990a: 25). Demnach zeichne sich der Grundtyp des europäischen Volksmärchens durch zwei wesentliche Merkmale aus: Zum einen neigt es zu einem bestimmten Personal, Requisitenbestand und Handlungsablauf, zum anderen zu einer bestimmten Darstellungsart (Stil). Die Darstellungsart ist wiederum durch bestimmte Formkriterien gekennzeichnet, für die Lüthi die Begriffe Eindimensionalität, Flächenhaftigkeit, 110 Insgesamt werden Quellen aus 15 Sprachräumen Europas ausgewertet. Theoretischer Rahmen 109 abstrakter Stil, Isolation und Allverbundenheit sowie Sublimation und Welthaltigkeit prägte (Lüthi 2005: 8ff.). Die von Lüthi gewonnenen Merkmale des europäischen Volksmärchens sind heute allgemein im Gebrauch, da sie häufig bei Märchen im Stil der KHM anzutreffen sind. Die Märchen der Brüder Grimm spielen aufgrund der Vielzahl der von Lüthi untersuchten Märchen zum einen nur eine untergeordnete Rolle, und sie haben zum anderen dadurch, dass vor allem Wilhelm Grimm gestalterisch in die Texte eingegriffen und sie in einzelnen Zügen verändert hat, ihren eigentlichen Charakter als mündlich überlieferte Märchen eingebüßt. Dies beeinträchtigt allerdings nicht ihren Grundcharakter als Volksmärchen, sodass eine Anwendung der von Lüthi gewonnenen Ergebnisse auf die Märchen der Brüder Grimm gerechtfertigt ist. a) Handlung Für alle Märchen stellt Lüthi zunächst einen besonderen Handlungsverlauf fest, der dem einfachen Schema Schwierigkeiten-Bewältigung („Kampf/Sieg†bzw. „Aufgabe/Lösungâ€) folgt (Lüthi 1990a: 25). Den Handlungsbogen teilt er dann in bestimmte Sequenzen ein: Zuerst gibt es eine Ausgangssituation, d.h. einen Konflikt, der zum Aufbruch des Helden führt. Danach folgt der Handlungskern und die Lösung des Konflikts (der zunächst unlösbar schien) durch wunderbare Helfer, Zaubermittel oder Zauberkräfte. Am Ende wird der Held glücklich. Bei der Beschreibung der Ausgangssituation wird in den Schauplatz, den Personenkreis und den Zusammenhang der Geschichte eingeführt. Lüthi und Propp stimmen darin überein, dass der Ausgangspunkt aller Märchen durch einen Mangel oder eine zu überstehende Notlage, eine Aufgabe, ein Bedürfnis oder weitere schwierige Bedingungen gekennzeichnet ist. So werden Kinder im Wald ausgesetzt, weil die Eltern sie nicht mehr ernähren können (wie beispielsweise bei Hänsel und Gretel, KHM 15), drei goldene Haare sollen vom Kopf des Teufels geholt werden (etwa in KHM 29) oder beim Helden überwiegt die Abenteuerlust oder der Vermählungswunsch, sodass er auszieht. Die Bewältigung derartiger Probleme seitens des Helden wird dann im Laufe der Handlung dargestellt (Lüthi 1990a: 25; 1990b: 68). Bei vielen Märchen wird der Handlungsverlauf in zwei, fast immer in drei Handlungsabläufen bzw. Episoden strukturiert. Lüthi spricht in dem Zusammenhang von einer Zweier- und Dreierrhythmusneigung der Märchenhandlung (Lüthi 2005: 20). Eine zweiteilige Handlung liegt vor, wenn sich der Gewinn, Sieg oder Preis als ungesichert herausstellt und erneut dieselbe oder eine ihr ähnliche Schwierigkeit bewältigt werden muss. Die dreiteilige Version betrifft beispielsweise drei Brüder oder einen Protagonisten, der dreimalig konfrontiert wird, also wenn z.B. drei Helden hintereinander ausziehen, drei Aufgaben erledigt werden müssen sowie drei Gegenspieler besiegt oder drei Gegenstände gefunden werden müssen (Lüthi 1990a: 25f.; 1990b: 98). Im Laufe der Handlung kommt es zur Begegnung mit wunderbaren Theoretischer Rahmen 110 Mächten oder übernatürlichen Ereignissen und zwar sowohl guter als auch böser Natur, die sich entweder als behilflich oder als hinderlich erweisen. Die Lösung im Spannungsbogen wird schließlich durch eine Zuspitzung vorbereitet, bei der sich eine Wende ereignet und damit auch eine Lösung sichtbar wird. Mit der Schlusssituation ist fast ausnahmslos ein guter Ausgang verbunden: Am Ende der Geschichte wird das Böse bestraft, das Gute belohnt und die gestörte Ordnung wieder hergestellt. Meist endet das Märchen in einer konfliktlösenden Situation wie einer Hochzeit. Idealtypischerweise erringt der Märchenheld hierbei Reichtum und sozialen Aufstieg. Im Zusammenhang mit der Darstellung der Handlung im Märchen lassen sich weitere Merkmale feststellen. So führt Lüthi aus, dass die Märchenhandlung stets einsträngig und geradlinig ist (Lüthi 2005: 34), d.h. es gibt nur eine Erzählperspektive und keine verzweigten Nebenhandlungen, sondern nur einen geradlinigen Handlungsbogen (Klotz 1982: 80). Insofern betont Lüthi, dass die Märchenhandlung scharf umrissen und inhaltlich stark formelhaft ist (Lüthi 1990a: 26). Motive der Handlung sind dabei die zentralen Themen des Menschseins überhaupt. Dazu zählen die existentiellen Probleme des Zusammenlebens und oft Familienkonflikte wie Geschwisterstreit, Verstoßung (König Drosselbart, KHM 52), Tod, Trennung, Brautwerbung, Kinderlosigkeit (Rapunzel, KHM 12), Kindesaussetzung (Hänsel und Gretel, KHM 15) usw. Neben solchen weltlichen Motiven beinhalten Märchen auch magische Motive wie Begegnungen mit fantastischen Wesen (Zwerge, Hexen, Riesen, Teufel) und die Erlösung Verwünschter (Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich, KHM 1). Im Märchen werden magische und weltliche Motive miteinander vereint und lassen dabei die typischen „Märchenmotive“ entstehen. Dazu zählen beispielsweise der Sieg des Kleinen bzw. Schwachen über das Große bzw. Mächtige (Das tapfere Schneiderlein, KHM 20), die unglückliche oder gar im Tiefschlaf liegende Prinzessin (Dornröschen, KHM 50; Schneewittchen, KHM 53) und der reiche Prinz, der ein armseliges Mädchen heiratet (Aschenputtel, KHM 21). Andere Merkmale der Handlungsdarstellung im Märchen betreffen die chronologische Abfolge der Ereignisse, die durch zeitliche Bestimmungen markiert wird (Lüthi 1990a: 29). Bekannteste Formel epischer Sukzession ist dabei: „Es war einmal, [...]. Nun traf es sich, dass [...] (oder: Es trug sich zu, dass [...])“. Hinzutreten können: „danach“, „ein paar Tage darauf“, „nach einiger Zeit“, „am frühen Morgen“, „als es nun Abend war“ usw. In der Darstellung der Handlungsabläufe wird zudem auf Rückblenden verzichtet. Von einer Eingangsformel an wie z. B. „Es war einmal“geht der Erzählstrang vielmehr nach vorn (Lüthi 2005: 44; 1990b: 69). Das Kunstmärchen weist dagegen keine einsträngige Handlungsstruktur auf, vielmehr gibt es neben der Haupthandlung viele ineinander verschachtelte Nebenerzählungen, die die Haupthandlung umrahmen oder durchweben. Zeitliche Rückblenden kommen im Vergleich zum Volksmärchen häufig vor, die Handlungsstruktur wirkt dadurch deutlich komplexer, was Theoretischer Rahmen 111 sich auch im Satzbau und in der Sprache wiederfindet: Der Satzbau ist raffinierter und mit vielen Nebensätzen durchzogen, das Vokabular ist gehoben und anspruchsvoll, zum Teil weist es schwierige Namen oder Begriffe auf. Nicht selten hat das Kunstmärchen ironische Züge. Was ihm fehlt, ist eines der Kennzeichen des Volksmärchens, also die Formelhaftigkeit: Unbestimmte Eingangssignale wie „Es war einmal...“ oder „Es lebten einmal...“ sind nicht vorhanden, vielmehr werden Handlungsort und -zeit angegeben und detailliert beschrieben (Neuhaus 2005: 8). Wilhelm Hauffs (1802-1827) Das kalte Herz beginnt zum Beispiel folgendermaßen: „Wer durch Schwaben reist, der sollte nie vergessen, auch ein wenig in den Schwarzwald hineinzuschauen [...]“ (zit. n. Stiasny 1995: 114). Auch in Der goldne Topf von E.T.A. Hoffmann (1776-1822) erfährt der Leser gleich zu Anfang genau, wo und wann sich das Geschehen abspielt: „Am Himmelfahrtstage nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs Schwarze Tor und geradezu in einen Korb mit Äpfeln und Kuchen hinein, die ein altes hässliches Weib feilbot [...]“ (Hoffmann 1978: 3). b) Figuren Anders als bei Märchentraditionen aus anderen Kulturkreisen erzählt das europäische Volksmärchen von Menschen und personifizierten Figuren. Lüthi merkt jedoch in diesem Zusammenhang an, dass Märchenfiguren kein „Abbild“ von wirklichen Menschen sind, sondern für das Märchen neu geschaffene Gestalten, die dadurch über ganz spezifische – nicht mehr normalen menschlichen Gesetzen unterliegende – Eigenschaften verfügen (Lüthi 2005: 14). Tatsächlich erinnern die Situation und das Schicksal des verirrten oder ratlosen Märchenhelden an menschliche Grunderfahrungen. Was die Charakterisierung der Haupt- und Nebenfiguren anbelangt, würden sie außer der prägenden Eigenschaft (gut, fleißig, dumm, wunderschön, klug usw.) keine Individualität besitzen. Die Personennamen wären hierzu bezeichnend. Wenn überhaupt ein Name in Frage kommt, so ist es dann ein Allerweltsname, der eine Typisierung bekräftigt: Hansel, Johann und vor allem Hans, für die Heldinnen Gretel, Else, Maria u. dgl. (Lüthi 1990a: 28; auch Panzer 1982: 29). Panzer fügt außerdem hinzu, dass die typisierende Namensgebung fast nur eintritt, wenn Personen des niederen Standes, besonders Bauernkinder, Helden des Märchens sind (Panzer 1982: 29). Oft tragen Märchenhelden auch Namen, die sie durch ein bestimmtes Merkmal kennzeichnen, wobei es sich häufig um sprechende Namen handelt: Dornröschen, Rotkäppchen, Das tapfere Schneiderlein, Schneewittchen. Die Nebenfiguren ihrerseits bleiben überhaupt unbenannt, meist werden sie nur durch Verwandschaftsverhältnisse (Bruder, Mutter, Stiefmutter), Berufsbezeichnungen (Schneider, Bauernjunge) oder gesellschaftliche Rollenzuschreibungen (König, Prinzessin) bezeichnet und wortwörtlich damit angesprochen (Lüthi 1990a: 28). Theoretischer Rahmen 112 In der Märchenwelt werden Verhaltensmuster verschiedenen Figuren zugeteilt (Lüthi 2005: 13ff.). Es besteht ein großer Kontrast zwischen den Gestalten. Eine bestimmte Tugend verkörpert der Märchenheld und gleichzeitig wird das gegenteilige Laster in der Kontrastfigur abgebildet. Da stehen sich Gut (Aschenputtel) und Böse (Stiefmutter), Fleiß (Goldmarie) und Faulheit (Pechmarie), Hochmut (Königstochter) und Bescheidenheit (König Drosselbart), Klugheit und Mut (das tapfere Schneiderlein) und Dummheit und Feigheit (Riesen) klar gegenüber. Eine solche Polarisierung macht die Figuren der Märchen einseitig und damit auch einfacher zu verstehen (Bettelheim 1995: 15f.). Am wichtigsten ist der Märchenheld. Als Träger der Handlung steht er im uneingeschränkten Mittelpunkt des Märchens. Um ihn herum ist alles aufgebaut, sowohl Dinge als auch die Natur (Lüthi 1990b: 24). Er stammt im Allgemeinen aus der „menschlich- diesseitigen Welt“ und hat Figuren aus dem Diesseits und dem Jenseits an seiner Seite, die als Auftraggeber, Helfer (dankbare Tiere, Feen, alte Frauen, kleine Männchen), Gegner (Hexen, Stiefschwestern, Stiefmütter, Riesen, Zwerge) oder bloße Kontrastfiguren auftreten können (Lüthi 1990a: 27). So genannte Kontrastfiguren (häufig Familienmitglieder wie z.B. ältere Brüder oder Schwestern, Stiefgeschwister und Stief- oder Schwiegermütter) spielen dem Helden aus Eifersucht übel mit, indem sie mit dessen Gegnern zusammen arbeiten. Die besonderen Eigenschaften sowie die starken Gegensätze heben zwar die Persönlichkeit des Märchenhelden noch stärker hervor. Allerdings ist der Märchenheld selber keine Persönlichkeit, sondern erscheint auch als allgemeine, entindividualisierte Figur (Lüthi 1990a: 28). Zum Märchenhelden gehört bezeichnenderweise, dass er ein „Wandernder“ und ein „Täter“ ist: „Er durchwandert die Welt und handelt“ (Lüthi 1990b: 159). Allerdings bemerkt Lüthi dazu, dass die Handlung des Helden zu Beginn des Märchens nicht dem eigenen Entschluss entspringt. Nicht durch die innere Regung, sondern durch äußere Anlässe wird der Held zum Handeln gezwungen: Er handelt aus einem Mangel bzw. einer Zwangslage heraus (Lüthi 1990a: 30). Im Laufe der Märchenhandlung werden seine Handlungen dann nicht nur von emotionalen und psychologischen Motiven, sondern ebenso von außen gesteuert. Anzeichen dafür sind Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Ratschläge sowie der Erhalt einer magischen Gabe und der Eingriff von überirdischen Wesen bzw. vermittelnden Instanzen, die Hilfe aller Art leisten (LÃœTHI 1990a: 30; 2005: 16f.). So bekommt Aschenputtel Unterstützung durch die Tauben (KHM 21), Schneewittchen durch die sieben Zwerge (KHM 53) usw. Seinerseits rückt im Kunstmärchen die Gestaltung der Figuren in den Vordergrund: Die agierenden Figuren sind nicht mehr die eindimensionalen Figuren, wie sie aus dem Volksmärchen bekannt sind, sondern vielschichtige Persönlichkeiten, d.h. sie können gute und böse Eigenschaften besitzen, auch wenn in der Regel das eine oder das andere überwiegt. Die wichtigsten Figuren werden psychologisiert. Dazu gehört, dass ihre Handlungen durch psychologische Umstände begründet werden; sie sind auch in der Lage, eine persönliche Theoretischer Rahmen 113 Entwicklung durchzumachen. Oftmals werden die Figuren auch in einer konkreten Gesellschaft und in Alltagssituationen gezeigt (Neuhaus 2005: 8). c) Darstellungsart Als Kennzeichen der märchenhaften Darstellungsart nennt Lüthi die formalästhetischen Kategorien „Eindimensionalität“, „Flächenhaftigkeit“, „abstrakter Stil“, „Isolation und Allverbundenheit“, „Sublimation und Welthaltigkeit“. • „Eindimensionalität“ (Lüthi 2005: 8ff.) erfasst zunächst, dass das Märchen keine Schranken zwischen Diesseits und Jenseits kennt. Es handelte sich also um eine „Zweiwelt-Erzählung“ (Lüthi 1990a: 4). Ãœbergänge zwischen den beiden verlaufen problem- und lückenlos. Dass Schneewittchen das Reich der sieben Zwerge erwandert (KHM 53), ist für den Handlungsverlauf kein darstellerisches Problem. Es fehlt die Dimension des Wunderbaren. Den Figuren kommt nichts außergewöhnlich oder seltsam vor: „Der Märchendiesseitige hat nicht das Gefühl, im Jenseitigen einer anderen Dimension zu begegnen“ (Lüthi 2005: 12): Brüderchen und Schwesterchen wundern sich nicht, dass das Brunnenwasser Brüderchen in ein Reh verwandeln kann (KHM 11). Auch Hänsel und Gretel wundern sich nicht über die Existenz eines essbaren Hauses und verkehren mit dessen hexenhafter Bewohnerin wie mit ihresgleichen (KHM 15). Rotkäppchen und der Wolf etwa sprechen und handeln miteinander, als handle es sich um das Selbstverständlichste der Welt (KHM 26). Wenn Dornröschen nach hundert Jahren aufwacht, rückt das Geschehen weiter, als sei nichts geschehen (KHM 50). Und wenn die Müllerstochter im Rumpelstilzchen-Märchen unerwartet Besuch von einem kleinen Männchen erhält, erschrickt oder wundert sie sich nicht, sie stutzt nicht einmal (KHM 55). Unverzichtbarer Bestandteil des Wunderbaren ist der Animismus, also die Belebung von Gegenständen und von unbelebter Natur oder die Personifikation von Tieren, die folglich auch fähig sind, sich Menschen mitzuteilen. So sitzt im Märchen Von dem Machandelboom (KHM 47) das geschlachtete Brüderchen in Vogelgestalt auf dem Machandelbaum und singt dort die Geschichte seiner Ermordung. Und so singt auch bei Dem singenden Knochen (KHM 28) der ermordete Bruder aus einem Knochen heraus die Anklage gegen den Täter. Die Personifikation von Tieren geschieht vor allem durch die Fähigkeit sprechen zu können. Tiere sind sprachbegabt wie die Menschen und diesen in Freundschaft verbunden. Das Verhältnis ist dabei auch von ihrer Seite ganz menschlich-persönlich gefasst (Panzer 1982: 26f.). Theoretischer Rahmen 114 • „Flächenhaftigkeit“ (Lüthi 2005: 13ff.) würde der Märchenstil ebenso aufweisen. Der Begriff stammt aus der bildenden Kunst und wird insbesondere auf Handlung und Figuren übertragen. Demnach besitzt das Märchen keine räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung. Es stellt alles auf eine Ebene, nämlich die der Handlung, um die gesamte Aufmerksamkeit auf den Handlungskern zu lenken. Dem entspricht der Mangel an fehlender Individualität der Figuren, und im Besonderen auch darin, dass sie keine „lebendige“ Innenwelt haben: Sie sind „Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt“ (Lüthi 2005: 13) und ihre Eigenschaften werden in Form von Handlung ausgedrückt (Lüthi 2005: 15ff.). Im Märchen ist nicht von Gefühlen und Eigenschaften wie Mitleid, Arglosigkeit, oder Edelmut seiner Helden die Rede, sondern es zeigt sie. Eigentlich werden sie nur dann erwähnt, wenn sie den Fortgang der Handlung fördern. Vgl.: „Wenn ein Märchenheld sich weinend auf einen Stein setzt, weil er sich nicht mehr zu helfen weiß, so wird dies nicht berichtet, damit wir seinen Seelenzustand sehen, sondern weil in diesen Fällen gerade diese Reaktion des Helden den Kontakt mit dem jenseitigen Helfer herbeiführt“ (Lüthi 2005: 15). Tatsächlich ist der Charakter der Märchenfiguren durch die Ereignisse des jeweiligen Märchens festgelegt. Es sind erst diese Geschehnisse, die ihm seinen eigentlichen Gehalt verleihen (Klotz 1982: 80). Zur „Flächenhaftigkeit“ gehört noch die Raum- und Zeitlosigkeit, die die Märchenhandlung bestimmt: Märchen handeln in unbestimmter Gegend oder in „alten Zeiten“ (Lüthi 2005: 20). Namenlos wie die meisten Märchenfiguren sind auch die im Märchen dargestellten Landschaften. Brüderchen und Schwesterchen gehen etwa in die weite Welt (KHM 11), der König in König Drosselbart lädt die heiratslustigen Männer „aus der Nähe und Ferne“ ein (KHM 52), Schneewittchen wohnt hinter den sieben Bergen (KHM 53). (Dazu auch Klotz [1985: 10 u. 11]: In seinen Ausführungen zu Handlungsort und -zeit im Volksmärchen weist Klotz auf die „Unschärfe und Unermesslichkeit der räumlichen Verhältnisse“ hin, die „in einer absoluten Landschaft“ irgendwo „im vagen Weitweg“ angesiedelt sind.) Ähnlich ist die Darstellung der Zeit, so wie es aus den häufigen Eingangsformeln „Es war einmal“, „Vor langer Zeit“ oder „Vor Zeiten war“ hervorgeht. Während solche Eingangsformeln den zeitlosen Charakter des Märchens hervorheben, setzen manche unvermittelt ein, z.B. „Ein König hatte eine Tochter“ (König Drosselbart, KHM 52) oder „An einem Sommermorgen“ (Das tapfere Schneiderlein, KHM 20). Sowohl in ihrer mimetischen Bezogenheit als auch bezüglich der internen Spannung sind Zeit und Raum also bedeutungslos. Märchenhelden sind auch nicht von der Zeit betroffen, d.h. sie altern nicht, sie bleiben in dem zeitlosen Bereich zwischen „Es war einmal“ und „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ als Theoretischer Rahmen 115 „Typen“ (Lüthi 2005: 16) gegenwärtig. Könige, Königssöhne und Diener können beliebig lange Zeit in Tiere, Pflanzen oder Steine verzaubert sein – wenn sie erlöst werden, sind sie genau so alt oder jung wie damals, als sie verwünscht wurden. So erwachen Dornröschen und ihr gesamter Hofstaat aus ihrem hundertjährigen Schlaf wieder zum Leben, ohne dass nach ihrer Erlösung die geringste Spur des Altwerdens an ihnen haften geblieben ist (KHM 50) (Lüthi 2005: 20f.). • Unter „abstraktem Stil“ (Lüthi 2005: 25ff.) ist die Knappheit in der Schilderung gemeint. Handlungsfreudig führt das Märchen seine Figuren von Punkt zu Punkt, ohne sich irgendwo schildernd aufzuhalten. Für Lüthi hängt dies mit wirkungsästhetischen Prioritäten zusammen: Die Handlung an sich sei wichtig. Dabei falle auf, wie Mineralisches, Metallisches sowie alles Klare vorzugsweise in der Darstellung von Dingen, Lebewesen und Farben verwendet wird. Die Farbpalette ist allerdings eingeschränkt: Vor allem sehr klare, kräftige Farben – rot, weiß und schwarz, daneben golden und silbern – dominieren (Lüthi 1990a: 29).111 Bei den Figuren sind besagte Extremdarstellungen beliebt: Gutes und Böses, Schönes und Hässliches bzw. Großes und Kleines – Gegensätze überhaupt treten prinzipiell erst in absoluten Formen in Erscheinung. Auch Gegenstände sind meist in extremer Form sowie typisierend gestaltet: Ein Haus ist entweder eine ärmliche Hütte oder aber ein prunkvolles Schloss (LÃœTHI 1990a: 28). Der Zug zum Extremen passt auch zu den Belohnungen (große Reichtümer, die Hand der Prinzessin, ein halbes Königreich usw.) nach Bewältigung der gestellten Aufgaben und zu scharfen Bestrafungen, wo Toleranz ausgeschlossen ist (Lüthi 1990a: 30). Zum „abstrakten Stil“ gehört auch die Wiederholung bzw. Variation (Lüthi 1990b: 91), sei es strukturell als Wiederaufnahme bestimmter Handlungsteile oder sprachlich als Wiederkehr gleicher Formeln und Ausdrücke (Lüthi 1990b: 93f.), wie sie z.B. die Großmutter beim Ãœberlisten des Teufels (KHM 29) dreimal benutzt: „Ich habe einen schweren Traum gehabt, da hab ich dir in die Haare gefasst“ (Grimm 1997: 171). Die festgeprägten Eingangs- und Schlusswendungen zählen insofern dazu: „Es war einmal“ und „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ (Lüthi 1990b: 62f.). Die Zahl Drei ist Stilformel und zugleich Bauformel (Lüthi 1990b: 57). Sie betrifft die Darstellung (drei Brüder, drei Prinzessinnen, drei goldene Haare) und bestimmt den Ablauf der Handlung (drei Episoden, drei Abenteuer, drei Proben). So muss das Schneiderlein drei Gegner (Riese, Einhorn und Wildschwein) besiegen, bevor 111 So wünscht sich die Königin „ein Kind so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen“ (Grimm 1997: 53), und Schneewittchen wird geboren. Und Aschenputtel wendet sich an das Bäumchen, das auf dem Grab seiner Mutter steht, und spricht: „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich“ (Grimm 1997: 141). Theoretischer Rahmen 116 er die Königstochter und das halbe Königreich bekommt (vgl. KHM 20). Im Verlauf der Handlung gibt es auch Verse und Formeln, die drei Mal wiederholt werden, um ihre magische Kraft zu verstärken, z.B. „Spieglein, Spieglein an der Wand, / wer ist die schönste im ganzen Land?“ (KHM 53). Damit verbunden ist das Gesetz der Steigerung, und zwar so, dass bei der dritten Episode fast immer ein Höhepunkt eintritt: drei-, sechs-, neunköpfiges Untier, drei immer schönere Prinzessinnen usw. (Lüthi 1990a: 30). An den dänischen Folkloristen Axel Olrik (1864-1917) und seine Ãœberlegungen zu den Regeln der Komposition in der Volksdichtung (dazu Olrik 1909: 1-12) anknüpfend, bezeichnet Lüthi die Dreizahl mit Achtergewicht als das „vornehmste Merkmal der Volksdichtung“ (Lüthi 1990a: 30). Die dritte Wiederholung bringe dann statt der Steigerung eine Wende: Von den drei Brüdern, die ausziehen, um drei Aufgaben zu bewältigen, missglückt es bei den beiden ersten, der Dritte hat Erfolg (z.B. Der goldene Vogel, KHM 57), oder der Märchenheld selber versagt in den zwei ersten Episoden, in der dritten aber ist er erfolgreich (Lüthi 1990b: 98 u. 101). (Zur Bedeutung der Dreizahl im Personenbestand sowie in der Handlungsstruktur auch Panzer 1982: 35f.). • Lüthis Stilmerkmale „Isolation“ und „Allverbundenheit“ (Lüthi 2005: 37ff.) bedingen einander: „... alles ist isoliert und eben deshalb universal beziehungsfähig“ (Lüthi 2005: 53). Als Erklärung gilt: „Das Märchen isoliert die Menschen, die Dinge, die Episoden und jede Figur ist sich selber so fremd, wie es die einzelnen Figuren einander sind“ (Lüthi 2005: 43). Dies schlägt sich strukturell nieder: Die Episoden bilden jede eine Einheit für sich. Insofern ist der typische Märchenheld allein und unabhängig, d.h. weder an Verwandte, Heimatland noch an eine Vergangenheit gebunden. Aus vorangegangenen Erlebnissen sammelt er keine Erfahrungen. Insofern ist er nicht im Stande, Konsequenzen aus einer schon einmal erlebten Situation zu ziehen. Auch beim wiederholten Versuch, eine Aufgabe zu lösen, handelt er immer wieder neu aus der Isolation heraus, d.h. so, als ob er das erste Mal mit der Situation konfrontiert worden wäre (Lüthi 2005: 22). Insofern bewegen ihn die Schicksalsschläge nur äußerlich vorwärts, ohne aber in die Tiefe seines Gemüts hineinzuwirken. Somit sind alle Abenteuer im Märchen möglich (Lüthi 1990b: 153ff.), was wiederum zu einem paradoxen Ausgleich in eine „unsichtbare Allverbundenheit“ führt: Nur was nirgends verwurzelt, weder durch äußere Beziehung noch durch Bindung an das eigene Innere festgehalten ist, kann jederzeit beliebige Verbindungen eingehen und wieder lösen. Umgekehrt empfängt die Isolation ihren Sinn erst durch die allseitige Beziehungsfähigkeit, ohne sie müssten die äußerlich isolierten Elemente haltlos auseinanderflattern. (Lüthi 2005: 49) Theoretischer Rahmen 117 • „Sublimation“ (Lüthi 2005: 63f.) ist für Lüthi das wichtigste Merkmal des Märchens überhaupt. Gemeint ist die Entwirklichung und Entleerung der Märchenmotive (Werbung, Armut, Kindesaussetzung, Verstümmelung, Verwandlung usw.) von ihrem ursprünglichen Sinngehalt. Märchenmotive werden in einen anderen Zustand versetzt, der Wirklichkeit nicht mehr abbildet, aber dafür repräsentiert (Lüthi 2005: 75). Er behauptet, es gebe keine eigentlichen Märchenmotive, sondern jedes Motiv, sei es gewöhnlich oder wunderhaft, werde zum „Märchenmotiv“, sobald es ins Märchen aufgenommen und vom Märchen märchenhaft gestaltet werde (Lüthi 2005: 69f.). Zwar operiert das Märchen mit magisch-mythischen Elementen, aber das Ãœberwirkliche verflüchtigt sich und das Geschehen kommt real vor. Begegnungen mit Zauberwesen und übernatürlichen Ereignissen werden so im Märchen als selbstverständlich hingenommen. Der Held besitzt wunderbare Eigenschaften und Fähigkeiten. Fabelwesen wie z.B. sprechende Tiere, Feen, Hexen, Riesen, Zwerge usw. treten auf, wunderbare Gegenstände kommen vor, und Figuren aus dem Diesseits und dem Jenseits stehen nebeneinander und interagieren ganz unbefangen miteinander. Das Wunder, „das mit einem Schlage alles verändern, verwandeln kann (während in der Wirklichkeit das allmähliche Sichwandeln vorherrscht)“ (Lüthi 1990a: 30), sei im Märchen etwas Selbstverständliches. So Lüthi (2005: 56) weiter: Das besondere am Märcheninhalt ist seine Verwobenheit mit dem Wunderbaren. [...] Im Märchen ist das Wunder ein Element der Handlung und hat in ihr seinen bestimmten Sinn; deshalb wird es ohne Staunen und Erregung hingenommen, als ob es selbstverständlich wäre. (Dazu auch Panzer 1982: 26ff.). Im Gegensatz zum Volksmärchen steuert die Handlung im Kunstmärchen nicht nur auf ein glückliches, sondern eventuell auf ein unglückliches Ende zu, verbunden mit einer relativen Offenheit des Schlusses (Neuhaus 2005: 8). So endet Ludwig Tiecks (1773-1853) Der blonde Eckbert mit den Worten: „Eckbert lag wahnsinnig und verscheidend auf dem Boden; dumpf und verworren hörte er die Alte sprechen, den Hund bellen, und den Vogel sein Lied wiederholen“ (Tieck 1971: 25). Im Ganzen zeigt sich das Weltbild im Kunstmärchen komplexer: „Geschildert wird nicht ein geschlossenes Weltbild, sondern eine fragmentarisch erfahrbare, problematische Welt, in der sich ein Subjekt bewegen muss, das sich auch seiner selbst, vor allem der eigenen Wahrnehmung, nicht sicher sein kann“ (Neuhaus 2005: 8). Theoretischer Rahmen 118 Aus der Folge der sublimierten Darstellung bescheinigt Lüthi dem Märchen „Welthaltigkeit“ (Lüthi 2005: 72): Es nimmt die Welt umfassend in sich auf, da es alle wesentlichen Vorgänge wirklichen Seins spiegelt, die im Laufe des menschlichen Lebens eine Rolle spielen. Mit seiner Diagnose bringt Lüthi Erkenntnisse aus der gegenwärtigen Semiotik in die Märchendiskussion ein, worauf Lotman (1993: 300 ff.) für die geformte Sprache der Sprachkunst und Lakoff/Johnson (2003: 11ff.) überhaupt für die erweiterte, sei es metonymische oder metaphorische Verwendung der Sprache hingewiesen haben. Der Kommunikationsrahmen bedingt demnach die Vermittlung der Aussage. Das haben die Brüder Grimm offensichtlich vor Augen gehabt, als sie sich um einen stereotypisierten Rahmen bemüht haben, wie Rölleke (2004: 42) nachgewiesen hat. Lüthis Gattungmerkmale lassen eine deutliche Verwandtschaft zum Kunstmärchen erkennen, wobei untereinander Unterschiede bestehen. Zur Unterscheidung von Volks- und Kunstmärchen nutzt Lüthi (1990a: 14) die Definition des Märchens als „einfache Form“ von André Jolles (1874-1946). Für ihn gehört das Märchen zu den neun „Einfachen Formen“, die er in seinem gleichnamigen Buch (1999) untersucht; dazu zählen auch die Gattungen Mythos, Sage, Legende, Schwank und Witz, Sprichwort und Rätsel (Bausinger 1993: 623ff.). Jolles‘ Konzept der „Einfachen Formen“ greift auf den frühromantischen Begriff der „Naturpoesie“ (im Sinne Jacob Grimms)112 zurück, wenn für ihn das Märchen als „einfache Form“ ohne Zutun eines Dichters entsteht, d.h. aus sich selbst erschaffen wird (Jolles 1999: 8). Damit setzt Jolles die alte Grimmsche These vom Gegensatz zwischen „Naturpoesie“ (durch ein „Sich-von-selber- machen“) und „Kunstpoesie“ (als „Zubereitung“) in seine eigene These vom Gegensatz zwischen den „Einfachen Formen“ und den Kunstformen der Literatur um. Für Lüthi ist das Märchen zwar auch „einfache Form“, im Gegensatz zu Jolles erkennt er jedoch das Märchen als eigene Kunstform an. Aufgrund seiner Formuntersuchung behauptet er, das Märchen als reine Dichtung sei das Werk hoher Künstler, von denen es zum Volk herabkommt (Lüthi 2005: 93). Lüthi betont im Vergleich zu Jolles die Bedeutung der mündlichen Tradierung im Märchen: 112 Dazu den von Jolles dargelegten Briefwechsel zwischen Jacob Grimm und Achim von Arnim (Jolles 1999: 221ff.). Dabei geht es um die Streitfrage, ob ein Gegensatz zwischen „Naturpoesie“ und „Kunstpoesie“ besteht oder nicht. J. Grimm ist der Ansicht, die „Volkspoesie“ (bzw. „Naturpoesie“), zu der Märchen (sowohl Märchentexte, die bereits zu lesen waren, wie auch das, was den Grimms erzählt wurde) zählen, trete „aus dem Gemüt des Ganzen“ hervor. Durch die Vorstellungen Herders beeinflusst glaubt er an eine kollektive Urheberschaft; Märchen als einfache, ursprüngliche Volksdichtung seien aus dem Volk selbst entstanden. Im Gegensatz dazu sei „Kunstpoesie“ von einzelnen Dichtern geschaffen. Für ihn sei „Kunstpoesie“ eine „Zubereitung“, „Naturpoesie“ ein „Sich-von-selber-machen“. Von Arnim vertritt demgegenüber eine völlig unterschiedliche Position und behauptet, Volksdichtung in dem Sinne, wie sie Jacob Grimm versteht, gebe es nicht; es gebe nur Dichter und jeder Dichter, der vom Volk anerkannt wird, sei zugleich ein Volksdichter. Theoretischer Rahmen 119 Zum Begriff des Volksmärchens gehört, dass es längere Zeit in mündlicher Tradition gelebt hat und durch sie mitgeformt worden ist, während man das Kunstmärchen zur Individualliteratur rechnet, geschaffen von einzelnen Dichtern und genau fixiert, heute meist schriftlich, in früheren Kulturen durch Auswendiglernen überliefert. (Lüthi 1990a: 5) Angesichts der Berührung mit anderen Gattungen wie beim Märchenstück trifft Lüthi den künstlichen, gattungsstiftenden Charakter von vermeintlich volksmäßigen Märchen, als er auf eine Gradation, nicht aber auf ein kategoriales Ausschließen bei der Unterscheidung hinweist. Die philologische Arbeit von Uther und Rölleke zeigt, dass es sich hierbei nicht nur um die einfache, sondern um die vereinfachte Form Volksmärchen geht. Der Eingriff der Vermittler ist nämlich nicht zu übersehen, was einen künstlerischen, gattungsmäßigen Rahmen zur Folge hat, dem gegenüber eine kategorielle Unterscheidung des Kunstmärchens als nicht sinnvoll anzusehen ist. Beide Unterkategorien des Märchens weisen einige Gemeinsamkeiten auf, die Neuhaus (2005: 7ff.) auch bespricht. Als Beispiel nennt er eine durch Mangel gekennzeichnete Ausgangssituation sowie das Vorkommen wunderbarer Gegenstände und Figuren. Auch die Symbolik und Metaphorik ist ähnlich, allerdings unterscheidet sich das Kunstmärchen diesbezüglich durch Originalität (Neuhaus 2005: 8). Nicht mehr ganz so einfach durch das Gegenteil abzugrenzen sei das Element des Wunderbaren, wie Neuhaus schließlich konstatiert. Das Kunstmärchen weist meistens mindestens zwei unterschiedliche Wahrnehmungsebenen des Wunderbaren auf. Nicht jede Figur hat diese Fähigkeit, neben der Realität eine weitere Wirklichkeit zu erkennen, die sich nicht durch Naturgesetze erklären lässt (Neuhaus 2005: 8), wie sprechende Tiere oder ähnlich magische Gegenstände. Die Trennung dieser beiden Welten wird dabei sehr unterschiedlich dargestellt, beispielsweise durch den Wechsel der Wahrnehmungsebene oder durch andere narrative Techniken (Wührl 2003: 3). Das Wunderbare erhält somit eine tiefergehende Ausarbeitung und schafft dadurch eine eigene Wirklichkeit der jenseitigen Welt. Die Verschmelzung von Diesseitigem und Jenseitigem wird im Kunstmärchen meist kontrastreicher vorgenommen. 2.1.2.2 Die Märchen der Brüder Grimm: Ästhetik einer historischen Gattung Da bei „Märchen“ an sich auch von der historischen Gattung Märchen bzw. „Grimms Märchen“ die Rede ist, muss sich der Forscher an den letzten Stand philologisch-geschichtlicher Belege halten, zumal, wie wiederholt vorbemerkt, die Leistung der Grimms in den letzten Jahrzehnten in ein neues Licht gerückt wurde. Als führender Vertreter der geschichtlichen Auffassung und unbestrittene Autorität, was die Theoretischer Rahmen 120 Brüder Grimm betrifft, gilt der Erzählforscher Heinz Rölleke (*1936). Neben Entstehungsgeschichte, Quellen und Textgenese hat er sich auch mit den Beiträgern und dem biografischen Kontext der KHM beschäftigt. In seinen Arbeiten (v.a. 2004; 1998) zeigt er, wie die Märchen der Brüder Grimm durch eine bewusste Bearbeitung vom mündlichen Volksmärchen zu einem schriftlichen Kunstmärchen wurden und dabei die Ansichten und den Stil der Oberklasse widerspiegelten. Im Rahmen der Forschung sind ebenso die Ergebnisse des deutschen Erzählforschers Hans- Jörg Uther (*1944) hervorzuheben. In seiner Studie (2008) zu Aspekten wie Entstehung, Deutung und Wirkung der KHM, die sich größtenteils mit Röllekes Erkenntnissen decken, wird der Versuch unternommen, sämtliche zu Lebzeiten der Brüder Grimm erschienenen Märchen im kulturhistorischen Umfeld von Aufklärung und Romantik zu verorten. Ein besonderes Augenmerk gilt dabei thematischen Vernetzungen innerhalb der Sammlung und des Gesamtwerks der Brüder Grimm sowie den Adaptions- und Revitalisierungsprozessen in den verschiedenen literarischen Gattungen und audiovisuellen Medien. Uthers Handbuch dokumentiert außerdem die unterschiedlichen Phasen der Textbearbeitung und widerlegt damit verbreitete Irrtümer der Forschung. Bezüglich des Märchens in der deutschen Aufklärung findet die Forschung außerdem in den Untersuchungen von Manfred Grätz (*1950) eine ergiebige Hilfe. Er weist nach (1988), dass das Märchen keineswegs eine zeitlose Gattung darstellt, sondern stets verschiedenen Einflüssen – literarischen und sozial-historischen – unterlegen gewesen ist. 2.1.2.2.1 Vorfeld und Entstehung der Sammlung Die Entstehung der KHM-Sammlung zieht sich über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren hin und ist sehr eng mit dem Lebensweg der Brüder Grimm und ihrem wissenschaftlichen Werdegang verbunden. Aus ihren Biografien (dazu Denecke 1990: 171ff. u. 186-195; Denecke 1971; Martus 2013) sind einige Aspekte hervorzuheben, die für die Grimmsche Märchensammlung wichtig wurden. Daneben ist die Entstehungsgeschichte der KHM vor dem Hintergrund der deutschen romantischen Bewegung zu konturieren. Die Forschung nennt mehrere Gründe, die für die Entstehung und Durchsetzung der Märchensammlung der Brüder Grimm verantwortlich waren. Zum einen war es die direkte Aufforderung von Clemens Brentano (1778-1842) Volkserzählungen113 aufzuzeichnen, zum anderen das Selbstverständnis der Zeit (Neuhaus 2005: 131 u. 132). Die Menschen hatten trotz der verstandesbetonten Aufklärung ihr Bedürfnis nach Transzendenz nicht verloren und die Epoche der Romantik versuchte, dem Volk diese Sehnsucht zu erfüllen. Federführend für diesen 113 Ursprünglich ist der Begriff zu verstehen als im „Volk (d.h. von allen Bevölkerungsschichten unterhalb des Bürgertums und des Adels) erzählte […] Geschichte“ (Richter/Merkel 1974: 42). Theoretischer Rahmen 121 Zustand waren die sich langsam vollziehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen, wie die Entstehung der modernen Naturwissenschaft, der Aufstieg des Bürgertums und die Auflösung des gegebenen Ordnungssystems des Feudalismus mit der Französischen Revolution von 1789. Diese Veränderungen hatten den einfachen Mann zu seiner eigenen Freiheit geführt, ließen ihn aber auch auf sich alleine gestellt. Er verlor durch diese Freiheit seinen sicheren Halt im Leben und sah auch keine bessere Aussicht für auf das Leben nach dem Tod (Neuhaus 2005: 132f.). Dies bewirkte bei den deutschen Romantikern Kritik an der bestehenden Kultur und eine Hinwendung zum Vergangenen. So wurde im Kreis der Frühromantiker (Novalis, F. Schlegel, Hoffmann) der Begriff des Goldenen Zeitalters im Sinne einer mythischen Vorzeit entwickelt. Zentrales Merkmal dieses Zeitalters war die Einheit der Natur und die Einbettung des Menschen in diese Einheit. Man wünschte allerdings keine Rückkehr zu einem statischen Idealzustand im Sinne des antiken Mythos. Vielmehr erwartete man neuartige Verhältnisse, die durch eine nicht endende Dynamik gekennzeichnet sein sollten (Neuhaus 2005: 6). Bei Schlegel, zu dessen Lieblingsideen das künftige Goldene Zeitalter gehörte, finden sich entsprechende Konzeptualisierungen. Im Hinblick auf die Veränderungen nach der Französischen Revolution sprach er von einem fehlenden Zentrum als Halt für den Menschen (früher sei dies die Mythologie gewesen). Bei ihm ist in Bezug auf die Gegenwart, die momentan noch haltlos erscheint, nachzulesen: Mich deucht, wer das Zeitalter, das heißt jenen großen Prozess allgemeiner Verjüngung, jene Prinzipien der ewigen Revolution verstünde, dem müsste es gelingen können, die Pole der Menschheit zu ergreifen und das Tun der ersten Menschen, wie den Charakter der goldnen Zeit, die noch kommen wird, zu erkennen und zu wissen. Dann würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehen und die Sonne. Dieses ist es, was ich mit der neuen Mythologie meine. (Zit. n. Best 1978: 9ff.) Diese neue Mythologie, von der die Märchensammlung der Brüder Grimm ein Teil sein sollte, sollte den Menschen in den Zeiten des Umbruchs neuen Halt im Leben geben. Das Werk der deutschen Romantiker war nicht nur durch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen geprägt, sondern ebenso durch die politischen Verhältnisse der damaligen Zeit. Insofern hängt die Entstehung der KHM eng mit der Entwicklung des modernen deutschen „Nationalgefühls“ und „Nationalbewusstseins“ zusammen, besonders mit der seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts schnell und stark anwachsenden Sehnsucht nach der nationalen Einigung Deutschlands – sowohl im politischen als auch im kulturellen Sinne. Dies ergab sich vor allem aus der Französischen Revolution und der europäischen Besetzungen durch Napoleon (Neuhaus 2005: 133). Zu jener Zeit, da die machtlosen deutschen Kleinstaaten keine politische Einheit mehr bildeten, sondern zu einem Großteil unter dem Einfluss der Theoretischer Rahmen 122 französischen Besatzung standen, fürchtete man um den Bestand und die Tradition des deutschsprachigen Kulturguts. Daher schien die Bewahrung und Propagierung dieses Kulturguts in ihren mannigfachen Erscheinungsformen dringend geboten (Rölleke 2004: 25f.). Indem die Menschen vermehrt den Wurzeln ihrer nationalen und kulturellen Identität in literarischen Ãœberlieferungen wie z.B. Volksliedern und Märchen suchten, wurde Volkspoesie dann zu Nationalpoesie. Ãœberdies glaubte man, dass insbesondere die mündlichen Volksüberlieferungen gefährdet seien, und zwar durch die in dieser Zeit weite Verbreitung der Schreib- und Lesefähigkeit durch die allgemeine Schulpflicht sowie durch die Auflösung klassischer Orte des Erzählens, etwa der Großfamilien und ganzer Bereiche gemeinsamer Hausarbeit. Den Brüdern Grimm war diese Situation überhaupt nicht fremd. Ihnen war bewusst, dass wenn die Volksliteratur nicht gesammelt werden würde, sie im Laufe der Zeit verloren ginge, weil sie langsam aus den Köpfen der Leute verschwinden würde (Rölleke 2004: 26f.). In diesem Zusammenhang ist außerdem von Bedeutung, dass sich seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ein historisches und literarisches Interesse für die so genannte „Volksliteratur“ entwickelt hatte (Uther 2008: 493). Dabei spielte Johann Gottfried Herder (1744-1803) für die so genannte „Jüngere oder Heidelberger Romantik“ und damit auch für die Brüder Grimm die Rolle eines Wegbereiters. Vor allem Herders Aufruf zum Sammeln von Märchen, Volkssagen und Mythologien sowie seine Vorstellung von einer deutschen Volksdichtung sollte sich bei den jüngeren Romantikern, insbesondere bei Clemens Brentano und Achim von Arnim, bald zu einer vermehrten Wertschätzung der Erzähltradition niederer sozialer Schichten entwickeln (Uther 2008: 493; Pöge-Alder 2011: 124f.). In der Volksdichtung überhaupt glaubten sie eine Quelle der Poesie zu entdecken (Lüthi 1990a: 1). Daher arbeiteten sie systematisch daran, die mündlichen Ãœberlieferungen in den verschiedensten Formen festzuhalten, und bald erschienen erste Sammlungen mit Volkspoesie, die kurze, überschaubare und spannungsreiche Wundergeschichten enthielten (Uther 2008: 493). Das Märchen erlebte dadurch im Gegensatz zur Zeit der Aufklärung eine Renaissance, die von der zur gleichen Zeit neu entstehenden Kinderliteratur profitierte, die wie kaum ein anderer Faktor zur Aufwertung des Märchens beitragen sollte: Statt der bisherigen Herabwürdigung des Märchens als unglaubwürdig und unbedeutend „gab es einen Trend, Märchen als literarische Gattung aufzuwerten und als ideale Lektüre für jugendliche Leser zu betrachten“ (Uther 2008: 493f.). Die Motivation zur Sammlung der KHM lässt sich auch auf die Marburger Studienzeit der Brüder Grimm zurückführen, als beide über ihren Professor Friedrich Carl von Savigny (1779- 1861) den Dichter Clemens Brentano trafen. Brentano machte die Brüder auf die mündliche Erzähltradition aufmerksam und konnte sie für seine Bestrebungen zur Sammlung von Volkserzählungen gewinnen (Rölleke 2004: 35f.). Zusammen mit Achim von Arnim (1781- Theoretischer Rahmen 123 1831) beabsichtigte er eine Fortsetzung seiner gerade (1805-1808) herausgegebenen dreibändigen Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (Rölleke 2004: 32). Von der romantischen Ãœberzeugung über Reinheit und Ursprünglichkeit des Volkes geführt, widmeten sich die Grimms somit in der Folge der Sammlung von Märchentexten. Laut eigenen Angaben begannen sie 1806 mit der Sichtung älterer literarischer Zeugnisse, dann im Jahre 1807 mit dem systematischen Aufzeichnen mündlich überlieferter Märchen (Uther 2008: 485). Nach dreijähriger Sammeltätigkeit konnte 1810 ein Originalmanuskript von 46 Texten zur freien Verwendung an Brentano geschickt werden.114 Da Brentano aber keine Absichten erkennen ließ, das ihm übersandte Manuskript zu veröffentlichen, entschlossen sich die Grimms ab 1811 dazu, ihre eigene Märchensammlung mit der Hilfe von Arnim herauszugeben (Rölleke 2004: 79ff.). Die Märchensammlung der Brüder Grimm erschien in zwei Teilen: Der erste Band (mit 86 Märchen) kam zu Weihnachten 1812 in Berlin unter dem Titel Kinder- und Hausmärchen heraus; 1815 folgte dann der zweite Band, er umfasste 70 Märchen. Die beiden Bände gelten als Erstfassung und enthalten die Märchen, die später zu den beliebtesten wurden (Rölleke 2004: 82, 84 u. 88; Uther 2008: 495f.). Das rege Interesse an den KHM erforderte eine neue Herausgabe der beiden Bände. So kam bereits 1819 eine zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage auf den Markt (Rölleke 2004: 92). Dabei wurden 27 Märchen des ersten Bandes und sieben des zweiten Bandes gestrichen. Gegenüber der Erstauflage waren 14 Stücke neu (Rölleke 2004: 94). Aus literaturhistorischer Sicht erfreute sich die KHM-Sammlung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der größten Beliebtheit überhaupt. Zu weiter Bekanntheit trug insbesondere die von Wilhelm Grimm besorgte Ausgabe von 1825 bei, also die so genannte „Kleine Ausgabe“, in der eine Auswahl von 50 der berühmtesten Märchen abgedruckt wurde. Dazu gehörten so bekannte Märchen wie u.a. Aschenputtel, Schneewittchen, Rapunzel, Hänsel und Gretel und Dornröschen (Rölleke 2004: 92f.).115 1837 folgte dann die so genannte „Große Ausgabe“ (177 Erzählungen), welche für den publizistischen Durchbruch der KHM auf dem Buchmarkt sorgte; ihren Erfolg hat sie dem Wechsel zur Verlagsbuchhandlung Dieterich in Göttingen zu verdanken (Rölleke 2004: 93). Inzwischen hatte der Gebrauch von Märchen bezeichnenderweise zu pädagogischen Zwecken (Lesebuch, Sprachlehrbuch) zugenommen. Der neue Markt für Kinderbücher entwickelte sich rasant und ebnete den Weg für ständig neue Ausgaben der KHM (Uther 2008: 499). So wurde die Ausgabe 1837 zu Lebzeiten der Brüder Grimm 1840, 1843 und 1850 neu 114 Ursprünglich enthielt das Manuskript um die fünfzig Stücke, die jedoch durch den Verlust von mehreren Blättern und dadurch, dass ein halbes Dutzend gar nicht zugeschickt worden sei, auf 46 zusammengeschmolzen waren (Rölleke 2004: 79). 115 Die „Kleine Ausgabe“ der KHM wurde zwischen 1833 und 1858 in kaum veränderter Form noch neunmal herausgegeben (Rölleke 2004: 92f.; Uther 2008: 500f.). Theoretischer Rahmen 124 aufgelegt, dabei stark verändert und ergänzt, und bis zum Erscheinen der 7. Auflage (der so genannten „Ausgabe letzter Hand“) im Jahre 1857 aktualisiert. Sie vergrößerte sich einerseits im Laufe der Auflagen durch neu dazu gekommene Texte, andererseits wurden einige Märchentexte aus der Sammlung entfernt oder ersetzt (Rölleke 2004: 94; Uther 2008: 499f.). Die KHM-Ausgabe letzter Hand von 1857 dürften die Grimms als Vollendung ihrer Arbeit an den Märchen betrachtet haben; sie stellt mit 211 Märchen die umfangreichste Sammlung der Grimms dar (Uther 2008: 499). Mit der Zeit ist das Grimmsche Werk die berühmteste und weitest verbreitete deutschsprachige Märchensammlung überhaupt geworden (Rölleke 1993: 1278f.). Dazu auch Uther: „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stehen die KHM, gefolgt von Märchen Hans Christian Andersens und Charles Perraults, an der Spitze der internationalen Beliebtheitsskala von Märchen“ (Uther 2012: 46). Wiederholt ist die Sammlung in ihrer Wirksamkeit und Verbreitung mit der Luther-Bibel verglichen worden. Rölleke fasst diese Wirkungsgeschichte in folgende Worte: „Lernte man in früheren Generationen sein Deutsch direkt oder indirekt aus Luthers Bibel und Katechismus, so seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zum guten Teil unbewusst aus Grimms Kinder- und Hausmärchen“ (Rölleke 1997: 968). Die KHM-Sammlung nimmt in der Märchenforschung auch einen hohen Stellenwert ein, und zwar in dem Sinne, dass die Brüder Grimm bei ihrer Sammelarbeit parallel Grundlegendes der Gattung Volksmärchen erforschten, indem sie die von ihnen zusammengetragenen Texte mit detaillierten Erläuterungen zu Wesensart, Bedeutung und Ursprung versahen (Uther 2008: 522; Rölleke 2004: 82). Zwar waren die Grimms nicht die ersten, die schriftliche und mündliche Quellen „aus dem Volk“ aufzeichneten und bearbeiteten: Bereits 1782 bis 1786 hatte Johann Karl August Musäus (1735-1787) seine Volksmärchen der Deutschen herausgegeben, 1787 erschien Christian Wilhelm Günthers Kindermärchen aus mündlichen Erzählungen gesammelt, 1789 bis 1792 folgte die Sammlung Neue Volksmärchen der Deutschen von Benedikte Naubert (1752-1819), 1808 veröffentlichte der mit Jacob und Wilhelm Grimm nicht verwandte Albert Ludwig Grimm (1786-1872) seine Kindermärchen, und schließlich kam 1812 die Sammlung Volkssagen, Märchen und Legenden von Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783-1829) heraus (Rölleke 2004: 21ff.). Aber die Ansätze der Brüder Grimm zeichnen sich maßgeblich durch ihre Editionspflege aus. Denn sie waren es, die sich mit ihrer Sammeltätigkeit von Märchen – aber auch Sagen, Legenden und Liedern – erstmals systematischen und wissenschaftlichen Prinzipien verpflichteten und damit Einfluss auf die gesamte Folgeentwicklung der Gattung Volksmärchen nahmen. Die KHM-Sammlung konstituiert ferner eine eigenständige, neue literarische Gattung, die gelegentlich schlichtweg als „Gattung Grimm“ bezeichnet worden ist (Neuhaus 2005: 2). Theoretischer Rahmen 125 Der Begriff wurde von Jolles 1930 (hier 1999) geprägt. Damit stellte er die These auf, dass man ein literarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen pflege, wenn es mehr oder weniger mit dem übereinstimmt, was in den KHM der Brüder Grimm zu finden ist (Jolles 1999: 219). Die Grimmschen Märchen sind insofern Maßstab bei der Beurteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. Es ist allerdings zu erwähnen, dass wenn von Grimmschen Märchen die Rede ist, dann meist deren „Zauber- oder Wundermärchen“ gemeint sind. Zwar machen sie die zahlenmäßig kleinere Gruppe aus – sie machen höchstens ein Drittel der gesamten Sammlung aus (Rölleke 2004: 43)116 –, aber sie bilden eine wichtige Gruppe, da sie alle bekannten und weitverbreiteten Grimm-Texte darstellen (Rölleke 2004: 42). 2.1.2.2.2 Zur Herkunft der Märchenstoffe Die gern gehörte Aussage, wonach die Brüder Grimm mit Notizblock und Bleistift über Land zogen und bei einfachen Gewährsleuten mündliche Volksüberlieferungen sammelten, bestärkt zwar den Mythos um die Grimms und um ihr Leben als Märchensammler, entspricht aber nicht der Wirklichkeit (Uther 2008: 491; Rölleke 2004: 78). Röllekes Untersuchungen weisen allerdings nach, dass die in den KHM enthaltenen Märchen in der Tat im Wesentlichen mündlichen Ursprungs sind. Sie wurden aber den Brüdern Grimm schriftlich zugetragen oder diktiert: Neben eigenen Aufzeichnungen nutzten die Grimms weitgehend die Mitteilungen von Freunden und Korrespondenten oder haben auf persönlichen Besuch von Märchenerzählern gewartet (Rölleke 2004: 76ff.). Sie arbeiteten vor allem am Schreibtisch; eigentlich verließen sie ihre Studierstube nur selten, und wenn sie es dennoch wagten, kehrten sie meistens mit einer kläglichen Ausbeute zurück, wie aus Wilhelm Grimms eigenen Angaben hervorgeht. Beim Versuch, von einer alten, im Marburger Elisabeth-Hospital lebenden Frau Märchen erzählt zu bekommen, musste er gestehen: „Das Orakel wollte nicht sprechen“ (zit. n. Rölleke 2004: 79).117 Daneben stammen viele andere Erzählungen aus literarischen Quellen unterschiedlicher Herkunft – für 63 der 200 KHM läßt sich eine literarische Vorlage nachweisen, wie Rölleke (1998: 8) herausgefunden hat (dazu auch Uther 2008: 488). Ãœber die generelle Möglichkeit einer mündlichen Tradierung ist auch seitens Grätz kontrovers diskutiert worden (Grätz 1988: 31ff.). So hat er festgestellt, dass es im 18. Jahrhundert in Deutschland keine Volksmärchen mit einer urwüchsigen Existenz im Volk gibt, sondern dass die Märchen des beginnenden 19. Jahrhunderts auf französische und orientalische 116 Dazu kommen noch Tiermärchen (z.B. Die Bremer Stadtmusikanten, KHM 27), Legenden (z.B. Der singende Knochen, KHM 28), Schwankmärchen (z.B. Das tapfere Schneiderlein, KHM 20; Die kluge Else, KHM 34), Lügenerzählungen (z.B. Das Märchen vom Schlauraffenland, KHM 158), Rätselmärchen u.a.m. 117 Zu den Sammelreisen des jüngeren Grimm-Bruders s. Rölleke (2010: 44). Theoretischer Rahmen 126 Quellen zurückgehen. Daraus ist jedoch nicht zu schließen, dass „die KHM so gut wie ausschließlich französisches Erzählgut [repräsentieren]“ (Lüthi 1990a: 52f.). Die KHM sind alles andere als eine blinde Ãœbernahme französischer Märchenliteratur, wie die Forschungen im Bereich der Grimm-Philologie nachgewiesen haben. Die Frage, welche Märchenerzähler welche Texte beigesteuert haben, sowie auf welche literarischen Vorlagen sich die Brüder Grimm gestüzt haben, hat die KHM-Forschung bis in die Gegenwart hinein viel beschäftigt. Durch die Arbeit von Rölleke und Uther ist es heute möglich, die Gewährspersonen sowie die benutzten schriftlichen Quellen der meisten Märchen zu bestimmen und deren „Volkstümlichkeit“ zu widerlegen. Eine ausführliche synoptische Darstellung der auf literarische Quellen zurückzuführenden Märchen – zusammen mit der Publikation dieser Quellen – bietet Rölleke (1998: 587f.). Dabei werden auch Tendenzen der Grimmschen Märchenbearbeitung sowie vor allem Herkunft und Eigenart ihrer Quellen dargestellt und untersucht. Auch Uther (2008: 592-595) hat eine Auswahl der Quellen herausgegeben und auf weitere Bezüge aufmerksam gemacht.118 Die Ergebnisse aus der KHM-Forschung verraten uns nicht nur einiges über die Textgenese der Grimmschen Märchen, sondern erweisen sich auch innerhalb einer sozialgeschichtlichen und gattungsorientierten Betrachtung als sehr aufschlussreich. Röllekes und Uthers Untersuchungen haben dazu beigetragen, fehlerhafte Ansätze richtigzustellen. Dabei wird zweifelsfrei mit wissenschaftlichen Daten belegt, was schon lange vermutet wurde, nämlich die Tatsache, dass es nicht die viel berufenen alten hessischen Märchenfrauen aus dem Volk waren, denen die Grimms ihre Märchen verdankten,119 sondern junge, gebildete Frauen aus wohlhabenden Bürgerfamilien. Angesichts dieser Feststellung versteht es sich, dass „mit solch dezidierter Auswahl von Beiträgern auch eine Vorauswahl der bekannt werdenden Texte 118 Dazu auch http://www.maerchenlexikon.de/Grimm/beitraeger.htm (abgerufen am 16. September 2014). 119 Nichtsdestoweniger pflegten die Brüder Grimm den Mythos der „ächt hessischen“ Märchen, wie es in der Vorrede zum zweiten KHM-Band von 1815 lautet, indem sie die Rolle einiger Märchenbeiträgerinnen besonders hervorheben. Als besondere Gewährsfrau wird eine in der Nähe von Kassel ansässige „Bäuerin“ angeführt: Dorothea Viehmann, die keineswegs die alte Bäuerin war, als die die Grimms sie darstellen, sondern eigentlich eine gebildete Frau mit französischen Wurzeln, die aus dem bürgerlichen Milieu stammte (Rölleke 2004: 90f.). Diese Märchenbeiträgerin hat Anlass zu viel Gesprächsstoff geboten, denn sie wurde zu einer idealtypischen Märchenerzählerin stilisiert. Davon zeugt die Beschreibung, die in der Vorrede zu den KHM von 1819 zu lesen ist – dem vom Malerbruder Ludwig Emil Grimm (1790-1863) gezeichneten (und ab der 2. Auflage von 1819 als Illustration für den zweiten Band der Grimm-Sammlung gewählten) Porträt voll und ganz entsprechend – und die man hier kurz zitieren kann: „Die Frau Viehmännin war noch rüstig und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf“ (Grimm 1997: 19). In diesem Zusammenhang soll auch die „alte Marie“ erwähnt werden, die als eine der Hauptquellen für den ersten Band der KHM gilt. In den veröffentlichten Herkunftsangaben der Beiträge dieser Gewährsfrau beschränkten die Grimms sich auf äußerst vage Angaben wie „aus Hessen“, „aus den Maingegenden“ oder schlicht und einfach „mündlich“, um auf das anonyme Volk als Träger und Gestalter der Märchen zu bestehen. Auch wenn die „alte Marie“ anfangs von der KHM-Forschung als Haushälterin identifiziert wurde, stellte sich im Nachhinein heraus, dass sie die älteste Tochter der Familie Hassenpflug war: Marie Hassenpflug, die mit den französischen Literaturmärchen vielfach vertraut gewesen war (Rölleke 2004: 77). Theoretischer Rahmen 127 gegeben war: Rudimentäre, fragmentarische, in sich widersprüchliche, durchaus nicht immer prüde Geschichten, wie sie das ›Volk‹ zu erzählen liebt, kamen kaum in den Horizont Grimmscher Sammeltätigkeit“ (Rölleke 1997: 975). Bei ihrer Märchensammeltätigkeit haben die Brüder Grimm allerdings nicht nur mündliche, sondern auch schriftliche Ãœberlieferungen herangezogen (Uther 2008: 488). Sie haben sich dabei hauptsächlich auf bestimmte, schriftsprachlich fixierte Quellen des 16. bis 18. Jahrhunderts sowie auf Handschriften und Drucke des Mittelalters gestützt: „Sie übernahmen aus Brentanos und aus der reichen Kasseler Bibliothek Texte, die ihnen märchenhaft erschienen, aus vier Jahrhunderten von Hans Sachs, Montanus, Moscherosch, Schuppius, Jung-Stilling und dergleichen mehr“ (Rölleke 2007: 15). Andere Texte sind bekannten Märchenbüchern entnommen: Zum einen aus dem Pentamerone (1634 und 1636 in zwei Bänden postum erschienen unter dem Titel Lo cunto de li cunti; dt. Das Märchen aller Märchen, 1846) des neapolitanischen Schriftstellers Giambattista Basile (ca. 1575-1632), zum anderen aus der älteren arabischen Märchensammlung Erzählungen aus den Tausendundein Nächten (ca. 8-10 Jh.) (Rölleke 2004: 14f. u. 18). Als literarische Quelle für die KHM gilt weiterhin Charles Perraults (1628-1703) Märchenbuch Histoires ou contes du temps passé, avec des moralités (auch Contes du ma mère l’Oye) (1697), das eine bedeutende Wirkung auf die Märchenentwicklung im deutschsprachigen Raum ausübte (Rölleke 2004: 15f.). Das Werk umfasste acht Erzählungen, „von denen sieben offensichtlich echte Volksmärchen sind“ (Lüthi 1990a: 48). Perrault passte die Märchen jedoch dem Geschmack des damaligen literarischen Publikums an, vor allem dem des Pariser Salons: Er erzählt sie in einem halb naiven, halb ironischen Tonfall, und schließt sie immer mit einer kommentierenden Moral in Versform. Die Spuren der „echten“ Märchen führen u.a. zu Dornröschen (KHM 50), Rotkäppchen (KHM 26), Blaubart (Anhang KHM 9), Der gestiefelte Kater (Anhang KHM 5), Frau Holle (KHM 24) und Aschenputtel (KHM 21) (Lüthi 1990a: 48; auch Neuhaus 2005: 67f. u. 139ff.). Auch Madame d’Aulnoys Märchensammlungen Contes des fées (1697) sowie Contes nouveaux ou les fées à la mode (1698) haben stark auf die Grimmschen Märchen eingewirkt. Dabei finden sich verwandte Fassungen u.a. zu Das singende springende Löweneckerchen (KHM 88), Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11), Der arme Müllerbursch und das Kätzchen (KHM 106), Rumpelstilzchen (KHM 55), Sechse kommen durch die ganze Welt (KHM 71) (Rölleke 2004: 17). 2.1.2.2.3 Zur Bearbeitung der Märchen Das Vorgehen der Brüder Grimm lässt sich kurz in drei Schritte einteilen: zuerst die Sammlung und Verschriftlichung des Materials, dann dessen (sprachlich-stilistische wie Theoretischer Rahmen 128 inhaltliche) Be- und Ãœberarbeitung und letztendlich die Weitererzählung im „einfachen“ Stil des Märchens in Buchform. Die Freiheit bei der Bearbeitung mündlicher Erzählungen war natürlich größer als bei schriftlichen Quellen, da bei der Herkunftsangabe „mündlich“ die Fakten von Lesepublikum und Kritik nicht nachgeprüft werden konnten (Rölleke 2004: 99), wohingegen dies bei literarischen Vorlagen sehr wohl der Fall war. Es ist mittlerweile bekannt, dass die Brüder Grimm textgetreuer verfuhren, wenn sie literarischen Vorlagen folgten (Rölleke 1998: 8). In der frühen Phase ihrer Beschäftigung mit Märchen entwickelten die Brüder Grimm noch keinen eigenen Märchenstil, wie er uns in den späteren KHM-Ausgaben immer mehr entgegentreten wird. Die ersten Vorschläge zu einer Märchenedition kamen von Runge und Brentano selbst (Rölleke 2004: 47). Deshalb suchten die Grimms nach Materialien, die dem vorgegebenen Muster entsprachen. Auf der Suche nach dem Urmärchen stießen sie auf zwei Märchenaufzeichnungen aus mündlicher Ãœberlieferung des Malers und Künstlers Philipp Otto Runge (1777-1810) von Anfang 1806. Dabei handelt es sich um die als KHM 19 und KHM 47 wiedergegebenen Märchen Von dem Fischer un syner Fru und Von dem Machandelboom, die wiederum von Brentano und vor allem von Arnim empfohlen wurden.120 Für die Grimms waren diese beiden Märchentexte als idealtypisch, als Gattungsmuster schlechthin aufzufassen (Rölleke 2004: 57). Dies war nicht nur dadurch begründet, dass Runge dabei alle vorhandenen Informationen zu Herkunft, Aufzeichnung, Stilistik, Motivik und Inhalt zur Verfügung stellte, sondern auch dadurch, dass die Texte in plattdeutscher Mundart verfasst waren und die Grimms die Volkstümlichkeit stärker darin erkannten (Rölleke 2004: 59 u. 60). Für sie war der Dialekt zugleich Ausdruck von Zutraulichkeit und innerer Vollständigkeit (Grimm 1997: 18). Tatsächlich haben die Grimms immer wieder ausgesprochen, dass sie die von Runge niedergeschriebenen Märchen für vorbildlich hielten. So wird in dem von Jacob Grimm verfassten Aufruf zum Märchensammeln von 1811 der Machandelboom als Universalmuster hervorgehoben (vgl. Grimm bei Rölleke 2004: 72). Rölleke hat Runges Märchen als „Urmeter“ (Rölleke 2004: 58) für die spätere Grimmsche Märchensammlung bezeichnet und die dort vorgebildeten Merkmale der Verwandtschaft mit der alten Tierfabel, der mythengeschichtlichen Bedeutung und der Aufnahme aus mündlicher Tradition herausgestellt (Rölleke 2004: 60). In diesem Zusammenhang hat auch Lüthi (1990a: 53) gezeigt, dass sie in idealtypischer Weise die Stilzüge der KHM enthalten. Vieles, was den späteren Grimm-Märchenstil (s. 2.1.2.2.4) ausmacht, ist bereits bei den Märchentexten Runges vorgegeben: Die Vorliebe für aneinandergereihte Hauptsätze, für „und“ und „da“, für Steigerung durch Wortwiederholung121 120 Zu Arnims Rolle bei der Vermittlung beider Texte an die Brüder Grimm s. Rölleke (2004: 59). 121 In Von dem Fischer un syner Fru (KHM 19) heißt es z.B.: „un he angeld un angeld“ oder „un he seet un seet“. Runges charakteristische Wiederholungen wichtiger Verben oder Adjektive wurden von Wilhelm Grimm übernommen und auf zahllose seiner Märchenbearbeitungen übertragen. So heißt es in Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29): „Ich rieche, rieche Menschenfleisch“, in Der Theoretischer Rahmen 129 und für Lautspiele findet sich schon bei ihm, ebenso Anschaulichkeit und Humor. Dazu gehören nach Rölleke (2004: 64f.) auch die bekannten Eingangs- und Schlussformeln „Dar wöör maal eens“, also „Es war einmal“, und „Door sitten se noch bet up hüüt un düssen Dag“, also „... noch heute“, die Vergegenwärtigung durch wörtliche Rede, die Neigung zur Groteske und zum Extremen, die Typenhaftigkeit der Figuren, die Selbstverständlichkeit, mit der das Wunderbare hingenommen wird, und die Einfügung von Verseinlagen. Den beiden Erzählungen von Runge entsprechend legten die Brüder Grimm ihre Märchensammeltätigkeit an: Bei der kommenden Auswahl orientierten sie sich an der Struktur und der Art der Runge’schen Märchen, dabei suchten sie nach ähnlich vollständigen, anschaulich erzählten Geschichten, die unter anderem auf einen Helden konzentriert waren und in der Regel zu einem glücklichen Ausgang führten (Rölleke 2000: 37ff.). Alles, was den Rungeschen Ansprüchen nicht genügte, wurde gemäß dem gefundenen Muster inhaltlich, sprachlich und stilistisch überarbeitet: „Texte, denen diese Qualitäten nicht eigneten, die aber aus anderen Gründen interessant und erhaltenswert erschienen, wurden erst vorsichtig, dann energisch diesen Leitbildern angenähert“ (Rölleke 2004: 64). Sämtliche Merkmale einer lebendigen Volksdichtung – alles Fragmentarische, Derbe und Widersprüchliche – ließen die Grimms somit unbeachtet, verwarfen sie im Laufe ihres Arbeitsprozesses oder schrieben sie um, bis sie den unverkennbaren Stil Runges erreicht hatten. Als Gattungsmuster haben den Brüdern Grimm neben den von Runge aufgezeichneten Märchen auch Brentanos Bearbeitungen volkstümlicher Stoffe gedient, allerdings aus schriftlicher Tradition (vgl. dazu die synoptische Darstellung der Erzählung Gesichte Philanders von Sittewald (1642) vom Barockdichter Johann Michael Moscherosch (1601-1669), deren Bearbeitung durch Brentano gedruckt in der Badischen Wochenschrift vom 11. Juli 1806 und die Grimmsche Redaktion von 1812 mit dem Titel Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst (KHM 23) bei Rölleke [2004: 48ff.]). Die Grimms folgten der schonenden Brentanoschen Redaktion. Sie kürzten nur „unmärchenhafte“ Passagen, so z.B. tendenziöse Anspielungen auf die Zeitgeschichte. In Bezug auf die Textauswahl und den Beiträgerkreis blieben sie auch diesen frühen Ansichten treu (Rölleke 2004: 54f.). Der Arbeitsweise der Brüder Grimm ist viel Aufmerksamkeit gewidmet worden. Trotz unterschiedlicher Arbeitsmethode tadelten sie nie die des anderen (Rölleke 2004: 83). Während Jacob Grimm einen klaren Ausdruck „ohne Schminke und Zutat“ (Lüthi 1990a: 54) bevorzugte (allerdings bei ihm bestimmt im Sinne einer romantischen Begeisterung für das Ursprüngliche und Volkstypische), schmückte sein Bruder Wilhelm, besonders im zweiten KHM-Band von 1815, die Geschichten aus. Das Simple erschien auch Wilhelm volksnäher, doch fühlte er sich zur romantischen Literatur und zum Stil der Biedermeierzeit hingezogen. Jacobs Streben, eine Froschkönig (KHM 1): „[...] und der Brunnen war tief, so tief [...]“ und in Schneewittchen (KHM 53): „[...] und machte da einen giftigen, giftigen Apfel“. Theoretischer Rahmen 130 Art Urform zu rekonstruieren, verlangte hingegen nach einer wortwörtlichen Ãœbersetzung, also nach einer „buchstabengetreue[n] Aufzeichnung“ (Lüthi 1990a: 54), die das Ausschmücken und breite Schildern verpönte. Allerdings war er sich dessen bewusst, dass Gehörtes bzw. mündlich mitgeteilte Texte nie wortgetreu aufgezeichnet werden können. Er griff zu diesem Vergleich: Vollkommen angemessen zu erzählen würde bedeuten, ein Ei ausschlagen zu wollen, „ohne dass nicht Eierweiß an den Schalen kleben bliebe“ (zit. n. Rölleke 2004: 62). So trat Jacob Grimm nach Erscheinen des ersten Märchenbandes 1812 nach und nach in den Hintergrund und ließ seinem jüngeren Bruder freie Hand. Im ganzen lag der Akzent bei Jacob Grimm mehr auf der dokumentarischen Auswertung bestimmter Elemente von Märchen als auf deren sprachlicher Gestalt. Und auch wenn er weiterhin am Sammeln von Märchentexten beteiligt war, so war es in Wirklichkeit Wilhelm Grimm, der vom zweiten Band an den Großteil der Arbeit an den KHM verrichtete (Rölleke 2004: 82f.; Uther 2008: 498) und damit an der Verbesserung und Bearbeitung der Märchen den größten Anteil hatte. Die Märchentexte wurden eigentlich von den Anfängen des Sammelunternehmens bis zur „Ausgabe letzter Hand“ der KHM von 1857 sorgfältig be- und überarbeitet. Sie wurden um- oder sogar neu geschrieben und dabei neue Elemente in den Vordergrund gestellt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang zu bemerken, dass „die Brüder Grimm wie ihre Beiträger natürlich Kinder ihrer Zeit waren und einige Märchen und viele Einzelpassagen durch den Geist dieser Zeit ihrer letzten Fixierung geprägt erscheinen“ (Rölleke 2004: 100). Dies gelte etwa für eine gewisse Verbürgerlichung und „Verbiedermeierlichung“ älterer Textversionen. So motivierten die Grimms in Dornröschen (KHM 50) die unterlassene Einladung der 13. Fee durch die Situation einer ans Bürgerliche angelehnten königlichen Haushaltung; die übliche Aussteuer umfasste eben nur 12, nicht 13 Gedecke, während bei Perrault eine 7. Fee einfach aus Vergesslichkeit nicht eingeladen wird (Rölleke 2004: 101).122 Was an den Texten verändert und verbessert wurde, ist allerdings mehrfach von Märchenforschern untersucht worden. Nach Lüthi (1990a: 54) hätten sich die Grimms anlässlich der Drucklegung nicht nur Reinigung und Umstilisierung der ihnen vorliegenden Texte – und Wilhelm dazu noch ihre Erweiterung – gestattet; sie hätten manchmal durchaus auch mehrere Varianten eines Märchens miteinander kombiniert, wie die Vorrede zur Zweitauflage von 1819 dokumentiert: „Verschiedene Erzählungen haben wir, sobald sie sich ergänzten und zu ihrer Vereinigung keine Widersprüche wegzuscheiden waren, als eine mitgeteilt“ (Grimm 1997: 22). In diesem Zusammenhang spricht Rölleke (2004: 64) von einer „Kontamination“, also einer Vermischung von verwandten Märchenvarianten. Ähnlich hat Uther (2008: 505) darauf hingewiesen, dass die Bearbeitungsstufen von wörtlicher Ãœbernahme 122 Zu weiteren Angleichungen einiger Märchen an die Vorstellungen der bürgerlich-biedermeierlichen Gesellschaft durch Wilhelm Grimm s. Rölleke (2004: 101f.). Theoretischer Rahmen 131 bis zu intensiver sprachlicher und inhaltlicher Umgestaltung und der Verschmelzung mehrerer Fassungen von Märchen reichen. Am Anfang der Bearbeitungstätigkeit haben die Brüder Grimm sich zu treuer Wiedergabe der Ãœberlieferungen verpflichtet gefühlt und verboten sich, irgendetwas hinzuzufügen. Nach eigenen Angaben sammelten sie die Märchen nach dem Grundsatz, alles „durch den Mund des Volkes [zu] überliefern“. Ihre Vorgehensweise haben die Grimms in der Vorrede zu der 1819 erschienenen Zweitauflage genauer beschrieben, dabei auch Position zu ihrer Arbeitsweise bezogen: Was die Weise betrifft, in der wir hier gesammelt haben, so ist es uns zuerst auf Treue und Wahrheit angekommen. Wir haben nämlich aus eigenen Mitteln nichts hinzugesetzt, keinen Umstand und Zug der Sage selbst verschönert, sondern ihren Inhalt so wiedergegeben, wie wir ihn empfangen hatten. (Grimm 1997: 21) Während die Grimms sich dabei gegenüber den Bearbeitungen ihrer Dichterkollegen und Vorgänger abgrenzen, indem sie darauf hinweisen, dem zusammengetragenen Material nichts absichtlich hinzugefügt zu haben, so ist der Ausdruck „Treue und Wahrheit“ nicht wörtlich zu verstehen. Denn sie selbst geben dann dort auch eine Veränderung des „Ausdrucks und der Ausführung“ (Grimm 1997: 21) offen zu, d.h., dass die tatsächliche Gestaltung, also die Formulierung der Erzählungen von ihnen selbst stammt. Uther (2008: 507) hat insofern darauf aufmerksam gemacht, dass sich die „Treue und Wahrheit“ der Grimmschen Erzählungen nur auf die Wiedergabe des vorliegenden Stoffes erstrecke, kaum aber auf den Wortlaut des Gehörten (dazu auch Weishaupt 1985: 123). Mit der redaktionellen Bearbeitung des Gesammelten vollzog sich tatsächlich ein Wechsel vom mündlich Erzählten zum schriftlich Fixierten (Rölleke 2004: 40). Sowohl das Verfahren der „Kontamination“, also der Vermischung verschiedener Märchenüberlieferungen, als auch die stilistische Ãœberarbeitung sind als Versuche zu verstehen, einen idealen älteren, vollständigen Text in gegenwärtiger Form herzustellen. Der Ãœbergang von der variablen Erzählform zu einer fixierten Fassung für ein lesendes Publikum verlangte dabei eine Gestaltung, die unter anderem Tonart, Beiseitegesprochenes und Gestik ersetzte. Denn die wenigsten Märchenerzähler erzählten so, dass der mitgeschriebene Text einem Lesepublikum präsentiert werden konnte – ein Beispiel aus Grimms Vorlage zu Katz und Maus in Gesellschaft (KHM 2) illustriert diesen Umstand (Rölleke 2004: 39f.). Bei der Bearbeitung wurde insbesondere seitens des jüngeren Wilhelm nach strenger motivischer Verknüpfung einzelner Partien unter Beibehaltung der Handlungsstruktur gestrebt, häufig auch nach anschaulicher und bewegter Situationsdarstellung. Es wurden Symmetrien im Aufbau der Märchen herausgearbeitet. Direkte Rede ersetzte indirekte Rede. Lehn- und Theoretischer Rahmen 132 Fremdwörter französischer Herkunft wurden entfernt und durch deutsche Ausdrücke ersetzt: Aus Prinz, Prinzessin und Fee wurden Königssohn, Königstochter und Zauberin. Es wurden Verkleinerungsformeln eingesetzt (z.B. Schneiderlein, Spieglein, Tellerlein) sowie Passagen ausgeschmückt und hinzugefügt (Rölleke 2004: 95-99). Dabei wurden volksläufige Sprichwörter und Redensarten sowie andere Elemente von Mündlichkeit hinzugefügt, z.B. volkstümliche Doppelausdrücke wie „Speise und Trank“ (Lüthi 1990a: 54; dazu auch Rölleke 2004: 100; ausführlich zum Auftreten volkstümlicher Wendungen in den KHM v.a. Rölleke /Bluhm 1988). Vor allem durch die Einfügung von Sprüchen und eigentümlichen Redensarten des Volkes hat Wilhelm Grimm versucht, den KHM den Anschein zu verleihen, dass sie durchweg aus der wörtlichen Weitergabe durch die Landbevölkerung stammten (Rölleke 2004: 86). Kritischer bezeichnet Röhrich die Bearbeitungsweise Wilhelms als „fingierte oder simulierte Mündlichkeit“ (Röhrich 2001: 521). Als charakteristische Bearbeitungstendenzen gelten nach Lüthi (1990a: 54) auch die Ersetzung des Präsens durch das erzählende Imperfekt (Präteritum) als Erzählmodus sowie die Vorliebe für „archaisierende Wendungen, ferner Verkleinerungsformen und auch Gefühlswörter“. Von Auflage zu Auflage der KHM stieg dann der Anteil der sprachlich-stilistischen und vor allem inhaltlichen Eingriffe. Den größeren Part an der kontinuierlichen Ãœberarbeitung der Märchentexte hatte wieder Wilhelm Grimm. Bemerkenswert ist, dass sich Wilhelms Eingriffe auf den ersten Band der Märchensammlung bezogen; die Märchen des zweiten Bandes wurden im Vergleich dazu so gut wie nicht überarbeitet (Rölleke 2004: 88). Bei den Inhalts- und Stiländerungen wurde nicht nur Widersprüchliches und Sozialkritisches aus den Märchentexten herausgenommen, sondern auch der Versuch unternommen, die Texte einem „einheitlicheren naiv-volkstümlichen, kindgemäßeren und auch biedermeierlicheren“ (Rölleke 1997: 983) Märchenstil anzupassen. Zugleich nahm Wilhelm Grimm auch noch bewusstere Stilisierungen vor, indem er im Sinne bürgerlichen Wohlverhaltens moralisierte. Diesbezüglich hat Uther (2008: 515) festgestellt, dass bürgerliche Tugendlehren und pädagogische Anliegen langsam Eingang in die KHM fanden. Bereits in der Vorrede zum ersten Band der Erstausgabe von 1812 haben die Brüder Grimm den Inhalt verschiedener Märchen charakterisiert und daraus gefolgert: „In diesen Eigenschaften aber ist es gegründet, wenn sich so leicht aus diesen Märchen eine gute Lehre, eine Anwendung für die Gegenwart ergiebt“ (zit. n. Solms 1999: 4). Im Vorwort zur Zweitauflage von 1819 wurde dann die Wirkung der den Märchen innewohnenden Poesie und die Funktion der Sammlung genauer beschrieben: Sie „erfreue, wen sie erfreuen kann, also auch, dass es als ein Erziehungsbuch diene“ (Grimm 1997: 16f.). In diesem Zusammenhang stellt bei der Bearbeitung der KHM die Veränderung der Zielgruppe einen wichtigen Punkt dar. War die Märchensammlung anfangs aus wissenschaftlichen Gründen entstanden und ausschließlich für ein erwachsenes Lesepublikum Theoretischer Rahmen 133 vorgesehen, traten nun Kinder an die Stelle der Hauptadressaten (Rölleke 2004: 82). Die Textbearbeitung für ein kindliches Lesepublikum setzte zwar früh ein, schon im zweiten KHM- Band von 1815 deutete sich Entsprechendes an. Aber besonders ab der Zweitauflage von 1819 wurde die Sammlung von Wilhelm Grimm bewusst als Kinderbuch gestaltet. Einige seiner Änderungen wie etwa die Entfernung anstößiger Stellen erklären sich aus diesem Bestreben (Lüthi 1990a: 54). Entsprechend heißt es in der KHM-Vorrede zur zweiten Auflage: „Wir suchen die Reinheit in der Wahrheit einer geraden, nichts Unrechtes im Rückhalt bergenden Erzählung. Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht“ (Grimm 1997: 17). Die Grimms reagierten damit auf Kritik, die Märchen seien nicht kindgerecht (Rölleke 1997: 981 u. 2004: 85).123 Noch stärker als Kinderbuch war die „Kleine Ausgabe“ von 1825 gedacht, die von da an als Erziehungsbuch in den bürgerlichen „Kinderstuben“, dem hauptsächlichen Leserkreis, eine entscheidende Rolle spielen sollte (Lüthi 1990a: 54). Denn die nun stärker auf die Erziehung ihrer Kinder fixierten Mütter sahen die Grimmsche Märchensammlung als ein wertvolles Vorlesebuch für ihre Kinder (Rölleke 2004: 27). Die bewusste, weitgehende Umstellung auf ein kindliches Lesepublikum machte ein breites Spektrum an Änderungen nötig. Um kindgemäß im Sinne der bürgerlichen Ideologie des 19. Jahrhunderts zu sein, musste Wilhelm Grimm einiges an den Inhalten der Märchen weiter verändern und vertuschen. So wurde beispielsweise Anstößiges (etwa direkte sexuelle Anspielungen und Bezüge) verändert oder auch weggelassen. Wie z.B. das Rapunzel-Märchen (KHM 12) entschärft wurde, wird bei Rölleke (2004: 87) anschaulich gemacht: Während Rapunzel in der Fassung von 1812 indirekt ihr Verhältnis mit dem Prinzen zugibt und ihre Schwangerschaft andeutet, bleibt ab 1819 die Schwangerschaft unerwähnt. Ein weiteres Beispiel stellt Dornröschen (KHM 50) dar: Dornröschen wird 1812 noch wachgeküsst, ab 1819 nur noch „mit dem Kuss berührt“. Auch im Sinne einer Anpassung an das Kinderpublikum wurden Märchen, die als sprachlich schwer verständlich oder als zu grausam erschienen, aus der Sammlung entfernt (Rölleke 1997: 981). Dies geschah aus heutiger Sicht allerdings nicht konsequent, denn interessanterweise sind manche grausamen Elemente sogar noch hinzugefügt worden. Ein Beispiel dafür ist die Bestrafung der Schwestern von Aschenputtel, die in der Erstausgabe des Märchens von 1812 noch ungestraft davon kommen. Die Ausgabe von 1819 fügt hingegen eine Strafe hinzu: Den Stiefschwestern werden jeweils beim Kirchenein- und -ausgang von Tauben die Augen ausgepickt (KHM 21). In dieser Hinsicht schienen die Brüder Grimm auf Kritik gefasst zu sein, denn sie erklärten die Anwesenheit von Grausamkeit folgendermaßen: 123 Hierbei handelte es sich um Achim von Arnim sowie die konkurrierenden Märchenherausgeber Albert Ludwig Grimm und Johann Gustav Gottlieb Büsching. Theoretischer Rahmen 134 [...] Regen und Tau fällt als eine Wohltat für alles herab, was auf der Erde steht, wer seine Pflanzen nicht hineinzustellen getraut, weil sie zu empfindlich sind und Schaden nehmen könnten, [...] wird doch nicht verlangen, dass Regen und Tau darum ausbleiben sollen. Gedeihlich aber kann alles werden, was natürlich ist, und danach sollen wir trachten. (Grimm 1997: 17) Da die KHM als Lektüre für bürgerliche Kinder sowie als Erziehungsbuch dienen sollten, ist es verständlich, dass die Ãœberarbeitung Wilhelm Grimms auch teilweise mit Moralisierungen und zeitgemäßen pädagogischen Wertvorstellungen in Einklang gebracht wurde. Ãœberhaupt sind einige der im KHM enthaltenen Märchentexte den Werten des bürgerlichen Biedermeiers angepasst worden. In diesem Zusammenhang hat Uther darauf aufmerksam gemacht, dass eine Vielzahl bürgerlicher Werte und Normen in den KHM der Welt des Biedermeier entspreche. Dazu gehört z.B. tugendhaftes Verhalten wie Güte, Fleiß und Aufrichtigkeit; Bosheit, Faulheit, Neid und Eifersucht gelten hingegen als Untugenden. Die Tugendhaftigkeit wird am Ende der Grimmschen Märchen immer belohnt (Uther 2008: 517). Gut und fleißig sind Eigenschaften, die den Figuren in den Märchen dabei helfen, zum Schluss als Sieger dazustehen. Gut zu bleiben, obwohl jemandem etwas Böses angetan wird, ist positiv (Solms 1999: 11). Fleiß wird gewöhnlich von einer armen jungen Frau verkörpert, entsprechend den Normen der bürgerlichen Gesellschaft ihrer Zeit (SOLMS 1999: 30). Vor allem die weiblichen Figuren sind dafür bekannt, dass sie solche guten und positiven Werte verkörpern, so etwa bei Aschenputtel (KHM 21) oder bei Schneewittchen (KHM 53). Außerdem gab es neben der oben angedeuteten Entsexualisierung ab der zweiten Auflage von 1819 nun auch eine zunehmende Sentimentalisierung und Verchristlichung bei der Ãœberarbeitung einzelner Märchentexte. Lüthi spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ethisierung, zuweilen im Sinne bürgerlichen Anstands“ (Lüthi 1990a: 54). Ersteres ist besonders deutlich in dem Märchen von Schneewittchen (KHM 53) zu erkennen; so beweinen ab 1819 die Tiere (eine Eule, ein Rabe und ein Täubchen) das tote Schneewittchen. Als Beispiel für die Einarbeitung süßlich-idyllischer christlicher Bilder gibt Rölleke (2004: 101) die zahllosen redensartlichen Berufungen des lieben Gottes sowie das Auftreten des Schutzengeleins bei Schneeweißchen und Rosenrot (KHM 161) an. Hierzu weist auch Bastian auf das Hinzufügen christlicher Elemente in das Märchen Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11) durch Wilhelm Grimm hin. So ließ er „etwa [...] die Titelheldin ein Abendgebet sprechen und erklärte das Motiv, dass ihr durch die Umarmung des Königs das Leben wiedergegeben wird mit ‚Gottes Gnade‘“ (Bastian 1981: 35). Die Rolle der Kleinfamilie sowie die Verteilung der Geschlechterrollen entsprechend dem damaligen Zeitgeschmack waren auch Inhalt der von Wilhelm Grimm vorgenommenen Textveränderungen. In beiden gerade genannten Beispielen werden die weiblichen Hauptfiguren Theoretischer Rahmen 135 in der Funktion der idealen Hausfrau beschrieben; sie sind sehr arbeitsam und machen alles, was ihnen gesagt wird. Bei der Bearbeitung der Märchentexte wurden nicht nur Wertvorstellungen und Normen der Zeit eingefügt, sondern zusätzlich akzentuiert, was zu einem zugespitzten Menschenbild in dem Werk geführt hat. Aufgrund dieser insoweit eindeutigen Bearbeitungstätigkeit der Brüder Grimm hat Rölleke angemerkt, dass die Grimmsche KHM-Sammlung allmählich zu einer „Dokumentation (vermeintlich durchweg) alter und bedeutungsvoller Volksüberlieferung mit zunehmend belehrenden (‚mittelbare Erziehung‘) und unterhaltenden Tendenzen“ wurde (Rölleke 1993: 1282). 2.1.2.2.4 Zum eigentümlichen „Grimm-Ton“ Durch Verschriftlichung und ständiges Be- und Ãœberarbeiten entstand zwischen dem mündlich erzählten Volksmärchen und dem literarisch hochstilisierten Kunstmärchen „etwas völlig Neues“, d.h. eine ganz neue literarische Gattung: das „Grimmsche Buchmärchen“ mit seinem kanonbildenden Repertoire und dem unverkennbaren, fortan vorbildlichen Ton (Rölleke 2004: 68 u. 86). Auch bei Lüthi (1990a: 53) werden die Märchen der Brüder Grimm als eigene Kategorie „Buchmärchen“ eingestuft. Lüthi weist darauf hin, dass durch die KHM der Brüder Grimm das Volksmärchen endgültig buchfähig geworden sei, und spricht auch von „ins Buch gerettete Märchen“ (Lüthi 1990a: 51). Das Grimmsche Buchmärchen sei dementsprechend ein gehobenes Märchen: „Es hat eine wichtige Funktion, es füllt die durch das Versiegen der mündlichen Ãœberlieferung entstandene Lücke und ist zum lebendigen Besitz von Kindern und Erwachsenen geworden“ (Lüthi 2005: 99). Die Verschriftlichung und Ãœberarbeitung Wilhelm Grimms gab den Märchen einen besonderen Ton sowie einen einheitlichen Stil, sodass heute durchaus von einem unverwechselbaren Grimmschen Märchenstil gesprochen wird. Dieser zeichnet sich nach Rölleke (1997: 991f.; 2004: 42f.; 2010: 44ff.) durch bestimmte Merkmale aus, die sich größtenteils mit den von Lüthi festgelegten Stilmerkmalen des Volksmärchens decken (s. 2.1.2.1.2). Dazu gehören neben „tatsächlicher oder hypothetischer mündlicher Ãœberlieferung (die ihre Spuren hinterlassen hat)“ (Rölleke 2004: 42) u.a. auch: • die Formelhaftigkeit; • die Freude an der häufigen Wiederholung; • die Literarisierung der Sprache durch die Einbringung von schlicht gebauten Reimversen; • die Vorliebe für bestimmte Zahlen (Zahlensymbolik), Farben und Materialien; Theoretischer Rahmen 136 • die schlechte Ausgangslage des Märchenhelden, der durch Hochzeit oder Erwerb eines Königreichs am Ende entschädigt wird und damit seine Situation langfristig verbessert; • die stereotype Isolation des Helden; • die unbestimmte Verortung (häufig Naturräume); • die Zeitlosigkeit, wodurch der Held „über das Ende hinaus weiter lebt“; • die besondere Gabe oder sonstige Hilfe des Numinosen; • der Optimismus im Sinne einer psychologischen Selbstmotivation inklusive gutem Ende; • die eindimensionale Vorstellung der Figuren; • die oberflächliche Figurenzeichnung und damit das Fehlen des Vernunft- und Gefühlsbereichs (keine Individualität); • die Typenhaftigkeit aller Figuren, d.h. der Märchenhelden sowie ihrer Helfer, Widersacher, Partner und der Nebenfiguren; • vor allem aber die Einbringung des Wunders und der spezifische Umgang damit, denn Wunder sind im Zaubermärchen selbstverständlich und daher ohne sie nicht denkbar. Mit ihren zwischen mündlicher Ãœberlieferung und schriftlicher Bearbeitung, also gattungstheoretisch zwischen „Volks“- und „Kunstmärchen“ angesiedelten Märchen formten die Brüder Grimm „den Märchentypus, der im allgemeinen Bewusstsein die Gattung überhaupt repräsentiert“ (Bausinger 1980: 168; Hervorhebung im Original). Dies wurde auch von Jolles (1999: 219) schon früh erkannt und entsprechend formuliert: Die Grimmschen Märchen sind mit ihrem Erscheinen [...] ein Maßstab bei der Beurteilung ähnlicher Erscheinungen geworden. Man pflegt ein literarisches Gebilde dann als Märchen anzuerkennen, wenn es [...] mehr oder weniger übereinstimmt mit dem, was in den Grimmschen Kinder- und Hausmärchen zu finden ist. Und so wollen auch wir [...] zunächst allgemein von der Gattung Grimm sprechen. Seitdem wird die Gattung der „Volksmärchen“ prototypisch durch die KHM-Sammlung der Brüder Grimm vertreten (Neuhaus 2005: 5). Damit wird wohl nicht behauptet, es hätte vor Grimm keine Märchen in der deutschen Literatur gegeben; Neuhaus erwähnt „Volksmärchen“ von Musäus, und die Gattung ist auch bei Wieland, Goethe, Tieck und Novalis anzutreffen (NEUHAUS 2005: 78, 70ff. u. 89ff.). Doch die Brüder Grimm vollbrachten mit ihrer Märchensammlung auf diesem Gebiet eine so bedeutende Tat, dass ihre Märchen als Vertreter des deutschen Volksmärchens betrachtet werden. Nun ist ja der Begriff „Volksmärchen“ nicht ganz unproblematisch, weil er mit der Vorstellung verbunden wird, die die Brüder Grimm im Zusammenhang mit ihrer KHM etabliert haben: Die Märchen seien geradewegs von den einfachen Menschen abgelauscht worden, Theoretischer Rahmen 137 sodass sie die mündliche Erzähltradition der unteren sozialen Schichten spiegeln. Die Märchenforschung, insbesondere die Grimm-Forschung (Rölleke, Uther) hat dies allerdings längst als Fiktion entlarvt und nachgewiesen, dass die Grimms die von ihnen gesammelten Erzählungen literarisch bearbeitet haben. Demzufolge seien ihre so genannten „Volksmärchen“ Collagen aus diversen literarischen Vorlagen, die vor allem aus der Bürgerschicht stammten. Angesichts dieser neuen Erkenntnis haben einige Märchenforscher (v.a. Bluhm) die Bezeichnung „Volksmärchen“ prägnant als „Idealbegriff“ charakterisiert und den Begriff „Buchmärchen“ fest etabliert. In der Märchenforschung ist es leider noch nicht zu einem Adorno wie bei der Musik, noch zu einem Szondi wie für das Drama gekommen, der uns erklärt, ob bei der Gattung Märchen jene Erwartung Hegels einem wahren Kunstwerk gegenüber in Erfüllung geht oder nicht. Rölleke und Uther haben uns allerdings gezeigt, inwiefern aus den Eingriffen der Vermittler Jacob und Wilhelm Grimm eine Reihe von Erzählungen entstanden ist, die rätselhafte Abenteuer in vermeintlich urzeitlichen Umständen preisgeben und dabei selten auf die Vermittlung moralischer Lehren verzichten, was alles wiederum vorzüglich in den Erwartungshorizont der Biedermeierzeit passt. Eine solche historische Gattung meinen wir nunmehr, wenn von „Märchen“ die Rede sein wird, wobei wir uns gleichzeitig auch auf rezeptionsgeschichtlich festgewordene Bezeichnungen berufen werden, die uns erlauben, die Grimmsche Variante des Volksmärchens nach wie vor als Märchen zu bezeichnen. Am genauesten dürfte eine Bezeichnung sein wie Grimmsches Buchmärchen. Da aber hinsichtlich der Bearbeitung für die Bühne keine echten Volksmärchen noch Kunstmärchen in Frage kommen, scheint uns die Metonymie berechtigt, die historische Gattung Grimmsches Buchmärchen mit der allgemeinen Gattungsbezeichnung gleichzusetzen, also Märchen. 2.2 Vermischung von Märchen und Drama: die Dramatisierung von Märchen 2.2.1 Begriffserklärungen Bevor wir auf die Begegnung zwischen Märchen und Drama eingehen, sollen einige grundlegende Begriffe erläutert werden, die oft bei der Transformation von einer Gattung in eine andere verwendet werden. Dazu gehören allgemeine Begriffe wie „Bearbeitung“ und „Adaption“ sowie speziellere Bezeichnungen wie „Bühnenbearbeitung“ und „Dramatisierung“. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden diese Termini oft synonym verwendet. So werden im heutigen deutschsprachigen Raum zwar „Adaption“ und „Bearbeitung“ meist gleichgesetzt (vgl. DUDEN), aber man sollte sie nicht vollständig gleichsetzen. Vielmehr erweist es sich von Nutzen, ihre Unterschiede wahrzunehmen. Theoretischer Rahmen 138 Zu unterscheiden sind zunächst einmal die Begriffe „Bearbeitung“ und „Adaption“. Der allgemeine Begriff „Bearbeitung“ steht für jede nicht durch den Autor selbst vorgenommene, das Original verändernde Umgestaltung eines Werks (Wilpert 1979: 77). „Bearbeitet“ der Autor selbst sein Original, wird dann aber von Fassung gesprochen (Wilpert 1979: 264). Dabei wird bei „Bearbeitung“ noch keine Aussage über Gattungszugehörigkeit von Original und Bearbeitung getroffen. Erst die „Adaption“ (Deutsch auch „Adaptation“) meint die Anpassung eines literarischen Werks an eine andere Gattung oder ein anderes Medium, wozu es in der originalen Form nicht konzipiert war (Wilpert 1979: 6). Zur „Adaption“ in dieser Bedeutung zählen die Verfahren Hörspiel- und Bühnenbearbeitung von Erzählwerken oder Filmen sowie die Fernsehbearbeitung oder Verfilmung von Dramen oder Romanen. Einem ähnlichen Ansatz folgt Pavis, wenn er den Begriff „Adaption“ beschreibt (Pavis 1998: 35). Allerdings bleibt bei ihm der Medientransfer unberücksichtigt. Dafür wird der Gattungswechsel hervorgehoben. Pavis beschreibt „Adaption“ als Umsetzung oder Umgestaltung eines Textes bzw. als Umwandlung einer Gattung in eine andere, so wird z.B. ein Roman zum Theaterstück. Bei Adaptionen treten neben den rein strukturell bedingten Veränderungen meist auch intentionale, d.h. bearbeitungstypische Veränderungen auf. Bei Literaturadaptionen für die Bühne kann es z.B. zur Abänderung von Figuren und Handlungen bis zur Unkenntlichkeit der Vorlage kommen. Es kann sogar dazu kommen, dass die Aussage des Originals vollkommen verdreht wird. Das bedeutet: Es findet nicht nur eine Anpassung an die neue Gattung statt, wobei ein Roman in Dialoge und vor allem in Handlungen umgesetzt wird, sondern auch eine Bearbeitung des Stoffs an sich. In der vorliegenden Arbeit wird in erster Linie von „Adaption“ die Rede sein und zwar in der erweiterten Bedeutung, die man bei Pavis antrifft. Auch wenn unser Augenmerk nicht unbedingt dem Wechsel vom Medium Gedrucktes hin ins Medium Bühne gilt, rechtfertigt Pavis’ Einblick die Auffassung, beim Tranfer Märchentext zum Bühnentext handle es sich weder um eine neue Fassung noch um eine schlichte Bearbeitung, sondern um eine regelrechte Adaption bzw. Adaptation. Aus stilistischen Gründen wird der Ausdruck „Bearbeitung“ bzw. „bearbeiten“ trotzdem gelegentlich in Erscheinung treten, wobei wir nicht die literaturtechnische Auffassung meinen, sondern deren allgemeinere Bedeutung von „etwas (zu einem bestimmten Zweck) überarbeiten, neu gestalten“. Im Hinblick auf eine Begriffsbestimmung ist noch der genauere Begriff der „Dramatisierung“ zu berücksichtigen. Damit wird die Bearbeitung eines Stoffs für die Bühne bezeichnet. Ausgangspunkt dabei ist in der Regel ein epischer Stoff (Wilpert 1979: 194), auch wenn theoretisch jede andere literarische Vorlage „dramatisiert“, d.h. zu einem Theaterstück umgearbeitet werden kann. Auf jeden Fall hat die „Dramatisierung“ immer eine dramatische Form zum Ziel und kann entweder im Sinne von dramatischem Text oder zur Bezeichnung der Bühnenvorlage verwendet werden (Pavis 1988: 147; Kröplin 1986: 120). Theoretischer Rahmen 139 Gerade in dieser letzten Bedeutung wird der Begriff der „Dramatisierung“ oft demjenigen der „Bühnenbearbeitung“ gleichgesetzt. Um wieder mit Wilpert zu sprechen, heißt „Bühnenbearbeitung“ jede „Anpassung einer dramatischen Dichtung an die Erfordernisse und Möglichkeiten der Bühnenaufführung“ (Wilpert 1979: 117). Das Anpassungsspektrum kann von einer geringfügigen Strichfassung bis hin zur Auflösung der ursprünglichen Struktur reichen. Da in der hier vorliegenden Arbeit allerdings von Stücktexten und nicht unbedingt von deren Umsetzung innerhalb eines Inszenierungsprozesses die Rede ist, kommt bei uns der Begriff „Dramatisierung“ als Bühnenvorlage nicht zur Anwendung. Vielmehr meint „Dramatisierung“ bei uns immer das durch Bearbeitung einer epischen Vorlage entstandene neue Theaterstück im Sinne eines dramatischen Texts – also Adaption in Richtung Bühne. Dabei wollen wir von der modernen Debatte um das dramatische bzw. aristotelische Theater absehen, also ob der Bearbeiter Abstand halten möchte zum kanonischen (im Sinne Brechts: aristotelischen) Drama oder nicht. Eine Betrachtung von dessen Darstellung auf der Bühne als Aufführung ist bei uns nach wie vor ausgeschlossen und zwar nicht nur, weil erst in den wenigsten Fällen eine Aufzeichnung davon vorliegt, sondern weil unsere Aufmerksamkeit dem textuellen Aufbau gilt. Wenn des Weiteren bei uns von „Dramatisierung“, „Bearbeitung“ oder „Adaption“ einer epischen Vorlage die Rede ist, so ist damit immer ein Märchen gemeint. In der Literaturwissenschaft wird das Märchen der erzählenden Prosaliteratur zugerechnet (u.a. GarcÃa Berrio 1995: 177f.). Insofern wird bei uns neben epischer auch von erzählerischer Vorlage gesprochen. Darüber hinaus wird häufig von Märchenvorlage die Rede sein, weil bei den betrachteten Bearbeitungen immer ein Märchen als Grundlage dient. Da außerdem Märchen der Brüder Grimm Grundlage unserer Untersuchung sind, werden alle anderen möglichen Märchenautoren (z.B. Perrault, Andersen, Hauff) ausgeklammert. Insofern werden in dieser Arbeit Märchen mit Märchen der Brüder Grimm gleichgesetzt. 2.2.2 Einrahmende Fragen zur Dramatisierung von Märchen Im Zusammenhang mit der Dramatisierung von Märchen gilt es also zuerst, bestimmte Fragen zum Bearbeitungsprozess von der Märchenvorlage zum Bühnenstück zu behandeln. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach dem „Wie“, also nach der Vorgehensweise beim Bearbeiten. Uns geht es vor allem darum zu beobachten, wie die Bühnenbearbeiter auf der Basis unseres Korpus die Geschichte aus der erzählerischen Vorlage herausfiltern und daraus Dramatisches schaffen. Dabei sind insbesondere folgende Fragestellungen zu erörtern und zu klären: Theoretischer Rahmen 140 1. Wie gehen Bearbeiter bei der Verwandlung von Märchen zu Märchenstücken mit der Märchenvorlage vor? 2. Nehmen sie Veränderungen am Grimmschen Ausgangsmärchen vor? 3. Betreffen solche Verfahren die Umsetzung der Handlungsverläufe? 4. Kann man allgemeine Beobachtungen zur Art und Weise machen, wie Episches in Dramatisches umgesetzt wird? 5. Lassen sich an solchen Beobachtungen Regelmäßigkeiten erkennen? 6. Wie ließe sich dann die Auswirkung solcher Regelmäßigkeiten bezeichnen? 2.2.3 Die Herausforderung, Märchen zu dramatisieren Bei der Besprechung von Märchenstücken gilt es zunächst zu betonen, dass es sich stets um die Anpassung eines ursprünglich in erzählerischer Form behandelten Stoffes an eine bühnenmäßige Form handelt und nicht umgekeht. Das Ausbleiben einer solchen Mischform verweist auf eine durchgehende Einbahnstraßerichtung vom Märchen auf die Bühne, was an und für sich etwas Bezeichnendes darstellt. Damit geht die Frage einher, inwieweit eine solche Bearbeitung eines Stoffes nicht gattungsmäßigen Merkmalen unterliegt, ob also über den konkreten Text hinaus nicht formelle Konventionen im Spiel sind, die sich entweder als förderlich oder als störend auswirken. Einerseits scheint es nahezuliegen, dass die Gattung Märchen besondere Vorteile zur Ausformung literarischer Stoffe124 besitzt (Neuhaus 2005: 370). Andererseits weist sie nach, dass die Bühne als Darbietungsform auch ihre Vorzüge hat. Als gattungsmäßig werden die morphologischen Besonderheiten einer konventionalisierten Form angesehen. Solche Konventionen setzen der Einbildungskraft zwar Grenzen sowie Einschränkungen, aber zugleich erlauben sie, einen Handlungsstrang im Rahmen gewisser Erwartungen zu entfalten. Dies bezieht die Erwartungen seitens des Publikums mit ein. Bei aller Ungenügsamkeit einer strengen Annahme von Gattungsnormen bieten sie jedoch ausgesprochene Vorteile, was eine schnelle Verständigung mit dem Publikum anbelangt. Die Gattung Märchen stellt innerhalb erzählerischer Formen eine besondere Konstellation dar. Wie Propp in der Umgebung des Russischen Formalismus nachgewiesen hat, unterzieht sich nämlich die Erzählerstimme im Märchen der Darlegung gewisser Funktionen. Dabei zeichnet sich deren Darbietung durch eine breite Palette von Figurenmöglichkeiten, denn sie unterliegt keiner anthropozentrischen Mimesis. Daraus lassen sich Widersprüche zur anthropomimetischen Gattung Drama erwarten und zwar in einem doppelten Sinne vorausahnen: Einerseits würden Spannungen bezüglich der Nachvollziehbarkeit der Handlungsstränge in Frage kommen. Anderseits lassen sich Widersprüche im Sinne der 124 Der Begriff ist zu verstehen als „eine Handlungsstruktur, die verschiedenen Texten zugrunde liegt“ (Neuhaus 2014: 114). Siehe dazu auch den Eintrag „Stoff“ in Weimar (2007: 521f.). Theoretischer Rahmen 141 Aufführbarkeit der Stoffe auf der Bühne vorstellen. Das Freimachen des Bühnenrahmens für durchweg unwahrscheinliche, ja schwer unnachvollziehbare Begebenheiten aus der Märchenwelt würde die Aufhebung, ja die Sprengung jeder Rahmenschranke, die künstlerisch erst überhaupt die Möglichkeit eines Sinns zulässt (Lotman). In der Theorie könnte eine solche Bereicherung der Bühnenwelt mit Fabelwesen zu einer Lähmung der Bühne führen, wenn es darum gehen sollte, Fabelwesen um jeden Preis sehen zu lassen, anstatt sie in die Vorzüge eines Bühnentücks einspannen zu lassen. Die Unterschiede zwischen Märchen und Bühnenstück zeigen sich im Handlungsaufbau wie auch in der Gestaltung der Figuren. In diesem Sinne stehen Bühnenbearbeiter vor nicht minder komplexen gattungsspezifischen Herausforderungen. Beide Komplexe lassen sich im Lichte poetologischer Ansätze besprechen, insofern sie auf die Auswirkungen bewährter historischer Gattungen hinweisen. Gelegentlich mögen solche Anforderungen zwar als Normen vorkommen, ohne dass wir uns aber erneut in eine Debatte über künstlerische Autoritäten und Normensetzung einzulassen brauchen. Als Entscheidendes kommt uns jetzt eher vor, dass der Dramenschöpfung formale Konstanten entspringen (s. 2.1.1), die Bühnenbearbeiter bei der Umsetzung märchenhafter Stoffe vor erhebliche Herausforderungen stellen. 2.2.3.1 Herausforderungen beim Aufbau der Handlung Bei der Bearbeitung von Märchen für das Theater stehen Bühnenbearbeiter vor einer gewissen Problematik, und zwar zunächst auf Grund der Notwendigkeit, die Erzählerstimme abzuschalten, die als Vermittlungsinstanz im Erzähltext vorhanden ist. Im Vergleich zum dramatischen Text schaltet sich im narrativen Text zwischen der Geschichte und dem Leser nämlich ein Zwischenglied ein: der Erzähler (Kayser 1962: 201). Dieses von der Erzähltheorie erkannte Gattungsmerkmal der Mittelbarkeit (z.B. Stanzel 1991: 15 u. 22), das die Erzählung vom Drama wesentlich unterscheidet, trifft auch auf das Märchen als erzählerische Gattung zu: Märchen werden von einer außerhalb der erzählten Welt stehenden Erzählinstanz, also von einem „auktorialen Erzähler“ (Stanzel 1991: 24) erzählt.125 Wie lässt sich nun die charakteristische auktoriale Erzählsituation des Märchens auf der Bühne vermitteln oder vielmehr ausgleichen. Zum Ausgleich der Erzählerstimme stehen Bühnenbearbeitern unterschiedliche Verfahren zur Verfügung. Der Monolog sowie die ihm obliegenden Aufgaben (s. 2.1.1.1) erweisen sich z.B. bei der Umgestaltung von Erzähltexten in dramatische Szenen als besonders ergiebig. Oft wird tatsächlich der Monolog als Ersatzleistung für die Erzählerstimme herangezogen. Auf 125 In weiteren erzähltheoretischen Ansätzen, wie bei Genette, wird hierzu von einer „heterodiegetischen“ Erzählinstanz gesprochen. Wie schon bei Stanzel ist diejenige Instanz zu verstehen, die nicht in der Geschichte vorkommt, also eine außerhalb des Erzähltens befindliche, scheinbar neutrale Erzählinstanz (Genette 1998: 33 u. 175ff.). Theoretischer Rahmen 142 unserem Textkorpus treten die diversen Varianten häufig auf. Dabei wird die Abwesenheit einer formell als Figur auftretenden vermittelnden Erzählinstanz des Märchens oft durch Monologe mit ausgesprochen erzählendem Charakter ersetzt (s. Bortfeldts Aschenputtel und Richters Dornröschen). In langen Monologen treten Erzählerfiguren auf, die häufig gleichzeitig auch am Bühnengeschehen beteiligte Figuren sind. Insbesondere die Form des ad spectatores, wo solche Personen aus der Rolle fallen, ist für viele Monologe in den Stücktexten unseres Korpus prägend. Neben dem Anspruch auf Ausgleich der Erzählerstimme besteht bei jeder Märchenbearbeitung für die Bühne auch ein Anspruch auf dramaturgische Gestaltung des Erzähl- bzw. Märchenstoffs. Die dem Märchen zugrunde liegende Geschichte müsste dementsprechend in gegenwärtigen Dialog, Handlung und Bild umgesetzt werden. Dabei kann sich die Umsetzung allerdings an dramatische Konventionen anlehnen, d.h. sich nach den erfolgreicheren Bühnentextkonventionen im Sinne von klassischer Figurenkonzeption und Handlungsaufbau ausrichten. So gilt es vordergründig, die Fabel des Märchens durch die Entfaltung eines Dialogs bzw. der Rede der Figuren darzustellen. Weitere Anforderungen kommen zum Vorschein, so z.B. die Notwendigkeit, fortwährend die Handlung zu dynamisieren, d.h. im Sinne einer dramatischen Spannung Vorgänge zu beschleunigen, die an und für sich Zeit brauchen. Ein wichtiger Bestandteil der Umsetzung ist die sprachliche Gestaltung, insbesondere die Figurenrede bzw. das dialogische Sprechen der Figuren, wie dies für das Drama konstitutiv ist (Szondi 1963: 15; Pfister 1997: 23f.). Im Gegensatz zum narrativen Text, in dem sowohl der Erzähler als auch die Figuren zu Wort kommen, „reduzieren sich die sprachlichen Äußerungen im [...] dramatischen Text auf die monologischen oder dialogischen Repliken der Dramenfiguren“ (Pfister 1997: 23), wie bereits unter 2.1.1.1 b) dargestellt. Dramenspezifisch ist insofern die weitgehende Beschränkung auf die direkte Rede der handelnden, also der vom Autor des Stückes gestalteten Figuren, sei es als Dialog oder als Monolog. Der Gestaltungsprozess der Figurenrede darf allerdings nicht als bloßes Umschreiben der Dialoge von einer Gattung in die andere verstanden werden. An dieser Stelle sei nur an Schneiders Hinweis erinnert, dass es Bühnenbearbeitern nicht darum gehe dürfe, die Dialoge unter den Figuren aus der jeweiligen Märchenvorlage herauszunehmen und das Erzählte in Rede und Gegenrede bildhaft auf der Bühne zu formulieren. Denn „das Herausfiltern der Geschichte aus dem Buch, die wörtliche Ãœbernahme der Dialoge von der Vorlage kann doch nicht Aufgabe des Theaters sein“ (Schneider 1987: 69). Das heißt, das Ziel der bühnenhaften Umsetzung des Märcheninhalts darf also nicht darin bestehen, ein „dialogisiertes Märchen“ für die Bühne zu entwickeln. Angestrebt werden muss vielmehr die literarische Eigenständigkeit des neuen Textes als Drama gegenüber der epischen Vorlage (Schneider 1987: 69). Damit sind gewisse Erfordernisse gemeint, also die Darstellung von Vorgängen sowie das Mit- und Gegeneinander Theoretischer Rahmen 143 handelnder Figuren. Als Hauptmerkmal gilt dabei der Konfliktaufbau und dessen Darstellbarkeit auf der Bühne. Die Angemessenheit der Dialogform hängt mit medialen und gattungsmäßigen Merkmalen zusammen. Einerseits kann das Zusammenkommen von Menschen auf der Bühne nur schwer im Schweigen bzw. in deren Verwandlung zu stummen Puppen in den Händen offensichtlicher Puppenspieler bestehen. Neben Ausläufern ins Komische stiftet andererseits die Geschichte der höheren Bühnenkunst eine Tradition, wo sich die Figuren nicht nur aussprechen, sondern logischerweise eine stetige Dialektik zwischen äußeren Umständen und innerer Veranlagung ausdrücken (Szondi 1963: 14; Pfister 1997: 320f.). Im Gegensatz dazu zeichnen sich Märchen dadurch aus, dass sie ausschließlich ein äußeres Geschehen darstellen, d.h. es werden dabei keine innerseelischen Konflikte oder Denkabläufe geschildert. So bringt es die Heldin im Märchen Die zwölf Brüder (KHM 9) beispielsweise fertig, sieben Jahre lang zu schweigen: „von den seelischen Nöten und Konflikten, die in ihr dabei entstehen müssen, erzählt uns das echte Märchen nichts“ (LüthI 2005: 16). Wo immer das Märchen kann, „ersetzt es Inneres durch Äußeres“, d.h. anstelle seelischer Triebkräfte werden im Märchen äußere Anstöße gesetzt (Lüthi 2005: 17). Daraus resultiert auch das Verhältnis der einzelnen Figuren untereinander. So werden im Märchen nicht nur innere, aber auch zwischenmenschliche Konflikte ausgespart: Märchenfiguren berühren sich nur als Handelnde. Insofern trifft eine weitere Merkmalsunterscheidung zwischen Drama bzw. Bühnenstück und der besonderen Gattung Märchen durchaus zu: So sperrt es [das Märchen] sich, [...], gegen umfangreiche soziale und psychische Problemkomplexe: z.B. Erfolg und Versagen im Beruf, Politik, Konflikt zwischen Pflicht und Neigung, Reibungen zwischen Klassen, Rassen, Religionen. Ferner gegen Motive, die von psychischen und gesellschaftlichen Komplikationen ausgehen und in handfesten Ereignissen sich entladen: Selbstmord, Kindsmord, Vatermord. (Klotz 1982: 82) Konfliktsituationen, also gegensätzliche Haltungen zwischen den einzelnen Figuren sowie gegenläufige Aktionen schaffen Spannung im Drama. Jedes von einer dramatischen Figur verfolgte Ziel kann mit dem Ziel einer anderen Figur in Widerspruch oder Kampf geraten und dabei Spannung aufbauen. Aus der Wechselbeziehung (Aktion und Reaktion) entfaltet sich dann die dramatische Handlung. Offensichtlich kollidiert dies wieder mit dem Handlungsablauf im Märchen. Hier wird vielmehr gezeigt, wie die einem Ziel entgegenstehenden Hindernisse durch den Hauptprotagonisten geschickt überwunden werden (Lüthi 1989: 22). Charakteristisch dabei sind die häufigen Prüfungssituationen auf Leben und Tod. Dadurch wird Spannung erzeugt, die auf den Zuhörer/Leser sich aufs heftigste auswirkt. Allerdings beruht die Spannung der Geschichte nicht so sehr darauf, ob der Held dabei siegt, sondern wie er den Sieg erringt. D.h.: Auf welche Theoretischer Rahmen 144 Weise gelingt es dem Märchenhelden, die Proben zu bestehen, die Hexe zu überlisten oder den Unhold abzuwehren? (Lüthi 1989: 22). Im Märchen richtet sich also die Spannung auf die Erwartung, dass dem Helden etwas zustößt, sowie darauf, den Mut und die List des Helden bei der Beseitigung von Schwierigkeiten, meist durch übernatürliche Hilfe, zu bewundern. Ãœberhaupt ist die Ãœberlistung des Starken durch den Schwachen eines der beliebtesten Märchenthemen: Es gehört zum ständigen Motivgut der meisten so genannten Schwankmärchen (Solms 1999: 99). Im Märchen Das tapfere Schneiderlein (KHM 20) z.B. werden die Riesen nicht etwa durch bloßes Zuschlagen überwunden, sondern durch die List des Protagonisten. List ist auch bei Tiermärchen ein ständig wiederkehrendes Thema. Hier wird besonders der Gegensatz zwischen dem Stärkeren, aber Dümmeren, und dem Schwächeren, aber Schlaueren ausgetragen. So siegen im Märchen Die Bremer Stadtmusikanten (KHM 27) die Tiere mit Klugheit über die Räuber. Das Aufkommen unerwarteter Hindernisse bzw. von durch den Helden längst vorher mit beigesteuerten Widersprüchen kann zwar ebenso häufig bei Shakespeares Tragödien, z.T. auch in der antiken Tragödie beobachtet werden. Aber eine tiefgreifende und erfolgreiche Anwendung von für das Theater typischen Herausforderungen wurde mit dem Drama der Moderne erreicht, als die Handlung immer deutlicher auf einen zwischenmenschlichen Konflikt zurückgeführt werden konnte und ferner auf ein klares, unumgängliches Ziel hinauslief (Szondi 1963: 14). Auch wenn die Ãœberlistung des Bösen durch den Märchenhelden an einen Entschluss erinnern könnte, entspringt sie nicht aus der Dialektik der Gegensätze, sondern ist eher als instinktive, glückliche Reaktion auf den Zufall zu betrachten. Denn „Märchenfiguren werden grundsätzlich nicht so sehr durch eigene Entschlüsse gelenkt, sondern durch Anstöße von außen“ (Lüthi 1977: 44). Mit Recht bemerkt Panzer: Entwicklung und Verknüpfung der Handlung durch geistige Beziehungen und sittliche Gedanken ist im allgemeinen nicht die Sache des Märchens. Fast nie finden die einzelnen Stufen seiner Handlung sich seelisch, aus dem Innern seiner Personen begründet, aus ihrem gemütlichen und sittlichen Sein und Erleben abgeleitet. Vielmehr erscheint die Handlung überall von außen gestoßen. (1982: 32f.) Daran erkennt man einen Hauptunterschied zwischen Märchen und Drama, bzw. Erzählung und bühnenmäßigem Text, der umso schärfer wird, je mehr Originaltreue der Bühnenbearbeiter walten lassen möchte. Sowohl die Ausführung eines Konfliktes als auch dessen Lösung machen bei Bühnenstücken den Kern der Spannung aus. Damit hängt die durchgehende Gegenwart der Handlung zusammen, was wiederum die Einfühlung des Zuschauers in die Handlung umso mehr erleichtert. Die unmittelbare mediale Gegenwart bei Bühnenstücken wird dadurch Theoretischer Rahmen 145 wahrgenommen und gesteigert. Angesichts solcher Erwartung von Spannung darf es nicht verwundern, dass bei der Bearbeitung von Märchen für das Theater gerade die Verstärkung konfliktreicher Situationen eine bedeutende Stellung einnimmt. Statt der für Märchen charakteristischen Reihe spannender Abenteuer und Erlebnisse der Helden müssten nun in der Dramatisierung eher Menschen in ihren Beziehungen zueinander und ihren Konflikten miteinander dargestellt werden. Dazu gehört im Endeffekt ebenso, dass die handelnden Figuren entscheidende Entschlüsse treffen (Szondi 1963: 14), die zur Fortführung der Handlung beitragen und notwendigerweise zu einer Lösung hindrängen. Hierbei verdient das Einhalten der drei Einheiten besondere Beachtung, die Sprünge bzw. erzählerische Eingriffe vermeiden helfen: 1) Einheit der Handlung, also die Beschränkung auf eine einzige Handlung (oder zumindest die Unterordnung von Nebenhandlungen); 2) Einheit des Ortes, also das Unterlassen von Schauplatzwechseln (oder zumindest die Beschränkung auf nahe beieinander liegende Schauplätze) und 3) Einheit der Zeit, also das Unterlassen von Zeitsprüngen zwischen den Aufzügen des Bühnenstücks, was gewöhnlich in die Einhaltung der Handlung innerhalb 24 Stunden ineinander lief. Die Einhaltung solcher Formkonventionen erlaubt es, die Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit der szenischen Darstellung sowie die Einfühlungschancen seitens des Zuschauers besser zu gewährleisten. Anders als in der Darstellung durch Bilder – und zwar in den verschiedenen Medien (Spielfilm, Fernsehfilm, Zeichentrickfilm), wo die Versetzung in andere, neue Situationen zur Genüge wahrgenommen werden kann – ist die Bühnenvermittlung auf die durchgehende Gegenwart angewiesen, was eigenartige, ja gattungsspezifische Einschränkungen auferlegt. Freilich können z.B. zeitlich wie räumlich weit entfernte oder dem Zuschauer nicht zumutbare Ereignisse mit Hilfe von Botenberichten oder der so genannten Teichoskopie (Mauerschau) in die Handlung eingebracht werden. Allerdings stellen solche Mittel unterschiedliche Formen „narrativer Vermittlung“ im Drama dar (Pfister 1997: 280; auch Asmuth 1984: 109ff.), die die Unmittelbarkeit einer konfliktreichen Gegenwart in Frage stellen würden. Eine solche Gegenwart wäre dann keine absolute mehr, sondern würde sich als eine durch äußere Umstände mitbedingte, fragliche Welt offenbaren, was die Gegenwärtigkeit beeinträchtigen und sogar lächerlich machen würde. Die nahe liegende Einhaltung der drei Einheiten bei der Umsetzung eines Märchens in dramatische Form erweist sich jedoch als nicht reibungslos. Als charakteristisch für die Darstellung des Märchens gilt besonders die Ausrichtung auf eine zwar einsträngig geführte, aber zeitlich entfaltete Handlung (Lüthi 2005: 34; 1990a: 29) (s. 2.1.2.1.2). In der Märchenhandlung werden alle Elemente chronologisch aneinander gereiht. Zwar dürfte dies auch für das Drama gelten, aber hinsichtlich der zeitlichen Abfolge der Handlung seien Dramatiker weit strenger gebunden als Epiker. Um es mit Pfister zu formulieren: „Die dramatische Präsentation der Geschichte ist [...] stärker auf ein ‚einsinniges‛ Nacheinander festgelegt als die narrative Präsentation“ (Pfister 1997: 274). Dabei bereiten Theoretischer Rahmen 146 verlaufende Handlungen, Ãœberschneidungen oder Rückblenden dem Romanleser wenig Schwierigkeiten, indem der Erzähler immer helfend eingreifen kann. Hingegen „lassen sich im Drama Szenenfolgen mit häufigem Richtungswechsel in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse vom Zuschauer nur schwer erfassen“ (Platz-Waury 1999: 120). Lämmert verweist auf die eigentümlichen, gewissermaßen dazu gehörigen Freiheiten der Erzählung, die im diametralen Gegensatz zum Anspruch auf Einheitlichkeit des Dramas stehen: „Die Bauformen einer Erzählung erhalten ihre Kontur erst dadurch, dass die monotone Sukzession der erzählten Zeit beim Erzählen auf verschiedene Weise verzerrt, unterbrochen, umgestellt oder gar aufgehoben wird“ (Lämmert 1967: 32; Hervorhebung im Original). Wie lässt sich im Hinblick darauf die Grundhandlung des Märchens auf die Bühne bringen? D.h.: Wie lassen sich beim Tapferen Schneiderlein in der Bearbeitung von Richter die Rückblenden in die Handlung einfügen, um zum Beispiel die Erinnerungen der Titelfigur darzustellen? Wie kommen die Vorausschauen in die Zukunft bei Leudesdorffs König Drosselbart zustande? Und wie werden die einzelnen Unterbrechungen im Verlauf der Handlung bei Bürkners Dornröschen und Rumpelstilzchen bearbeitet? Eine weitere Herausforderung bietet die fürs Märchen charakteristische Vielstofflichkeit. Die Stoffvielfalt steht im krassen Gegensatz zur im modernen Drama gipfelnden Tendenz zur Einsträngigkeit und zur Abgeschlossenheit der Handlung. Wie gehen nun Bühnenbearbeiter mit der epischen Vielstofflichkeit um, damit die Handlung überschaubar wird? Womit bewältigen sie die gewöhnlich eher umfangreiche Geschichte im Märchen? Dabei kommen wieder Verfahren mit deutlicher Gattungszugehörigkeit zum Tragen: „Die Rücksicht auf Darstellbarkeit verlangt straffste zeitliche wie stoffliche Konzentration des Geschehens, engstes Ineinandergreifen der Wechselwirkungen innerhalb des schmalen dargestellten Handlungsausschnitts“ (Wilpert 1979: 190). Der Vielheit von Handlungen, Orten und Zeitpunkten beim Märchen steht eine für das Drama zu erwartende Verdichtung gegenüber, was als „Prinzip der Konzentration“ (Pfister 1997: 274) bezeichnet wird. Demgemäß „muss die zu präsentierende Geschichte von beschränktem Umfang sein“ (Pfister 1997: 274), also was die Zahl der Handlungen und Geschehensabläufe betrifft. Dem Zuschauer muss nämlich die Möglichkeit gegeben werden, ein Ganzes zu überblicken. Nach Aristoteles handelt es sich dabei um eine wirkungsästhetische, psychologisch im Sinne der Gedächtniswährung beim Zuschauer gemeinte Vorbeugungsmaßnahme. Hierzu mögen wir folgenden Hinweis beachten: „Demzufolge müssen, wie bei Gegenständen und Lebewesen eine bestimmte Größe erforderlich ist und diese übersichtlich sein soll, so auch die Handlungen eine bestimmte Ausdehnung haben, und zwar eine Ausdehnung, die sich dem Gedächtnis leicht einprägt“ (Aristoteles 1994: 27). Wenn es dem Drama an Ãœberschaubarkeit und Einprägsamkeit der Handlung fehlt, dann kann dessen eigentliche Wirkung – „Jammer und Schaudern“ (Aristoteles 1994: 19) – gar nicht erst Theoretischer Rahmen 147 eintreten. Weitere Ansichten messen der Konzentration die Gewährung zwischenmenschlichen Aufeinandertreffens sowie die Vermeidung jeglicher Ablenkung zu: Was wäre also geschehen, wenn sich die Prinzessin / der König / der Riese an jenem Tag nicht an dem jenem Ort aufgehalten hätte? Um den Märchenstoff bühnengemäß fassen zu können, müssen daher bei der Umsetzung von Märchen in Spielform zwangsläufig Änderungen im Handlungsverlauf der erzählerischen Vorlage seitens der Bühnenbearbeiter vorgenommen werden. Dazu gehört oft eine Abkürzung der ursprünglichen Märchengeschichte sowie die damit verbundene Konzentration auf bestimmte Episoden, was das Auslassen einzelner Vorgänge mit einbezieht. Bürkners Dornröschen bietet ein besonders lehrreiches Beispiel dafür, wie man auf einen erheblichen Teil des Grimmschen Ausgangsmärchens verzichtet und damit sich auf die entscheidende Krisenphase, also auf die Darstellung konfliktreicher Situationen konzentriert. Die für das Verständnis des Verlaufs notwendige Vorgeschichte mit den zeitlich zurückliegenden Voraussetzungen des Konflikts wird dann im Verlaufe des Stücks durch ein kurzgefasstes Figurengespräch aufgedeckt. Die Konzentration auf einzelne Episoden des ursprünglichen Märchens kommt auch bei anderen Stücken unseres Korpus zum Vorschein, z.B. bei König Drosselbart und Brüderlein und Schwesterlein vom Autorenduo Doll/Fleckenstein. Die Verdichtung der Märchenvorgänge ist ihrerseits auf einen komplexeren Einbau ins Märchenstück angewiesen. Dies zwingt zu einer komplexen Aufbereitung durch viele Szenen, um aus der Knappheit des Märchens an zwischenmenschlichen Begegnungen eine bühnenhafte Handlung zu gestalten. Die Analyse wird dann zeigen, dass Bühnenfassungen tatsächlich eine bedeutende Entfaltung von szenischen Handlungen darstellen, die erst in der Märchenvorlage aufs Knappste angedeutet werden. Neben Textänderungen, also Streichungen von Handlungsteilen und Straffungen in der Handlung, werden bei der Märchenadaption auch Streichungen einzelner Figuren der ursprünglichen Grimmschen Geschichte vorgenommen. Die zeitliche Erstreckung in einem Märchen stellt einen ganz besonderen Gegensatz zur nahe liegenden konventionaliserten Einheit der Zeit im Bühnenstück dar. Oft erstrecken sich Märchenhandlungen über eine längere Zeit hinweg. Sie können sogar Jahrhunderte umfassen (z.B. Dornröschen, KHM 50). Allerdings bietet sich auch hier eine Reihe von Möglichkeiten, eine solche Herausforderung zu bewältigen. Am bedeutendsten zeichnen sich sowohl die Zeitraffung als auch die Aussparung ganzer Zeitabschnitte der ursprünglichen Geschichte aus. Die ausgesparten Abschnitte können dann durch sprachliche Vor- und Rückgriffe oder durch aktionale und szenische Andeutungen annähernd wiedergegeben werden (Pfister 1997: 370). Dazu bietet unser Korpus mehrere anschauliche Beispiele. In Weths Aschenputtel z.B. verkündet eine zu Wort kommende Erzählerfigur: „[...] So vergingen Tage, Wochen und Monate [...]“ (Weth ca. 1975: 13). Bei Theoretischer Rahmen 148 Wanderschecks Aschenputtel findet gerade am Anfang folgender Vorgriff auf das Schlossfest statt: „PRINZ: [...] Meine Herren, die Zeit drängt. In drei Tagen findet der Ball statt [...]“ (Wanderscheck o.J.: 3). Bei Bürkners Dornröschen wird die Gegenwart der Zuschauer schließlich dadurch wahrgenommen, dass auf eine sonst kaum vorhandene Art und Weise die Glocken wiederholt läuten. Ein weiterer Anlass der Divergenz zwischen Gattungen erfolgt dadurch, dass im Märchen die einzelnen Momente der Geschichte zwar aufeinander folgen, aber nicht unbedingt in einem kausalen Zusammenhang stehen. Lüthi hat darauf hingewiesen, dass die einzelnen Episoden im Märchen voneinander abgegrenzt sind – z.B. durch Schauplatz- oder Figurenwechsel – und gegeneinander isoliert, also nicht aufeinander bezogen stehen (Lüthi 1990b: 55). Einem solchen episodenhaften Nacheinander von Handlungsabläufen im Märchen steht die Erwartung auf Einheit der Handlung im Bühnenstück krass gegenüber. Aus der in der Regel dreifältigen Motivkette des Märchens (Lüthi 2005: 20) sehen sich somit Bühnenbearbeiter herausgefordert, eine einheitliche Handlung zu gestalten. Die darzustellende Handlung also müsste kausal miteinander verknüpft sein (Klotz 1978: 216). Das reine Zusammenfügen mehrerer Episoden aus den Abenteuern eines Märchenhelden ergibt nicht unbedingt die gewünschte Handlungseinheit im Bühnenstück. Ãœberhaupt erschwert das Fehlen eines kausalen Zusammenhangs im Märchen, also eines „roten Fadens“ eine Anpassung an herkömmliche Formen dramatischer bzw. bühnengerechter Darbietung. Wie lassen sich also bei den uns vorliegenden Märchenstücken die einzelnen Bilder bzw. Sektionen der auf der Bühne darzustellenden Geschichte zusammenhalten, um damit die Erwartung einer einheitlichen Handlung zu gewährleisten? Zur Ãœberwindung besagter formeller bis technischer Widersprüche greifen Bühnenbearbeiter auf zusammenhaltende Elemente zurück. Es bietet sich dabei eine breite Vielfalt von z.T. in der Geschichte der Bühnenkunst selbst erprobten, z.T. heterodoxen Mitteln dar. Das Spektrum reicht hier von der Anwendung eines Botenberichts bis hin zur Einführung neuer Figuren, etwa Erzähler- und Kommentatorfiguren, wie in der gebildeten Bühnenkunst auf den Ausläufern des modernen Dramas wahrgenommen werden mussten (s. Szondi zum Gedächtnistheater von Arthur Miller sowie zum Drama des Naturalismus). Neben den dargestellten Herausforderungen in Bezug auf eine geglückte Bühnenform (Ausgleich der Erzählerstimme, Angemessenheit eines Konflikts unter Individuen, Einhalten der drei Einheiten) kommen schließlich zwei zusätzliche Sachverhalte in Frage: zum einen das Vorhandensein des Wunderbaren und Ãœbernatürlichen im Märchen, zum anderen die Verwendung von Wiederholungen in den Geschichten im Sinne von wiederkehrenden Situationen. Während das Wunder ein wichtiges Element des Märchenstils, ja eine für das Märchen gattungskonstituierende Bedingung ist (Lüthi 2005: 56), findet es nur sehr schwer einen Platz Theoretischer Rahmen 149 auf der Bühne, denn es verlangt zusätzliche, kaum glaubhafte Erläuterungen und Erklärungen. Wird im Märchen das Vorhandensein von Begebenheiten und Figuren wie z.B. sprechende Tiere, Feen, Hexen, Riesen und Zwerge als selbstverständlich hingenommen, so wird durch die Anwesenheit solcher Elemente auf der Bühne das Prinzip der Wahrscheinlichkeit ernsthaft gefährdet. Insofern sollte bei der Bearbeitung von Märchen lieber darauf verzichtet werden. Ebenso muss auf das „Prinzip der Wiederholung“ (Lüthi 1990b: 91) hingewiesen werden. Im Märchen gilt Wiederholung als grundlegendes Strukturelement; überhaupt ist das Prinzip der Wiederholung „eines der augenfälligsten Stil- und Kompositionsmerkmale des Volksmärchens“ (Lüthi 1990b: 91). Dabei geraten z.B. Märchenfiguren wiederholt in dieselbe Lage, Wünsche zu äußern, sich zu bewähren oder schließlich zu versagen. Wiederholung gehört zu den Aufbauprinzipien jeder mündlichen Erzählung. Ãœberhaupt hat sie eine bedeutsame Rolle im Märchen inne. Beim Vortragen verschaffen nämlich Wiederholungen dem Märchenerzähler sowohl Entspannung als auch verlässliche Anhaltspunkte. Auch von den Zuhörern werden Wiederholungen oft als Entlastung empfunden, d.h. sie gelten als eine Rezeptionspause sowie als Orientierungspunkte angesichts neuer Stränge der Erzählung. Da der Märchenhörer nicht wie der Leser zurückblättern kann, werden Wiederholungen somit zu Erinnerungsstützen (Lüthi 1990b: 91). Ãœberhaupt wirkt sich die Wiederkehr ganzer Partien gliedernd, d.h. „formend, gestaltend, Struktur schaffend“ (Lüthi 1990b: 91) aus, was dazu beiträgt die Erzählung zu strukturieren, indem ihr Kontinuität und Einheitlichkeit verliehen wird. Wiederholungen kommen im Märchen in verschiedenen Formen und auf mehreren Ebenen (s. 2.1.2.1.2) vor: Genau gleich oder nur leicht modifiziert werden im Laufe der Handlung Wörter, Formeln (etwa bei zauberischen Versen), Verhaltensweisen und Handlungsabläufe wiederholt. Zu letzterem gehört die Aufreihung von zwei oder drei einander folgenden gleichartigen oder ähnlichen Episoden. Auch das Auftreten gleicher oder ähnlicher Figuren wiederholt sich: drei Söhne, drei Schwestern, drei Riesen, drei Zwerge oder dreimal das gleiche alte Männchen (Lüthi 1990b: 93f.). Die häufige Verwendung der Dreizahl im Märchen sieht Lüthi allerdings nicht nur als bloße Wiederholung, sondern auch als Steigerung, und zwar des Umfangs (womit die Erzählung ausgedehnt wird) sowie der von der Hauptfigur zu bewältigenden Schwierigkeiten (Lüthi 1990b: 101f.) – und damit natürlich auch der Spannung (Lüthi 1990b: 104f.). Mit drei gewagten Aufgaben stellt der König den kleinen Schneider auf die Probe (Das tapfere Schneiderlein, KHM 20), dreimal erscheint Aschenputtel zum Fest in immer strahlenderen Kleidern (Aschenputtel, KHM 21) und drei goldene Haare vom Kopf des Teufels soll der Junge ausreißen (Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, KHM 29). Vor allem die grundsätzliche Tendenz des Märchens zur Wiederholung in Form von Wiederaufnahmen bestimmter Handlungsteile kollidiert mit der überlieferten dramatischen Form auf Grund des Sukzessionsprinzips (Pfister 1997: 273). Selbst die Krone des Theoretischer Rahmen 150 Bühnenwerks – also das Drama – kann dadurch antidramatisch wirken, dass bereits vergangene und scheinbar abgeschlossene Vorgänge wiederkehren. Allerdings können bei Märchendramatisierungen die für das Märchen typischen Wiederholungen sich als besonders ergiebig erweisen, und zwar hauptsächlich aus rezeptionsästhetischen und technischen Gründen auf der Bühne selbst, also weit weg vom eigentlichen Erzählen. Durch Wiederholungen, Wiederaufnahmen und Parallelismen erzielen Bühnenbearbeiter nämlich nicht nur beabsichtigte Zuschauerwirkungen, so z.B. Spannung zu wecken und Aufmerksamkeit zu erzeugen. Damit erleichtern sie auch dem kindlichen Zuschauer das Verständnis des durch eine Vielfalt an Sinneserfahrungen (Bühnenbild, Dekoration, Beleuchtung, Musik) unübersichtlich geratenen Bühnengeschehens. Gerade in diesem Sinne mag die Wiederholung zum möglichen Aufbaumoment des Bühnenstücks werden. Sie erweist sich vielmehr als ein wichtiges Element zur dramatischen Kohäsion. Jedenfalls wird auf traditionellen Bühnenformen der Infragestellung der Wahrscheinlichkeit durch Wiederholungen sowie durch Einschub von Wunderbarem prinzipiell aus dem Weg gegangen. Beide Phänomene zielen auf das Identifikationsprinzip und die Forderung nach Glaubhaftigkeit des Dargestellten. Damit stoßen die Bühnenbearbeiter unumgänglich gegen das Primat der Wahrscheinlichkeit bzw. dagegen, wie anders seine Einhaltung in den beiden Gattungen Märchen und Drama aussieht. Eng verbunden mit dem Wahrscheinlichkeitsbegriff ist der Zufall, der sich bei der Umsetzung von Märchen als Theaterstück gegen den Hintergrund einer nuanciert aufgebauten Dramenkunst auch als problematisch herausstellen kann. Im Märchen spielt Zufall eine große Rolle: Märchenhandlungen sind häufig dem Zufall preisgegeben und Märchenfiguren sind oft von Zufällen abhängig. Helfende und ratgebende Figuren erscheinen immer gerade dann, wenn sie gemäß der Situation benötigt werden, aber meistens zufällig. Und am Schluss werden oft alle Widrigkeiten durch einen glücklichen Zufall überwunden. Bei Rumpelstilzchen (KHM 55) z.B. ist es ein kleines Männchen, das unverhofft und zufällig im entscheidenden Augenblick auftritt und der verzweifelten und hilflosen Müllerstochter in ihrem Verlies dabei hilft, Stroh in Gold zu verwandeln. Erst durch einen glücklichen Zufall kann sie also ihr Leben retten und Königin werden. Im Gegensatz dazu weist die Unverträglichkeit des Dramas mit dem Zufall darauf hin, inwiefern Bühnenpräsenz und Wunderbares bzw. Unwahrscheinliches nur schwer zusammen passen. Handlungen auf der Schaubühne unterstehen einem deutlichen Gebot für Wahrscheinlichkeit, denn sie werden vor den Augen einer unmittelbaren Zuschauerschaft gezeigt, deren Vielfalt und somit unterschiedliche Akzeptanz gegenüber unwahrscheinlichen Vorgängen oft eine unvorhersehbare Herausforderung darstellen mag. Gewiss mögen auf der Bühne weitere Vermittlungsformen wie Musik, gebundene Sprache, Akrobatisches und Tanz zum Auffangen der Aufmerksamkeit der Zuschauer auch bei unwahrscheinlichen Handlungen Theoretischer Rahmen 151 erkennbar verhelfen; dennoch ist es kein Wunder, dass aus der Gesamtheit von Bühnentraditionen gerade die eine Form entstanden ist, also das moderne Drama, in der das Gebot für Wahrscheinlichkeit und anthropozentrische Mimesis einen Höhepunkt erreicht. Im Drama, zumal in der klassischen Ausprägung des durch Szondi beschriebenen modernen Dramas, gibt es keinen Spielraum für den Zufall; d.h. Zufälle, genauso wie unwahrscheinliche Elemente, werden dabei möglichst ausgeschlossen: Ereignisse und Begegnungen von Menschen beruhen nicht auf Zufall, sondern auf gezieltem menschlichem Handeln. Handlungen und Figuren sind in einem Motivationsverhältnis miteinander verknüpft (Szondi 1963: 18). Märchenstücke streben zwar den Zustand der klassischen Dramaturgie keineswegs an, aber die für die Bearbeitung Zuständigen verspüren nichtsdestoweniger, welche Grenzen den Handlungen aus Wundermärchen gesetzt sind, falls die Akzeptanz der wenige Meter weg sitzenden Zuschauer nicht allzu sehr in Anspruch genommen werden will. Beim Bearbeitungsprozess müssten somit die in der Handlung dargestellten Figuren auch mit nachvollziehbaren, mimetisch zumutbaren Motiven ausbalanciert werden (s. 2.2.3.2). Im Hinblick darauf soll am Beispiel der Märchenstücke in unserem Korpus gezeigt werden, wie Bühnenbearbeiter mit der Wahrscheinlichkeitsfrage und dem Zufall umgehen. Es gilt insbesondere folgende Fragen zu klären: 1. Wird Wahrscheinlichkeit von den Bearbeitern als besonders anstrebenswert erachtet? 2. Wird nach einer eigenen Motivierung des Bühnengeschehens gesucht? 3. Inwieweit gelingt es den Bearbeitern, den Zufall vollständig zu gewähren? (Bzw.: Ist ein Verhältnis zwischen einem solchen Gewähren und der Popularität der Stücke zu erkennen? Zu guter Letzt stellt sich noch die Frage nach der Gestaltung des Dramenschlusses, d.h.: 4. Wie wird die Handlung seitens der Bühnenbearbeiter zu Ende geführt? 5. Lassen sich dabei durchgehende Lösungen ausmachen? Daran dürfte man ersehen, auf wie unterschiedliche Weisen Erzählung und Bühnendarstellung die Konfliktlösung bewerkstelligen. Während beim Märchen der Konflikt tendenziell auf fantastische Weise gelöst wird, indem Wundersames herangezogen wird (Neuhaus 2005: 372), zeigt sich die dramatische Form eher wahrscheinlichen Lösungen verpflichtet. Ferner weisen formelhafte Schlusssätze der stofflichen Grundlage wie u.a. „Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie noch“ (Fundevogel, KHM 51), „[...] lebten glücklich zusammen bis an ihr Ende“ (Brüderchen und Schwesterchen, KHM 11) oder „[...] und sie lebten vergnügt Theoretischer Rahmen 152 bis an ihr Ende“ [Dornröschen, KHM 50]) offensichtlich auf zwei verschiedene Sachverhalte hin: Zum einen handelt es sich dabei um einen glückhaften Schluss, also den Sieg des Guten über das Böse – wobei idealtypischerweise die Hauptprotagonisten Eheglück, Reichtum oder sozialen Aufstieg erringen –, zum anderen geht es dabei auch um ein offenes Ende. Das bedeutet: Der Zuhörer/Leser erfährt nicht, wie die Geschichte zu Ende geht. Erwartet werden auf dem medial bedingten Bühnenstück hingegen eher abgeschlossene Handlungen. Denn dem Bühnenstück wohnt ein Anspruch auf Absolutheit bzw. Abgeschlossenheit gegenüber fremden Bezügen inne. Sein Höhepunkt im modernen Drama verträgt keinesfalls den Vergleich mit dem geschichtlichen Anlass in der Menschheits- bzw. Sozialgeschichte. Insofern ist historisches Drama ein Wiederspruch an sich (Szondi 1963: 17). Das Drama duldet keine Ablenkung, was die Vorstellung einer Fortsetzung der Geschichte miteinbezieht. Die Dramenhandlung ist auf Vollendung und Abschluss hin abgestimmt. Jede Handlung muss entsprechend abgeschlossen werden: „Der Idealtyp der geschlossenen Form gestaltet eine in sich völlig geschlossene Geschichte mit voraussetzungslosem Anfang und endgültigem Schluss“ (Pfister 1997: 320). Zur Beantwortung der oben angeführten Fragen sei folgender Vorgriff auf die Darstellung im nächsten Kapitel erlaubt. Die angeführten Fragen eröffnen zwar einen weiten Ausblick, aber es ist kaum zu übersehen, dass eine allgemeine Tendenz bei den Bühnenbearbeitern gerade das Zusammenraffen der Handlung in mehr oder weniger enger Anlehnung nach dem Skopus der Abgeschlossenheit des Bühnenstücks ausrichtet, der die Geschichte der Gattung offensichtlich nachweist. In Vorwegnahme kommender Ausführungen sei hier nun auf unterschiedliche Lösungen bei der Bearbeitung der Handlung hingewiesen. Tendenziell greifen die Bühnenbearbeiter inhaltlich in die Grimmsche Märchenhandlung ein und interpretieren den Schluss um, um so eine abgeschlossene Handlung herauszubekommen. Dabei werden verschiedene Verfahren angewandt: 1. Einführung versöhnender und dem Ausgangsmärchen sonst fremder Schlüsse, wie z.B. bei den Aschenputtel-Bearbeitungen von Wanderscheck und Bortfeldt; 2. Einsatz von Reden resümierenden Inhalts, z.B. bei Richters Dornröschen; 3. Wendung einer der handelnden Figuren an die jungen Zuschauer, wie bei Das tapfere Schneiderlein in der Bearbeitung von Richter; 4. Einlage von Tanz, Musik und festlichem Spiel, wie etwa bei Bürkners Rumpelstilzchen; 5. Hinzufügen von Figuren (z.B. hilfreiche Tiergestalten oder wohlwollende Feen), die die Aufgabe eines deus ex machina übernehmen und dem Geschehen die Schlusswende geben. Theoretischer Rahmen 153 2.2.3.2 Herausforderungen bei der Figurengestaltung Im vorangegangenen Abschnitt war die Rede von den Herausforderungen beim Aufbau der Handlung, denen Bühnenbearbeiter bei der Bearbeitung von Märchen für die Bühne ausgesetzt sind. Wir haben gesehen, dass dabei eine Änderung der inneren Struktur und des Aufbaus des zugrunde liegenden Märchens erforderlich ist, und zwar auf Grund von wesentlichen formalen Konstanten des Dramas. Änderung des Handlungsaufbaus und Änderung der Figurengestaltung sind zwei unmittelbar voneinander abhängige Gegebenheiten. Darum geht es nun in diesem Abschnitt um die Herausforderungen seitens der Bearbeiter bei der Konzeption und Charakterisierung der Figuren. Eine historische Annäherung an die Gattungstheorie erlaubt somit vorauszuahnen, welche poetologischen Konflikte die Bühnenbearbeiter von Märchen überwinden müssen. Grundsätzlich handelt es sich dabei um Lösungen für den komplexen Bereich der Handlung im Stück. Innerhalb eines solchen breiten Geflechtes ragt allerdings die Größe Figur als abgesteckte Gestaltungsinstanz besonders hervor. Ihre abgesonderte Betrachtung ermöglicht eine Erweiterung der Sicht auf jene Herausforderungen. Besondere Berücksichtigung verdient hierbei die Individualisierung der Märchenfiguren. Dabei ragen besonders die Hauptträger der Handlung heraus. Bekanntlich ist behauptet worden, dass im Märchen die handlungstragenden Figuren keine Individualität (Lüthi 1990a: 28; 2005: 13) besitzen, auch nicht im Sinne einer eigenen Geschichte (Lüthi 1990b: 55). Dies mag sie andererseits von gewöhnlichen erzählerischen Gestalten, etwa von Romanfiguren ebenso unterscheiden. Pfister spricht in diesem Zusammenhang von der „biographisch-genetischen Dimension“ der Romanfiguren und weist darauf hin, dass dabei „die sozialen Determinanten einer Figur, ihre Entwicklung, ihre psychologische Disposition und ihre ideologische Orientierung in beliebiger Ausführlichkeit und Detailliertheit entfaltet werden“ (Pfister 1997: 223). Analog dazu (und im Gegensatz zum Märchen) weist das Drama als Gipfel der Bühnenkunst individualisierte, komplexe und vielschichtig angelegte Gestalten auf. Das wird von Pfister mit dem Begriff „mehrdimensionale Figurenkonzeption“ gekennzeichnet (Pfister 1997: 243f.). Insofern werden Bühnenfiguren generell durch einen großen Satz an Merkmalen definiert, d.h. mit einem bestimmten Persönlichkeitsprofil versehen. Neben dem biografischen Hintergrund sind sie durch eine Kombination persönlicher und damit unverwechselbarer Eigenschaften ausgezeichnet, die Aussehen, geistige und charakterliche Züge, Werte usw. umfassen (Pfister 1997: 244). Dementsprechend stellt gerade die Umsetzung der von Lüthi festgestellten Merkmale der Märchenfiguren eine besondere Herausforderung dar; also Mangel an Individualität, Flächenhaftigkeit, Isolation und Beziehungslosigkeit. In Frage kommt hier auch die Tatsache, Theoretischer Rahmen 154 dass im Märchen kein Konflikt im Sinne des Gipfelpunkts Drama herbeigeführt wird. Zwar werden im Märchen existenzielle Probleme im Alltag, dabei oft Familienkonflikte thematisiert (Röhrich 1982: 68f.), aber die darin auftretenden Figuren tragen keine inneren Konflikte mit sich selbst oder mit den Gleichartigen aus. Ebenso wenig wird erwartet, dass in die eventuellen Konflikte hauptsächlich mit Hilfe der Sprache eingegangen wird. Wie bereits (2.1.2.1.2 b) dargestellt, geht es beim Märchenhelden vielmehr darum, die ihm von außen gestellten Proben zu bestehen. Zur erfolgreichen Lösung der gestellten Aufgaben ist dabei kein persönlicher, individueller sowie individualisierender Entschluss nötig, sondern Glück, Mut, der Besitz magischer Kräfte oder auch Klugheit (Lüthi 1990a: 30). In diesem Sinne müssen Bühnenbearbeiter aus den entindividualisierten und flachen Märchenfiguren Menschen als Redende, also Figuren in zwischenmenschlicher Interaktion entstehen lassen. Im Gegensatz zum Märchen wird im Drama als dem Gipfelpunkt der Bühnenkunst zudem vorausgesetzt, dass der Protagonist nicht nur als sprechendes, sondern auch als reagierendes Subjekt geschildert wird. Zu den Kernaufgaben der Bühnenbearbeiter zählt insoweit, die Hauptfigur die Initiative ergreifen zu lassen, d.h. den Märchenhelden sein eigenes Schicksal selbst bestimmen zu lassen. Wird der Held im Märchen passiv und von äußerer Führung, also von Aufgaben, Verboten, Bedingungen, Gaben und Ratschlägen anderer Figuren abhängig dargestellt (Lüthi 1990a: 30; 2005: 16f.), so neigt die Bühnenkunst tendenziell hingegen oft dazu, den Hauptprotagonisten aktiv, selbstständig agierend und sich selbst führend darzustellen. Im Allgemeinen ist sein ganzes Handeln dadurch gekennzeichnet, dass es aktiv, dynamisch und intentional, also psychologisch oder ideologisch motiviert ist (Asmuth 1984: 150; Platz-Waury 1999: 105). Aus dem „charakterlosen“ Märchenhelden ohne Innen- und Außenwelt (Lüthi 2005: 13) muss also ein durchaus individueller Charakter entstehen, der sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Die einzelnen Figuren, insbesondere die Hauptfigur, in ihrer Charakterisierung nach dem eigenen freien Willen, also nach eigener Motivation handeln zu lassen, leistet einen ergiebigen Beitrag zur Festigung des mimetischen Prinzips: Dadurch wird gewährleistet, dass aus den handelnden Figuren glaubwürdige Menschen entstehen können. Damit erhält die gesamte Dramenhandlung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit. Um die Bühnenhandlung überhaupt glaubhaft werden zu lassen, muss sich oft eine tiefgreifende Umgestaltung und psychologische Verfeinerung des Märchenhelden ergeben. Die äußerliche Geschehensautomatik im Märchen muss in innermenschliche Vorgänge umgesetzt werden, die sich im Gemüt eines autonomen Individuums abspielen. Es stellt sich schließlich noch die Frage nach der Einfühlung des Zuschauers in die einzelnen, auf der Bühne dargestellten Figuren und ihre Situation, was durch ihre Mimesis, Glaubwürdigkeit und Wahrscheinlichkeit gefördert wird. Darstellung und Analyse 155 3. Darstellung und vergleichende Analyse von Märchendramatisierungen im deutschen KJT Im Bereich dramatischer Texte ist häufig ein bearbeitender Rückbezug auf bereits vorliegende Dramatisierungen eines mythischen oder geschichtlichen Stoffs zu finden (Pfister 1997: 72; auch Frenzel 1992). Die Bearbeitung vorliegender Dramen spielte beispielsweise in Brechts dramatischem Werk eine wichtige Rolle.126 Knopf hat darauf hingewiesen: „Brecht knüpft an schon Gestaltetes, [...], nimmt es auf, ,zitiert‘ es (bis zum berühmten Plagiatsvorwurf) und bearbeitet es“ (Knopf 1980: 2; zu Brechts Bearbeitungen auch Subiotto 1975). Aber die Verwandlungen von erzählerischen Vorlagen in Bühnenstücke sind kein so verbreiteter Vorgang. Im deutschen Gegenwartstheater – zumindest seit Mitte der 1990er Jahre – ist allerdings ein verstärkter Trend zur Bearbeitung von Romanen für die Bühne zu beobachten, der zwischen den Paradigmen der Postdramatik und dem modernen Erzähltheater steht (Kurzenberger 1998; Brandstetter 1999; Lehmann 2008: 196ff.). Im Laufe seiner vergleichsweise kurzen, etwa hundertfünfzigjährigen Geschichte hat aber schon das deutsche KJT eigenartigerweise immer wieder auf epische Literatur zurückgegriffen. Konkret hat es zur Dramatisierung erzählender Kinder- und Jugendliteratur, vor allem altbekannter Märchen tendiert. Eine ähnliche Entwicklung hatte sich bereits zuvor im deutschsprachigen Bühnenraum angebahnt, z.B. im Drama der deutschen Romantik. Dabei finden wir Dramatisierungen von Märchenstoffen bei Ludwig Tieck (Der gestiefelte Kater, 1797) und Heinrich von Kleist (Käthchen von Heilbronn, 1810), später im Gefolge der Romantik auch bei Georg Büchner (Leonce und Lena, 1836), Friedrich Hebbel (Der Rubin, 1851) und Gerhart Hauptmann (Die versunkene Glocke, 1896; Und Pippa tanzt, 1906). Zu den Vorläufern dieses Phänomens in Österreich zählen Franz Grillparzer (Der Traum ein Leben, 1834) sowie Ferdinand Raimunds Zauberpossen und dramatisierte Märchen. Allerdings wandten sich diese Märchendramen vorzüglich an ein erwachsenes Publikum. Das deutsche KJT eröffnet insofern eine interessante Perspektive in die unterschiedlichen Mittel einer solchen Wanderung. Wie im historischen Rückblick (Kap. 1) bereits erläutert, hat vor allem die Adaption von Märchen für die Bühne einen immer größeren Raum in der Theaterpraxis für Kinder in Deutschland eingenommen. Geschichtlich gesehen geschah dies in dem Maße, dass lange Zeit „Kindertheater und Märchenspiel für ein und dasselbe galten“ (Schedler 1973: 170). 126 Zu nennen wären hier z.B. die Stücke Leben Eduards des Zweiten von England (1924), eine Bearbeitung von Marlows The Troublesome Raigne and Lamentable Death of Edward the Second, King of England (1594); Die Antigone des Sophokles (nach der Hölderlinschen Ãœbertragung für die Bühne bearbeitet) aus dem Jahre 1947; Der Hofmeister (1949) von Lenz; Der Biberpelz und Der rote Hahn (1950) von Hauptmann; Coriolan (1951-1955) von Shakespeare; und Don Juan (1952) von Molière. Darstellung und Analyse 156 Tatsächlich sind Märchen seit ihren Anfängen ein traditionelles Reservoir für das deutsche Kindertheater gewesen, aus dem die unterschiedlichen Geschichten gewonnen worden sind. Schon im 19. Jahrhundert war Görner mit seinen Bühnenbearbeitungen deutscher und französischer Märchen Vorreiter. Im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich dann auch Kindertheaterautoren massiv aus dem großen Märchen-Fundus bedient. Vermutlich gehören die von den Brüdern Grimm gesammelten und bearbeiteten Volksmärchen zu den Stoffen, mit denen sich dramatische Autoren am meisten auseinandergesetzt haben. Aber nicht nur die Märchen der Brüder Grimm, sondern auch die der großen Märchenerzähler innerhalb und außerhalb Deutschlands, wie Hauff, Bechstein, Andersen, Perrault und anderer hat es immer wieder als Bearbeitungen für die Kinderbühne gegeben. Neben Märchenstoffen sind auch oft bekannte Romane der Kinder- und Jugendliteratur für die Bühne adaptiert worden. Dazu zählen Erich Kästners Emil und die Detektive und Pünktchen und Anton, Ottfried Preußlers Räuber Hotzenplotz, Michael Endes Momo, Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter oder Carlo Collodis Pinocchio – allesamt moderne Märchen. Formal ließe sich also einerseits das Zurückgreifen auf erzählerische Vorlagen, seien es Märchen oder Kinder- und Jugendbücher, als Prinzip der Gattung Kinder- und Jugendtheater feststellen. Inhaltlich und thematisch wären andererseits Kinder- und Jugendstücke in hohem Maße von Kinder- und Jugendromanen bestimmt. Das Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland ist untrennbar verbunden mit der Tradition des von Görner erfundenen „Weihnachtsmärchens“. Märchenstücke, wie sie von Görner geschrieben und produziert wurden, haben von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts das Bild des KJTs in Deutschland geprägt – im Grunde prägen sie es noch heute. Vor allem in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg und bis 1970 (Doderer 1995: 27ff.), aber auch dann im Jahrzehnt in den 1970er Jahren besetzten Dramatisierungen klassischer Märchenstoffe (Grimm, Hauff, Andersen, Märchen aus der Sammlung Erzählungen aus den Tausendundein Nächten) die Spielpläne der ehemaligen bundesdeutschen Bühnen (Fröse 1983: 49ff.). Dabei handelte es sich vorwiegend um Märchendramatisierungen nach dem Modell des „Weihnachtsmärchens“ (Doderer 1995: 202). Ähnliches galt für das Stückangebot der Verlage für die Altersgruppen von 6 bis 9 Jahren. Auf jährlichen Fachtagungen zu Fragen des KJTs wurde seitens Kindertheater-Experten und Dramaturgen oft auf das veraltete Repertoire der Verlage hinsichtlich dramatischer Literatur für Kinder und Jugendliche hingewiesen. So ist z.B. im Protokoll zur 1971 in München stattgefundenen Arbeitstagung der Sektion BRD der ASSITEJ Folgendes zu lesen – und zwar nicht frei von Kritik an der seinerzeit herrschenden, durch Stagnation gekennzeichneten Situation des Kindertheaters: Darstellung und Analyse 157 Von insgesamt ca. 200 Angeboten an Stücken, fällt immer noch der größte Teil auf Bearbeitungen von Grimm, Andersen und 1001 Nacht. Stücken, die auf den politischen, gesellschaftlichen und religiösen Situationen und Entwicklungsstadien vergangener Jahrhunderte basieren. Der erste Kontakt, den Kinder mit der Literatur machen, ist somit ein Kontakt mit bösen Hexen, Zauberern und Räubern, alten traurigen Königen, guten Feen, armen aber sauberen und ehrlichen Dienstmägden. (Baum 1971: o.S.) Auch in den 1980er Jahren standen weitgehend Bearbeitungen von Märchen (insbesondere Grimmscher Märchen) auf den Spielplänen der meisten öffentlichen Bühnen: Hier feierte „die alte Praxis des Weihnachtsmärchens fröhliche Urständ‘“ (Jahnke 1994: 45). So war 1981/82 Dornröschen nach den Brüdern Grimm das meistgespielte Kinderstück mit 1.089 Aufführungen. Für die Spielzeit 1985/86 zeigte sich dann, dass sich die Zahl der aufgeführten Märchen (31,7%) ebenso wie in den vorherigen Jahren erhöht hatte: Der Deutsche Bühnenverein errechnete allein 771 Aufführungen des Aschenputtels und 268 Vorstellungen von Schneeweißchen und Rosenrot. Schon damals wies Schneider auf die Zunahme der Märchenspiele hin: „Unter den zehn Titeln, die am häufigsten gespielt wurden, basieren allein sechs auf Vorlagen der Brüder Grimm“ (Schneider 1987: 66). Auch in der Spielzeit 1989/90 überwogen an der Spitze der Tabelle der meistgespielten Kinder- und Jugendtheaterstücke „Märchen und Abenteuer“ (vgl. die Jahresstatistik 1989/90 des Deutschen Bühnenvereins). Im KJT in der ehemaligen DDR bestand eine vergleichbare Situation. So wurden in der Zeit zwischen 1950 und 1972 auch Märchenbearbeitungen auf Kinderbühnen geboten. Vielfach handelte es sich dabei um Dramatisierungen der bedeutendsten und bekanntesten Märchen der Brüder Grimm oder Andersens (Hoffmann 1976: 145ff.). Hoffmann unterscheidet drei Entwicklungsphasen mit gleitenden Ãœbergängen: Die erste Phase umfasste die Jahre 1945 bis 1950 und stellt die Phase der Märchendramatisierungen nach dem Modell des „Weihnachtsmärchens“ dar, so wie es auch in Westdeutschland gepflegt wurde. Zu den Hauptelementen der Stücke gehören also „dramaturgischer Aufputz einfacher Geschichten, Kinderballett, Dekors ohne Bezug zur Fabel, Süßlichkeit und Idyllisierung einst kräftiger Stoffe, und über allem eine Moral, die das Kind wünscht, wie der gute Bürger zu werden habe“ (Hoffmann 1976: 145f.). Diese Phase brach nicht ab, sondern hielt sich besonders an mittleren und kleinen Theatern. Es folgte eine zweite Phase, in der Bühnenautoren sich von der Tradition des „Weihnachtsmärchens“ zu distanzieren versuchten. Unter dem Einfluss sowjetischer Märchentheater-Autoren wie Schwarz und Marschak entwickelte sich schnell eine eigenständige Märchendramatik (Hoffmann 1976: 146). Die in dieser Zeit entstandenen Märchenstücke zeichneten sich durch eine soziale Didaktik und eine politische Aktualisierung aus (Hoffmann 1976: 148). Die dritte Phase begann Mitte der 1960er Jahre (Hoffmann 1976: 152) und war besonders geprägt von einer „totalen Poetisierung des Märchens, wobei das Poetische durchaus auch [...] in den siebziger Jahren [...] zu finden ist“ (Jahnke 1992: 44). Die Darstellung und Analyse 158 1980er Jahre wurden dann auch durch eine weiterhin starke Bevorzugung des Märchentheaters gekennzeichnet: Von 1980 bis Ende 1988 waren z.B. von den 207 Inszenierungen der fünf professionellen Kinder- und Jugendtheater der DDR 122 Aufführungen Märchen, also mehr als die Hälfte (Hoffmann 1990: 21). Zum Standard gehörten Bearbeitungen Grimmscher Märchen sowie internationale, vor allem russische Volksmärchen (Wardetzky 1992: 21). Im wiedervereinten Deutschland der 1990er Jahre hatte die Bearbeitung von Märchen für die Bühne als „Weihnachtsmärchen“ weiterhin Hochkonjunktur (Jahnke 1994: 47).127 Das geht im Prinzip bis heute so weiter. Die Form des „Märchenerzählens“ mag sich zwar verändert haben, aber das übliche „Weihnachtsmärchen“ als saisonbedingte Inszenierung gibt es heute wie damals: Bis in unsere heutige Zeit verströmt es alljährlich um die Weihnachtszeit seine märchenhafte Atmosphäre und zieht Kinder, wie auch Erwachsene in seinen Bann (Bohn 2008). Tatsächlich standen nach Angaben des Deutschen Bühnenvereins für die Spielzeit 2010/2011 unangefochten die Brüder Grimm wieder an der Spitze der Tabelle der meistgespielten Autoren in Deutschland. An Märchendramatisierungen nach dem Modell des traditionellen „Weihnachtsmärchens“ ist allerdings immer starke Kritik geübt worden (Jahnke 2001: 131) und zwar u.a. wegen der Art und Weise, wie dabei mit dem Märchen umgegangen worden ist: Das (epische) Sujet wurde bis zur Unkenntlichkeit aufgelöst in einer theatralischen Konzeption, die allein darauf abzielte, dem Auge etwas zu bieten: Balletteinlagen, große (theatralische) Aktionen und Dekorationen, die sich auf offener Bühne verwandelten. Darüber hinaus wurde das Märchen durch ein reiches Figurenarsenal – insbesondere komischer Personen – ergänzt, sodass das „Weihnachtsmärchen“ zum prächtigen Spektakel geriet. (Jahnke 1983: 41) Kritik am „Weihnachtsmärchen“ hieß allerdings nicht unbedingt Kritik am Märchen als Vorlage, sondern beschrieb allein eine Spielpraxis. Vor allem wurde die Praxis des „Weihnachtsmärchens“ von Schedler angeprangert. Schon in seinen im Oktober 1969 in Theater heute veröffentlichten Sieben Thesen für sehr junge Zuschauer (s. Kap 1, Abschn. 1.3.6) hatte er „die Abschaffung des ‚Weihnachtsmärchens‘“ gefordert (Jahnke 1983: 42). Neben Schedler war das traditionelle Märchentheater auch seitens der Theaterpädagogik in Frage gestellt. So gaben nach Michael Behr (geb. 1960) traditionelle Märcheninszenierungen den Kindern festgelegte und klischeehafte Bilder vor. Behrs Kritik richtete sich gegen die Festlegung, die die Fantasie der Kinder unterdrücke: 127 Dazu auch die Werkstatistiken „Wer spielte was?“ des Deutschen Bühnenvereins ab der Spielzeit 1990/91. Darstellung und Analyse 159 Bilder behindern das freie Gedankenspiel eines jeden Rezipienten. Ein nicht vorformendes Anklingenlassen unbestimmter urtypischer Vorgänge gewinnt ja seine faszinierende Wirkung gerade dadurch, dass sich Erfahrungen und Gefühle individuell mit ihnen verbinden können. Die Festlegung, die die Theaterbühne mit jenen traditionellen Märcheninszenierungen schafft, verhindert solches geradezu. Sie raubt dem Märchenrezipienten jene ganz persönliche Ebene des Vorstellens und Durchlebens, sie degradiert den Märchenstoff zum ausschließlichen Bühnenspektakel. (Behr 1985: 12) Ist heute noch die Rede von „Weihnachtsmärchen“, dann ist es unter den Experten geläufig, von einer Vereinfachung der Gattung Kinder- und Jugendtheater zu sprechen. Diese Einschätzung liegt einerseits, wie auch schon früher, im Unterhaltungscharakter der Stücke begründet, d.h. in der Absicht, das Kinderpublikum zu unterhalten (Jahnke 1994: 37). Andererseits ist sie der Schwäche in der ästhetischen (z.B. durch das Vorhandensein von stereotypisierten Handlungen und Figuren) und Aufführungsqualität traditionell geschriebener Märchenstücke zuzuschreiben. Hierin zeigt sich die Vulnerabilität des „Weihnachtsmärchens“ als theatralische Gattung. Allerdings handelt es sich beim „Weihnachtsmärchen“ eigentlich um ein sehr vielfältiges Genre, denn Dramatiker arbeiten an ein und dem gleichen Märchenstoff mit dem Ergebnis, dass unterschiedliche Perspektiven entstehen. Bekannte und beliebte Märchen der Brüder Grimm wie z.B. Aschenputtel (KHM 21) oder Dornröschen (KHM 50) haben tatsächlich dramatische Autoren zu immer neuen Bühnenbearbeitungen angeregt, d.h. zu neuen Darstellungen, in denen Handlungen und Figuren aus wechselnder Perspektive geschildert worden sind. Die unterschiedlichen Blickrichtungen und Bedeutungsverlagerungen haben somit den verschiedenen Werken ein durchaus eigenes Gepräge verliehen. So sind die Handlungen der Märchenstücke von Bühnenbearbeitern wie z.B. Robert Bürkner (1887-1962) oder Kurt Bortfeldt (1907-1981) mit zahlreichen Musik- und Tanzeinlagen durchsetzt. Dieser Sachverhalt zeigt bereits deutlich, dass Theaterautoren sich bei der Bearbeitung von Märchen für die Bühne einen großen Spielraum herausnehmen, um ihren eigenen Zugang zu den epischen Geschichten zu finden. 3.1 Tendenzen bei der Bearbeitung von Märchen für die Bühne Bei der Besprechung der verschiedenen Bearbeitungstendenzen müssen auf jeden Fall diejenigen Alternativen bedacht werden, die sich Bühnenbearbeitern bei der Dramatisierung eines Märchens anbieten. Dabei wird grundsätzlich von zwei entgegengesetzten Polen der Bühnenkunst ausgegangen, nämlich von der dramatischen bzw. aristotelisch-klassischen und der ihr diametral entgegengesetzten epischen Form der Bühnenkunst. Während erstere sich auf die Förderung von Mimesis und Einfühlung einstellt und auf die Erfüllung der drei Einheiten Handlung, Raum und Zeit zurückgeht, löst sich letztere von der tradierten Dramenform, indem Darstellung und Analyse 160 sie die genannten Einheiten preisgibt und sich hin zum Epischen wendet. Beide Konzeptionen sind ohnehin als idealtypische Ausprägungen zu betrachten, denen sich die einzelnen Märchenstücke aus unserem Korpus immer nur mehr oder weniger annähern. Damit ist eine strukturelle Besonderheit der Stücke, keineswegs eine ästhetische noch überhaupt eine wertmäßige Einschätzung gegeben. Ãœberhaupt wird der erzählerische Charakter der episch angelegten Form des Dramas in der Präsenz von Erzähler- bzw. Kommentatorenfiguren deutlich. Dadurch beschränkt sich das sprachliche Medium nicht nur ausschließlich auf die unvermittelte Figurenrede, also auf den zwischenmenschlichen Dialog, sondern konstituiert sich auch durch die gefilterte Wiedergabe von Ereignissen seitens der Erzählerfigur. Durch die unmittelbare Wendung der Erzählerfiguren ans Publikum wird darüber hinaus der Spielcharakter des Dargestellten betont und so die dramatische Illusion verhindert. Neben der Präsenz von Erzählerfiguren lassen sich noch andere epische Formelemente nennen, die zu einer erzählerischen Struktur der Stücke beitragen. Dazu gehören Prologe, Chöre und aus der Rolle fallende Figuren, ebenso wie die im Gegensatz zur strengen aristotelischen Bauweise des Dramas lockere Aneinanderreihung der Szenen. 3.2 Das Märchenstück: Charakterisierung einer Mischgattung Wurde im Kapitel 2.1 ein theoretischer Ãœberbau mit Hilfe philologisch-historischer Ansätze (Szondi, Rölleke, Uther) einerseits und deskriptiv-strukturalistischer Ansätze (Pfister, Propp, Lüthi) andererseits schrittweise besprochen, so soll jetzt auf die Vermischung der Gattung Märchen und der Gattung Drama am Beispiel der in unserem Korpus vorliegenden Märchenstücke analytisch eingegangen werden. Dabei sollen die im Kapitel 2.2 dargestellten Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Bearbeitung von Märchen für die Bühne sowie die dort gestellten Fragen, die nun durch nähere Untersuchung geklärt werden müssen, in Erwägung gezogen werden. Das Hybridum Märchenstück bietet ein Zwischenfeld dar, das aber keine reine Addition bedeutet, sondern eine eigenartige, zwischen den beiden Polen Erzählung und Bühnenaufführung sich erstreckende Textgattung. Die Auseinandersetzung damit hat in Deutschland inzwischen einen langen Weg zurückgelegt. Insofern berufen wir uns vor allem auf die Vorarbeiten durch Tornau (1958), Schedler (1972) und Jahnke (1977), die die Tradition des Märchenstücks als „Weihnachtsmärchen“ im deutschsprachigen Bühnenraum beschreiben. Vor allem Tornaus Arbeit war richtungsweisend und sie ist immer noch unentbehrlich für jeden, der sich mit der Gattung Märchenstück beschäftigen möchte. So gründlich auch in den genannten Arbeiten auf bühnenausgerichtete bzw. kultursoziologische Fragen eingegangen wurde, so sehr vermisst man doch eine Auseinandersetzung mit den Textvorlagen selbst. Die Herangehensweise beim Darstellung und Analyse 161 Adaptionsverfahren muss vielmehr anhand der Belege, also der Textvorlagen, hinterfragt werden. Dadurch lässt sich eine eigene Sparte in der Geschichte des KJTs in Deutschland erschließen, nämlich diejenige, in der Erneuerer unermüdlich – sei es auf traditionellere, sei es auf modernere Weise – um eine Erweiterung des Repertoires gerungen haben. Textkorpora mögen insofern ein breites Spektrum an Lösungen beinhalten und somit ein kennzeichnendes Panorama auf eine zwar geschichtlich befristete Textsorte, jedoch zugleich gattungsmäßig ergiebige Variante bieten, der wir uns verpflichtet fühlen, als Mischgattung anzusehen. In engem Zusammenhang mit diesen Beobachtungen stehen folgende Fragen: 1. Inwiefern handelt es sich bei der geschichtlichen Variante Märchenstück um eine festgelegte Form bzw. um eine Gattung? 2. Was für Umwandlungen lassen sich gegebenenfalls an der Form festmachen? 3. Wie lassen sich die Experimente eines ihrer bedeutendsten Erneuerer, nämlich Friedrich Karl Waechter (1937-2005), darin einordnen? 4. Lässt sich die Entwicklung von den Anfängen bis Waechter mit Hilfe genannter Studien ausreichend erklären? 5. Lässt sich eine internationale Anwendbarkeit der deutschsprachigen Tradition aufzeigen? D.h.: Stehen wir vor einer universell anzuwendenden Gattung oder vielmehr allein vor einer lokal-geschäftlich zu erklärenden Variante? Das KJT weist gerade in Zeiten tiefgreifender Technologisierung eine besonders verheißungsvolle Rolle aus. In diesem Zusammenhang sind unter anderem z.B. die Filmadaptionen bzw. die Verfilmungen von Grimmschen Märchen durch den US- amerikanischen Filmproduzenten Walt Disney (1901-1966) zu beachten.128 128 Die Auseinandersetzung mit der geschichtlichen Gattung Märchenstück ermöglicht in der Tat die Untersuchung weiterer Umsetzungsphänomene von Märchen, wie z.B. die Umsetzung Grimmscher Märchen in Zeichentrickfilme durch Disney. Er war einer der Ersten, der sich die Märchen der Brüder Grimm vornahm und zu einem Film umschrieb. So kam 1937 seine erste Märchenadaption in die Kinos: der Zeichentrickfilm Schneewittchen und die sieben Zwerge (Originaltitel: Snow White and the Seven Dwarfs). Dieser Märchenfilm bildete aufgrund seines großen Publikumserfolges den Grundstein für eine Vielzahl von weiteren Zeichentrickfilmen aus der Disney-Company. Fünf der über 50 Zeichentrickfilme Disneys sind Adaptionen Grimmscher Märchen. Zu den wohl bekanntesten zählen Aschenputtel unter dem englischen Namen Cinderella (1950) und Dornröschen bzw. im Originaltitel Sleeping Beauty (1959). Und zu den jüngsten Disney-Märchenadaptionen zählt der Film Tangled aus dem Jahre 2010, der in Deutschland unter dem Namen Rapunzel – Neu verföhnt gezeigt wurde. Eine allgemeine Eigenschaft dieser Märchentrickfilme ist, dass sie auf Motive und Stoffe zurückgreifen, die auf jüngere als auch ältere Zuschauer vollständig vertraut wirken, wodurch sie sich generationsübergreifend halten. Außerdem wirken sie zeitlos, da die zugrunde liegenden Stoffe ebenso zeitlos sind: der Konflikt Gut gegen Böse, der Kampf des Kleinen gegen den Großen usw. Eine weitere wesentliche Eigenschaft besteht in der archetypischen Gestaltung der auftretenden Figuren, d.h. sie besitzen allgemeinmenschliche Merkmale, sie sind stilisiert oder abstrahiert (s. Heidtmann 1992: 3ff.; 1997: 259ff., 1998: 23ff. u. 2000: 82ff.). Darstellung und Analyse 162 Allerdings sollte man mit Erfahrungen in anderen künstlerischen Landschaften behutsam umgehen. Um Missverständnissen vorzubeugen und den Fachleuten auf dem Gebiet behilflich zu sein, wurden eben im vorangegangenen Kapitel (s. 2.1.1 u. 2.1.2) historisch-formelle Bezugsgrößen herausgearbeitet. Aus dieser Doppelperspektive erhoffen wir uns einige Klarheit über den Stoff dieser Arbeit zu verschaffen, nämlich in Hinblick auf die Charakterisierung der uns vorliegenden, dem Genre des Märchenstücks angehörenden Kinderstücke. 3.3 Textauswahl Als Bewährungsfeld bedient sich die vorliegende Arbeit einer Sammlung bezeichnender Märchenspiele, die gleichsam ein Korpus der historischen Gattung bildet. Unser Korpus umfasst traditionell einzustufende sowie moderne Märchenstücke. Das Korpus der traditionellen, also nach dem „Weihnachtsmärchen“-Modell geschriebenen Stücke besteht aus insgesamt 20 Bühnentextvorlagen. Dabei werden folgende Bühnenbearbeiter und Stücke herangezogen: • C.A. Görner (1806-1884) und Hans Zimmermann Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel: Märchenspiel nach den Brüdern Grimm (Nachdr. 1962 [1874]) • Robert Bürkner (1887-1962) Dornröschen. Ein Märchenspiel in drei Bildern (Nachdr. 2001a [1922]) Rumpelstilzchen. Ein fröhliches Märchenspiel in drei Bildern (Nachdr. 2001b [ca. 1975]) • Inge Leudesdorff (geb. 1919) Rumpelstilzchen. Ein Märchen in acht Bildern nach den Brüdern Grimm (Nachdr. ca. 1980a [verm. 1947]) König Drosselbart. Ein Märchen in vier Bildern nach den Brüdern Grimm (Nachdr. ca. 1980b [verm. 1948]) • Kurt Bortfeldt (1907-1981) Aschenputtel. Weihnachtsspiel nach dem Grimmschen Märchen (o.J. [verm. 1960er Jahre]) • Hermann Wanderscheck (1907-1971) Aschenputtel (o.J. [verm. 1960er Jahre]) • Hans Peter Doll (1925-1999) und Günther Fleckenstein (geb. 1924) Rumpelstilzchen. Ein Märchen nach den Gebrüdern Grimm (Nachdr. 1978 [verm. 1960er Jahre]) König Drosselbart. Ein Märchen nach den Gebrüdern Grimm (1966) Darstellung und Analyse 163 Brüderlein und Schwesterlein. Ein Märchen frei nach den Brüdern Grimm (Nachdr. ca. 1985) • Guido von Kaulla (1909-1991) und Thekla von Kaulla (geb. 1915) Das tapfere Schneiderlein (1963) • Karlheinz Komm (1934-2013) Das tapfere Schneiderlein. Märchen-Lustspiel nach Grimm (1970) • Georg A. Weth (geb. 1936) König Drosselbart. Ein Märchen in sieben Bildern nach den Gebrüdern Grimm (ca. 1970) Aschenputtel. Ein Märchen in fünf Bildern nach den Gebrüdern Grimm (ca. 1975) • Gert Richter (geb. 1929) Das tapfere Schneiderlein. Ein Märchenspiel in vier Bildern nach den Brüdern Grimm (1977) Dornröschen. Ein Märchenspiel in sieben Bildern nach den Brüdern Grimm (1981) • Alexander Gruber (geb. 1937) Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Stück für Kinder nach dem Märchen der Brüder Grimm (1977) Das tapfere Schneiderlein. Stück für Kinder nach dem Märchen der Brüder Grimm (Nachdr. 1995 [1986]) • Carmen Blazejewski (geb. 1954) Brüderchen und Schwesterchen. Theatermärchen nach den Brüdern Grimm (1996) • Hans Thoenies (geb. 1932) Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Nach den Brüdern Grimm (1998) Das untersuchte Textkorpus von traditionellen Märchenstücken umfasst also 4 Bearbeitungen des Märchens Aschenputtel, 4 von Das tapfere Schneiderlein, 3 des Rumpelstilzchens, 3 von König Drosselbart, 2 des Dornröschens, 2 von Brüderchen und Schwesterchen und 2 von Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Zum Märchenspiel Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel von Görner und Zimmermann ist Folgendes anzumerken: Der Nebentitel selbst weist darauf hin, dass es sich dabei nicht um eine Bearbeitung des Grimmschen Aschenputtel-Märchens (KHM 21) handelt, sondern dem Stück primär Perraults Fassung Cendrillon ou La petite pantoufle de verre (1697) zugrunde liegt. Die Einbeziehung dieses Stücks ins Korpus der Arbeit ist insofern bedingt zu betrachten, als es sich in diesem Fall um eine Bearbeitung des als „Vater des deutschen Weihnachtsmärchens“ (Tornau 1958: 37) geltenden Autors handelt, und begründet sich ferner durch deren Vorbildfunktion für die später im deutschen Sprachraum entstandenen Märchenbearbeitungen. Darstellung und Analyse 164 Eine besondere Erweiterung erfährt unser Textkorpus durch Einbeziehung von Bühnenmärchen des Autors Friedrich Karl Waechter. Insbesondere werden verschiedene, z.T. sehr unterschiedliche Versionen ein und desselben Stückes herangezogen. Dabei geht es um Bearbeitungen von Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29). Zum Waechter- Sonderkorpus gehören also die 1975 entstandene Urfassung des Stücks, die den gleichnamigen Titel wie die Märchenvorlage trägt, die überarbeiteten Versionen von 1982 und 1988 (wieder mit dem gleichen Titel) sowie die Fassung von 1991 mit dem neuen Titel Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Im Vergleich zu den oben aufgelisteten Stücken handelt es sich dabei um moderne Märchenstücke, die als Bühnenbearbeitungen eine neue Zugangsweise zum Märchen bieten. Als Begründung für die selektive Auswahl bestimmter Märchenstücke bzw. für die Nichtaufnahme bestimmter anderer sei auf Folgendes hingewiesen: • Die Stücktexte wurden nach dem Kriterium ausgewählt, dass darin Märchen bewältigt werden. Für deren Aufnahme war ebenso sehr der Bekanntheitsgrad im europäischen Kulturraum entscheidend. Dabei wurden insbesondere Märchen der Brüder Grimm beachtet. • Zur Aufnahme der Stücke ins Korpus wurde auch die Häufigkeit der Inszenierungen sowie deren Beurteilung durch die (Fach-)Presse gewertet. • Die Stücke wurden ebenfalls aufgrund des Bekanntheitsgrades der Autoren ausgewählt. Es handelt sich dabei also um Märchenstücke bedeutender Autoren, die das KJT im deutschen Sprachraum geprägt haben und immer noch prägen. Bis in die Gegenwart hinein bekannt sind vor allem Bürkners Bühnenbearbeitungen, die seit Jahren immer wieder für das Kinderpublikum gespielt werden. • Für die Auswahl der Stücke wurden auch Empfehlungen durch Bühnenverlage sowie Hinweise von kompetenten Theatermachern und -wissenschaftlern berücksichtigt. Zur Textauswahl ist noch anzumerken, dass im Falle von Waechters Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, das im Korpus mit insgesamt vier veröffentlichten Fassungen vertreten ist, die Auswahl auf der ständig neuen Beschäftigung des Autors mit dem Grimmschen Stoff basiert. Vor diesem Hintergrund erscheint es unerlässlich, das Analysespektrum durch die Fokussierung auf eine verbindliche Textbasis einzugrenzen, und zwar im Sinne einer ökonomischen Arbeitsweise. Die Einbeziehung aller von Waechter vorgenommenen Fassungen vom Teufel ist nämlich in dem von uns projektierten Rahmen nicht zu leisten. Um dennoch eine einheitliche Textbasis zu garantieren, werden daher die oben schon erwähnten Fassungen von 1975, 1982, 1988 und 1991 als Grundlage der Analyse angesetzt. Darstellung und Analyse 165 3.4 Darstellung von Handlung und Figuren am Beispiel des Korpus Hier wird sich die Diskussion hauptsächlich damit beschäftigen, wie sich die uns vorliegenden Bühnentextvorlagen zu Handlungsstruktur und Figurengestaltung verhalten, sowie welche Merkmale sich dabei als charakteristisch bezeichnen lassen. Eine Trennung zwischen Handlung und Figuren fällt verständlicherweise schwer, weil beide Kategorien sehr eng miteinander zusammenhängen (Pfister 1997: 220; Platz-Waury 1999: 106; sowie oben Abschn. 2.1.1.1). Da die dramatischen Figuren durch die Handlungszusammenhänge geprägt sind und nur im Bezug auf diese dargestellt werden können, erscheint es uns notwendig und sinnvoll, die beiden Kategorien gemeinsam zu behandeln. Im Rahmen der Besprechung vom Aufbau der Handlung verdient der Konflikt besondere Aufmerksamkeit. Dabei ist grundsätzlich zu untersuchen, inwiefern Ãœbereinstimmungen zwischen Bühnenstück und Märchenvorlage vorliegen oder grundlegende Änderungen in der Fabel vorgenommen worden sind. Daneben wird auch zu beobachten sein, wie Bühnenbearbeiter in die Grimmsche Märchenhandlung eingreifen, um das zugrunde liegende Märchen in ein dramatisches bzw. theatralisches Medium umsetzen zu können. Welche Kunstgriffe machen sich Bearbeiter bei der Umsetzung der Märchenvorlage zum Bühnenstück zunutze, damit z.B. die im Drama zu erwartenden drei Einheiten von Handlung, Zeit und Ort eingehalten werden? Berücksichtigt werden sollen dabei beispielsweise gewisse grundlegende Faktoren, die den Fortgang und Zusammenhalt der dramatischen Handlung gewährleisten sowie die Wahrscheinlichkeit des Dargestellten erhöhen und damit dazu beitragen, den Zuschauer emotional in das Geschehen einzubeziehen. Zur Figurenzeichnung gehören insbesondere Fragen nach der typischen oder individuellen Zeichnung und nach statischer oder dynamischer Anlage der Figuren. Die Verbindung zwischen Figurenzeichnung und Handlungsschilderung soll durch Einbeziehung der Fragen nach peripherem oder zentralem Charakter der Figur, also nach deren dramaturgischer Funktion als Neben- oder Hauptfigur, sowie nach ihrer passiven oder aktiven Rolle und ihrer Funktionalität erreicht werden. 3.4.1 Analyse traditioneller Märchenstücke Zuerst setzen wir uns mit gattungsspezifischen Merkmalen der als „traditionell“ einzustufenden Märchenstücke auseinander. Der Gegensatz zwischen „traditionell“ und „modern“ beruht auf grundlegend verschiedenen Vorstellungen darüber, wie Märchenstoffe dramatisiert werden, d.h. wie Märchen für die Bühne aufbereitet und als Theaterstück aufgeführt werden. Der Begriff „traditionell“ bedeutet eine Form der Bearbeitung von Märchen ganz nach dem traditionellen, von den meisten öffentlichen und privaten Bühnen gespielten Darstellung und Analyse 166 „Weihnachtsmärchen“. Als „modern“ gelten in der Forschung Märchenstücke, die ab Mitte der 1970er Jahre der Praxis des konventionellen Märchentheaters entgegenwirken wollten. Es handelt sich um diejenigen Stücke, welche ein Pendant zur Märchenrezeption auf städtischen und privaten Bühnen bildeten und damit neue Wege im Märchentheater für Kinder in Deutschland beschritten. Dazu zählen einerseits die auf Grimmschen Stoffen basierenden Bühnenmärchen von Friedrich Karl Waechter (Die Beinemacher, 1974; Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, 1975; Die Bremer Stadtmusikanten, 1977) und Hans Mathes Merkel (Das Märchen vom starken Hans, 1977) im Rahmen des Anspruchs vom „emanzipatorischen“ KJT, also jenem „Theater für und mit Jugendlichen, das seine Adressaten zu einer kritischen Reflexion der Umwelt und des eigenen Verhaltens anregen“ wollte (Kayser 1985: 1); andererseits die im Laufe der 1980er Jahre durch Paul Maar (Die Reise durch das Schweigen, 1983; Das Wasser des Lebens oder Die Geschichte von Nana und Elisabeth, 1986) und Wilfrid Grote (Der treue Johannes, 1984; Der Bärenhäuter, 1985; Katze und Maus in Gesellschaft, 1985; HansMeinIgel, 1986) entstandenen Bühnenbearbeitungen nach bekannten Grimmschen Märchenvorlagen. 3.4.1.1 Weiterbestehen des zugrunde liegenden Märchens Die Beobachtung der als „traditionell“ aufgefassten Märchenstücke unseres Korpus ergibt, dass die meisten Bühnenbearbeiter bei der Ãœbertragung des Märchens in den dramatischen Modus kaum etwas an der Grimmschen Kernfabel abändern können, auch wenn man der Handlung offensichtlich einen Schein dramatischer Auseinandersetzung gewähren möchte. Untersucht man die Handlungsebene und das Figurenrepertoire der einzelnen Bühnentextvorlagen, so lässt sich in den meisten Fällen tatsächlich eine beträchtliche Anzahl von Gemeinsamkeiten in Handlung und Figuren zwischen Bühnenstück und zugrunde liegendem Märchen erkennen. Dabei ist auffällig, dass die Bearbeiter bei der Umsetzung des Märchens auf die Bühne größtenteils eine Annäherung an bereits vorhandene Konventionen des Dramas versuchen, was ihnen aber nur zum Teil gelingt. Trotz solcher Versuche, sich an dramatische Konventionen anzulehnen, sieht man den Bühnenstücken ihren Ursprung als Märchen an. Folglich arbeitet der größte Teil der uns vorliegenden Stücke eher mit den Stilmitteln des Märchens. Bei allen offensichtlichen Unterschieden zwischen den einen und den anderen Vertretern der Bühnenkunst fällt es schwer, die Parallelen hinsichtlich der Handhabung dramatischer Formen zwischen den traditionellen Bühnenbearbeitern von Märchen einerseits und den großen Namen der Bühnenkunst im ausgehenden 19. Jahrhundert andererseits zu übersehen (Strindberg, Ibsen, Tschechow, Maeterlinck, Hauptmann). Bei Letzteren hat Szondi nachgewiesen, wie ihr Werk „in seinem Inhalt (verneint), was es, aus Treue zum Ãœberlieferten, Darstellung und Analyse 167 formal weiter aussagen will: die zwischenmenschliche Aktualität“ (Szondi 1963: 75). Der neue Subjekt-Objekt-Gegensatz kennt keine zwischenmenschliche Aktualität mehr, aber die großen Autoren geben sich dennoch Mühe, die neuen Konflikte in die bewährte Form des Dramas zu gießen. Trotz des enormen ästhetischen Abstandes lässt sich ein Ähnliches auch unter unseren traditionelleren Bühnenbearbeitern von Märchen verzeichnen. Durch Umänderungen der märchenhaften Fabel (s. 3.4.1.2) versuchen sie immer wieder, weit auseinanderliegende Geschichten in dramatische Aktualität zu versetzen. Jedoch geschieht dies nur sehr bedingt, wie das Gewicht von herkömmlichen Handlungs- und Figurenkonstellationen immer wieder bezeugt. Tendenziell können in diesem Zusammenhang folgende Merkmale festgehalten werden: 1) Konfliktlose Handlungen Blickt man auf die in den Märchenstücken dargestellten Handlungen, so zeigt sich, dass die Ãœbertragung von der einen Gattung in die andere nicht immer mit der Entfaltung eines entsprechenden dramatischen Konflikts im Sinne des Audrucks einer „Kollision von Gegensätzen und Widersprüchen“ (Allkemper/Eke 2006: 123) einhergeht. Vielmehr weisen die Märchenstücke eine allgemeine Tendenz zur Märchenform hinsichtlich der Handlung auf, nämlich „Schwierigkeiten und ihre Bewältigung“ (Lüthi 1990a: 25). Die zur Analyse herangezogenen Märchenstücke haben demzufolge ihr Wesentliches in der Darstellung einer Handlung, in der der darin agierende Held seinem Schicksal ausgesetzt ist und ihm folgen muss, wenn es ihm Unglück schickt. So wird dabei in erster Linie eine Handlung gezeigt, die eigentlich eine Herausforderung und eine Aufgabensetzung enthält, aber keinen zwischenmenschlichen Beziehungskonflikt im dramatischen Sinne aufweist, also keinen Konflikt polarer Kräfte oder gegensätzlicher Haltungen, die beim Zuschauer wirkliche Spannung erzeugen. Zwar gibt es zwischen dem Helden und den übrigen auftretenden Figuren viele kleine Konflikte, die wir bereits aus der Geschichte des zugrunde liegenden Grimm-Märchens kennen. So wird Aschenputtel von der Stiefmutter und den Stiefschwestern schlecht behandelt, Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor den Schikanen der bösen Stiefmutter in den Wald, die stolze Königstochter wird von ihrem Vater verstoßen usw. Allerdings gibt es dabei keinen Kampf zwischen widerstreitenden Gegensätzen, wie dies für das Drama aus dem Theater für Erwachsene, zumal in der klassischen Ausprägung des durch Szondi beschriebenen modernen Dramas, konstitutiv ist (Szondi 1963: 14). Im Gegensatz dazu wird dabei oft der Held im engeren, epischen Sinn auf eine ganze Reihe von Abenteuern geschickt, in denen er Mut und Geschick beweisen muss. Der Zuschauer nimmt so an der Entwicklung eines Helden teil, der Darstellung und Analyse 168 mit scheinbar unlösbaren Aufgaben belastet konfrontiert wird, vor denen er zwar zunächst völlig hilflos steht, zu deren Bewältigung ihm aber dann in größter Not Hilfe zuteil wird. Ein besonders gutes Beispiel dafür stellt Richters Das tapfere Schneiderlein dar. Wie im Ausgangsmärchen der Brüder Grimm (KHM 20) besteht auch hier der „Konflikt“ in der Beseitigung der Schwierigkeiten seitens des Helden (Schneider Fridolin Leichtfuß), die der Erwerbung der Prinzessin Rosenblüte und der endgültigen glücklichen Vereinigung im Wege stehen, also die Begegnung mit den beiden Riesen, dem rasenden Wildschwein und dem unzähmbaren Einhorn. Kein eigentlich dramatischer Konflikt dominiert also bei Richter, sondern die für den Helden entscheidenden Begegnungen und Abenteuer, bei denen die Proben auf Leben und Tod ebenso eine Rolle spielen wie deren Lösungen. Auch bei den verschiedenen Adaptionen des Rumpelstilzchen-Stoffes (KHM 55), so bei Leudesdorff sowie bei Doll/Fleckenstein, wiederholt sich das zugrunde liegende Grundschema der Bewährungsproben der Grimmschen Märchenvorlage: Nach der Lösung der drei ersten Aufgaben (das Goldspinnen) gerät die Müllerstochter in eine neue Notlage (Rumpelstilzchens Erpressung), die sie mit einer neuen Aufgabe bewältigen muss: dem Namenraten. Und auch dafür gibt es einen Beleg aus der Aschenputtel-Bühnenbearbeitung von Wanderscheck. So wie im Grimmschen Märchen (KHM 21) muss auch hier die Hauptfigur (Elfi) die von ihrer Stiefmutter Ulrike aufgestellten, scheinbar unlösbaren Aufgaben (die Erbsen- und Linsenauslese) lösen, bevor sie zum Ball gehen darf und am Ende ihr Glück findet. In allen vier Fällen wird – genauso wie im zugrunde liegenden Märchen – die Spannung dadurch erreicht, dass der Hauptfigur ein Ziel gesetzt wird, das erst durch Lösung von Aufgaben und Ãœberwindung von Schwierigkeiten erreicht werden kann. Dabei bereitet oft das Einsetzen des Verstandes des Helden den jungen Zuschauern ein Vergnügen, den Sieg des körperlich Schwächeren über den Stärkeren durch Schlauheit und Mut zu sehen. Das ist besonders an der Handlung im o.g. Beispiel von Das tapfere Schneiderlein zu erkennen. Eben dadurch, dass in den Märchenstücken die Rezipienten mit Handlungen konfrontiert werden, die keinen Beziehungskonflikt zwischen zwei Personen aufweisen, sondern vielmehr Schicksalserlebnisse darstellen, ist anzunehmen, dass dabei keine herkömmlich dramatische Einfühlung des Zuschauers intendiert wird. Der Fatalismus bedeutet tatsächlich eine potentielle Verhinderung zur Ausschöpfung der rezeptiven Veranlagung. In diesem Sinn besteht das Wesen des theatralischen Erlebnisses vorliegender Märchenstücke darin, dem Kinderpublikum eine Reihe von Abenteuern vorzuführen bzw. „konfliktlose“ Geschichten zu zeigen, wobei die Zuschauer zu Beobachtern menschlicher Schicksale werden. Hier hat also die Einfühlung des Publikums in den Konflikt von Gegensätzen keine Priorität mehr. Einfühlung wird vielmehr durch andere Mittel erreicht. Eine naheliegende Möglichkeit besteht beispielsweise in dem Einsatz völlig neuer Figuren (z.B. Erzählerfiguren), die als Ansprechpartner die Einfühlung der zuschauenden Kinder in die Figuren und Situationen befördern können. Darstellung und Analyse 169 2) Fremdbestimmte Handlungen Neben konfliktlosen Handlungen treten in den Märchenstücken auch „fremdbestimmte“ Handlungen auf. Darin werden die Helden zum Objekt unergründlicher Mächte, was völlig im Gegensatz steht zum dramatischen Ideal eines Subjekts, das zum Objekt wird, aber kraft seiner eigenen Handlung. Denn schaut man kurz auf die Figurenebene der Stücke, so stellt sich schnell heraus, dass der Großteil der wichtigsten handlungstragenden Figuren nicht durch eigene Entschlüsse gelenkt wird, so wie es im Drama zu erwarten ist (Szondi 1963: 14), sondern eher durch Anstöße „von außen“ im Sinne von Ratschlägen, Zaubergaben, Aufgaben und Schicksalsschlägen, so wie es für das Märchen charakteristisch ist (Lüthi 1990a: 30; 1977: 44). Fremdbestimmtes trifft insbesondere dann zu, wenn die im Stück handelnden und dargestellten Menschen äußeren Einflüssen nachgeben – sei dies, dass man einem anderen gehorcht, dass man gezwungen, getrieben oder von Gefühlen übermannt wird oder dass man sich sogar der Willkür oder dem Zufall überlässt. Gerade dadurch, dass die Hauptträger der Handlung ständig einem unfreien Handeln unterstellt sind und sich in beinahe automatisch ablaufenden Handlungsfolgen in ihr Schicksal ergeben, wirken die meisten der Märchenstücke antidramatisch, d.h. die einzelnen Stufen der Handlungen der Protagonisten werden nicht aus dem Innern begründet und zwar vor allem deshalb, weil es ihnen an der notwendigen Motivation fehlt. Vielmehr werden die einzelnen Handlungsstufen auch nicht nach dem Kausalitätsprinzip aufgebaut (Pfister 1997: 267), d.h. sie stehen nicht unter dem Gesetz von Ursache und Wirkung, sondern die Handlungen der Protagonisten werden „von außen“ (unmotiviert) manipuliert. Darum werden sie auch oft durch eine deus-ex-machina-artige Figur herbeigeführt, so wie wir es für das antike Theater (z.B. bei Euripides) kennen. Allerdings gab es dei ex machina nicht nur in der antiken Tragödie und in der unter ihrem Einfluss stehenden Renaissance- und Barocktragödie. Auch das zeitgenössische Theater kennt Beispiele für das plötzliche Auftreten solcher Figuren – vgl. nur die Götter in Brechts Der gute Mensch von Sezuan (1953), hier allerdings in ironischer Verwendung. Damit kann wieder ein nachvollziehbarer Parallelismus zwischen Bühnentext und Märchenvorlage hergestellt werden: So wie der deus ex machina „Grundsatz der Märchenhandlung“ (Panzer 1982: 33) ist, so gibt es auch in den meisten Märchenstücken eine allgemeine Abhängigkeit von gottähnlichen Eingriffen. Häufig erscheint darin nämlich eine dem märchenhaften deus ex machina vergleichbare Figur, z.B. der beschützende „goldene Vogel“ in Wanderschecks Aschenputtel, die Baumfee „Haselnuß“ in Bortfeldts Bühnenbearbeitung des gleichen Märchens, die gütige Fee „Floralia“ in Richters Dornröschen oder wie sie in den verschiedenen Adaptionen innerhalb unseres Korpus auch immer genannt werden mag. Diese übernatürliche Figur ist es, die die Handlung bestimmt bzw. die Aufgabe übernimmt, eine restlos verfahrene Situation aufzulösen. Darstellung und Analyse 170 Allerdings handelt es sich dabei nicht immer nur um Figuren der außermenschlichen Welt. Menschliche Figuren können auch als deus ex machina auftreten. Ein Beispiel dafür bietet etwa die Figur der Musfrau in der bereits angeführten Bearbeitung Das tapfere Schneiderlein durch Richter (im Stück trägt sie übrigens den Namen Minchen Brumm). Hier wird die Titelfigur, Schneider Fridolin Leichtfuß, von der immer in letzter Sekunde auftauchenden Frau Brumm vor dem sicheren Tod gerettet (Richter 1977: 86, 93 u. 95). Ãœber das überraschende Eingreifen einer solchen Figur wird weiter unten (s. 3.4.1.2, Abschn. 7) noch näher die Rede sein und zwar im Rahmen der Lösung des dramatischen Konflikts. 3) Märchenähnliche Struktur Was den dramaturgischen Aufbau der Handlung anbelangt, so neigen Bühnenbearbeiter auch dazu, sich vom zugrunde liegenden Grimmschen Märchen leiten zu lassen, insofern sie der erzählerischen Vorlage in deren, wenn man so will, „dramaturgischem“ Aufbau folgen. Wardetzky hat dies schon in ihren Untersuchungen zum Thema „Märchen“ erkannt und darauf hingewiesen, dass bei der dramatischen Umsetzung einer Märchenvorlage manche Bühnenbearbeiter ein dramaturgisches Gefüge aus dem „,théâtre imaginaire‘ des epischen Stoffes“ gewinnen (Wardetzky 1998: 15).129 Genauer gesehen sind nach Wardetzky (2007: 53) die meisten Märchen tatsächlich nach dem Muster des klassischen, aristotelisch geprägten Dramas oder doch zumindest in ihrer Bauweise „dramatisch“ strukturiert, d.h. mit Einleitung (bzw. Exposition), Steigerung, Höhepunkt, Umkehr und Katastrophe, was in der Tat dem von Freytag (1969: 102) entwickelten fünfteiligen Strukturmodell entspricht und prototypisch für die Handlungsstationen eines Dramas der geschlossenen Form (Klotz 1978: 14) steht (s. 2.1.1.1). Sich der Grimmschen Märchenvorlage bedienend, ziehen es Bühnenbearbeiter also vor, im Märchenstück eine sich zwischen Anfang (Mangelsituation) und Ende (Aufhebung der Mangelsituation durch den Helden) erstreckende Handlung zu zeigen. Wichtig ist dabei die entscheidende Handlungsphase, also der Kampf und Sieg des Helden. Prägend bei dieser Struktur ist der stereotype Verlauf der Handlung: Dabei muss der Held als junger Mann oft unter unglücklichen Umständen Heimat und/oder Elternhaus verlassen und sich auf den Weg in eine ihm unbekannte Welt machen. Unterwegs begegnet er einer Reihe von Abenteuern, die ihn zugleich mit einem Spektrum von mächtigen Gegenspielern und anspruchsvollen Aufgaben konfrontieren. Hier kommen oft übernatürliche Kräfte zum Zuge: Zum einen die guten, die dem Helden helfen, und zum anderen die bösen, die ihn aufzuhalten versuchen. Am Ende findet der 129 Wardetzkys Beobachtung erinnert stark an Mallarmés Bemerkung zur Lesepraxis: „Toute lecture évoque un théâtre imaginaire“ (Mallarmé 1945: 330). Darstellung und Analyse 171 Held sein Glück. So aufgebaut sind z.B. die im Korpus enthaltenen Bühnenbearbeitungen der Märchen Das tapfere Schneiderlein, Brüderchen und Schwesterchen und Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. Das eben dargestellte Handlungsschema kehrt leicht variiert an anderen Märchenstücken aus unserem Korpus wieder. So ist es Grundlage für die Handlung der verschiedenen Rumpelstilzchen-Bühnenfassungen. Es gibt natürlich auch noch weitere Variationen zum Muster, das nur jeweils mit unterschiedlichen Motiven konkretisiert und durch Vervielfältigung seiner Grundelemente erweitert wird: Bei den verschiedenen Bühnenadaptionen des Aschenputtels findet man z.B. das Motiv von der verkannten und zu den niedrigsten Arbeiten gezwungenen Tochter. Auch die Adaptionen von König Drosselbart gehören z.T. hierher. Neben stereotypen Handlungsmustern lassen unsere Bühnentextvorlagen weitere Merkmale zum Aufbau der Handlung erkennen, die auch sonst für die Darstellungsart des Märchens charakteristisch sind. Dazu gehört die Ausrichtung auf eine einsträngig geführte Handlung ohne Nebenhandlungen, d.h. es wird ein einziges Ereignis gezeigt. Damit wäre die Voraussetzung geschaffen, mit der Bühnenbearbeiter auf die für das Drama zu erwartende Einheit der Handlung im Sinne ihrer Geschlossenheit zielen würden. Allerdings ist die Handlung einer Vielzahl der vorliegenden Märchenstücke so ausgerichtet, dass diese sich in einer lockeren Folge von Szenen entfaltet und damit durchaus vergleichbar ist mit der Stationenfolge im Drama der offenen Form (Klotz). Das geht damit einher, dass die Orte der Handlung höchst disparat und zeitlich weit auseinander liegen sowie insgesamt einen längeren Zeitraum umfassen. Die traditionelle Handlungseinheit kann nur dadurch gewonnen werden, indem handlungsverknüpfende Elemente seitens der Bearbeiter im Stück eingesetzt werden. Dazu gehören z.B. oft bereits in der Grimmschen Märchenvorlage enthaltene Figuren, die die Aufgabe eines Erzählers übernehmen und den Handlungsfaden zusammenhalten. Leudesdorffs Rumpelstilzchen bietet sich als gutes Beispiel dafür an. Hier bedient sich die Bearbeiterin einer aus der erzählerischen Vorlage entnommenen Figur, die im Verlauf der Handlung als „implizierter [bzw. verdeckter] Erzähler“ (Schmid 2008: 73) mit verbindender Funktion zwischen den einzelnen Handlungsteilen fungiert. So übernimmt es Hans, der zuverlässige Page des Königs (im Ausgangsmärchen durch einen Boten verkörpert), die Dynamik der Geschichte zwischen Rotraut, also der Müllerstochter und zukünftigen Königin, und dem hinterlistigen Zwerg Rumpelstilzchen zu entwickeln. Die Hauptfunktion der Figur des Pagen besteht insofern darin, zum einen die dramatische Handlung voranzutreiben, d.h. er bringt der im Turmverlies eingesperrten Müllerstochter etwas zu essen und hilft ihr auch bei der Suche nach ihrem Vater (Leudesdorff 1980a: 27f. u. 44). Zum anderen bringt er die Geschichte zu einem glücklichen Abschluss: Er ist in der Tat derjenige, der den Namen des bösen Wichts erfährt und der hoffnungslosen Königin schließlich die erwünschte Nachricht bringt (Leudesdorff 1980a: 61ff. u. 67ff.). Darstellung und Analyse 172 Auch in Richters Adaption Das tapfere Schneiderlein lässt sich eine dramaturgische Handlungseinheit über eine Figur aus dem gleichnamigen Märchen verwirklichen, und zwar über die Figurencharakteristik der Musfrau (Frau Brumm). Tatsächlich nimmt diese Figur bei Richter eine im Verhältnis zur Grimmschen Märchenvorlage anders gestaltete formale Konzeption ein: Sie schlüpft in die Rolle eines Erzählers, dessen Handlungen eine durchgängige Motivation des Protagonisten, also des Schneiders Fridolin Leichtfuß, vorschreiben. Bereits für den Ausgangspunkt des Stückes zeichnet sie verantwortlich: Indem sie dem Schneider vom „Pflaumenland“ erzählt und damit seinen Aufbruch motiviert, wirkt sie als Arrangeuse des Schicksals des Titelhelden. Die Figur der Musfrau bringt aber nicht nur die Handlung in Gang; im weiteren Verlauf des Stückes dient sie auch deren Organisation, wobei sie als die eigentlich agierende Kraft erscheint. Neben solchen Figuren, die im Laufe des Stückes die Rolle eines Erzählers einnehmen, erhalten auch so genannte „explizite Erzähler“ (Schmid 2008: 72) eine verknüpfende Funktion zwischen den einzelnen Handlungsteilen (s. 3.4.1.3). Im Gegensatz zu den oben dargestellten „implizierten“ bzw. verdeckten Erzählern treten „explizite Erzähler“ als individualisierte Sprecher aus der Bühnenhandlung hervor und melden sich – somit für die Zuschauer sichtbar – persönlich zu Wort. Zu dieser Kategorie zählen sowohl spielexterne als auch spielinterne Figuren (Pfister 1997: 109 u. 112). Die Verwendung solcher Erzählerfiguren bewirkt allerdings nicht die vom konventionellen Drama erstrebte Wahrscheinlichkeit, sondern eher Unwahrscheinlichkeit und damit Distanzierung der Zuschauer von der dargestellten Handlung, was zu einer deutlichen Episierung des Bühnengeschehens führt. 4) Eine dem Märchen sich annähernde Zeit- und Ortsgestaltung Untersucht man die Märchenstücke im Hinblick auf die Zeitgestaltung, so stellt sich heraus, dass die meisten Bühnenbearbeiter aus unserem Korpus auch der ursprünglichen Märchenvorlage der Brüder Grimm nahe stehen, d.h. ihre Stücke bestehen aus einer linear und chronologisch entwickelten Handlung und weisen eine mehrtägige Dauer, also einen ausgedehnten Zeitraum auf. Einen Sonderfall innerhalb des Korpus stellen die unterschiedlichen Dornröschen-Bühnenbearbeitungen dar. Bürkners Dornröschen umfasst einen Zeitraum von über hundert Jahren. Und auch Richters Dornröschen erstreckt sich über einen langen Zeitraum. So lässt der Bearbeiter den Koch Balduin in unmittelbarem Kontakt mit dem Kinderpublikum sagen: „[...] Wollt ihr denn die Geschichte hören? [...] Also, das war vor vielen, vielen Jahren [...]“ (Richter 1981: 3). Die Zeitstruktur wird in den Stücken allerdings nicht nur von der chronologischen Abfolge szenisch dargestellter und damit stets gegenwärtiger Situationen bestimmt. Neben Phasen der chronologischen Linearität finden sich oft auch vielfache Zeitsprünge, also Rückblenden bzw. Darstellung und Analyse 173 Rückgriffe auf Vergangenes wie Vorgriffe auf Zukünftiges. Hierzu kommt noch die Beschleunigung der dargestellten Vorgänge: Tage und Stunden vergehen in den Märchenstücken wirklich schnell. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Vorgriffe auf Zukünftiges finden sich z.B. bei Wanderschecks Aschenputtel, so z.B. wenn Prinz Peter am Anfang des Stückes sagt: „Meine Herren, die Zeit drängt. In drei Tagen findet der Ball statt“ (Wanderscheck o.J.: 3). Und Rückgriffe auf Vergangenes kommen bei Bürkners Dornröschen vor, wie etwa in der folgenden Stelle: „Königin: O die böse, böse Fee! Aus Ärger und Wut, weil wir vergessen hatten, sie zu Röschens Taufe einzuladen, hat sie ihre schreckliche Drohung ausgesprochen. Aber du hast ja alle Spinnräder und Spindeln aus unserem Lande entfernen lassen, sodass sich Röschen ja gar nicht stechen kann“ (Bürkner 2001a: 9). Zur Zeitgestaltung lässt sich auch noch feststellen, dass die Bühnenbearbeiter auf eine Reihe von Mitteln zurückgreifen, um den Zeitablauf bzw. die zwischen den Bildern oder Szenen liegende Zeitspanne beim Zuschauer wahrnehmbar zu machen. Ein der Erzählung verwandtes Mittel ist die Angabe von Uhrzeit, Tageszeit, Jahreszeit usw., sei es als Bühnenanweisung im Nebentext oder in der Figurenrede im Haupttext130 – oder womöglich auch beide zusammen. Beim Ersteren obliegt es in der szenischen Darstellung dann dem Regisseur, die vom Bearbeiter vorgegebenen Anweisungen ins Bild zu setzen. Hierfür ein Beispiel aus Leudesdorffs Rumpelstilzchen: „[...] Zu Beginn des Bildes ist es ziemlich dunkel. Kurz vor Erscheinen des Rumpelstilzchens fällt immer stärker werdendes Mondlicht durch‘s Fenster, durch das später auch der kommende Tag sichtbar wird. [...]“ (Leudesdorff 1980a: 20). Ganz anders als bei Dolls/Fleckensteins Rumpelstilzchen: Hier kommt der Zeitablauf lediglich in der Figurenrede zur Sprache. So lassen die beiden Bearbeiter den König im 2. Bild sagen: „Schneller als gedacht, / Ãœber Nacht, / Hat sie Gold gemacht“ (Doll/Fleckenstein 1978: 18). Die zur Königin aufgestiegene Müllerstochter sagt dann im 3. Bild: „[...]. Hätte ich vor einem Jahr den Mut gehabt, dem König zu sagen, dass ich aus Stroh nicht Gold machen kann, dann wäre es nie so weit gekommen“ (Doll/Fleckenstein 1978: 22). Und zu Beginn des 5. Bildes heißt es schließlich: „Königin: Nun ist der dritte Tag angebrochen. Bald ist meine Frist zu Ende, und ich kenne den Namen immer noch nicht“ (Doll/Fleckenstein 1978: 34). 130 Wir übernehmen hier die von Ingarden (1960: 220) geprägten Begriffe von „Haupttext“ und „Nebentext“. Im Unterschied zum „Haupttext“ bezeichnet „Nebentext“ alle Textelemente, die keine Figurenrede sind, also der nicht gesprochene Text. Dazu gehört u.a. der oft große Bereich der Bühnenanweisungen, d.h. die Hinweise zu Ort, Zeit, Figurencharakteristik, Tonalität, Gestik, nichtverbalen Handlungen und akustischen Phänomenen. (Dazu auch Pfister 1997: 35f.; Asmuth 1984: 51ff.). An der von Ingarden eingeführten Begrifflichkeit ist seitens der Theatersemiotik viel Kritik geübt worden und zwar aufgrund ihrer Fixierung auf den Dramentext. So wird der bei Ingarden genannte „Nebentext“ von Ubersfeld (1998: 17f.) mit dem Begriff „Didaskalien“ bezeichnet, womit sowohl die Bühnenanweisungen als auch die Namen der Figuren und alles andere im Text geschriebene gemeint ist, das keine Figurenrede darstellt (dazu Balme 2003: 77; auch Bobes 1997: 173f.). Darstellung und Analyse 174 Auch eine Mischung aus beiden Verfahren ist, wie schon gesagt, nicht ungewöhnlich. Bei Bortfeldts Aschenputtel z.B. wird der Verlauf der Tageszeit während der Handlung meist durch die Figuren angegeben. So bemerkt Rosalind131 zu Beginn des 1. Bildes: „Bald wird es Abend werden“ (Bortfeldt o.J.: 8). Weiter vorne im selben Bild finden wir folgende Wechselrede zwischen Rosalind und einer der Stiefschwestern: „Rosalind: Guten Tag, Trude!“ / „Trude: Guten Abend, könnte man besser sagen. Die Sonne geht doch schon unter“ (Bortfeldt o.J.: 21). Gegen Ende des Bildes ist dann der Tag weiter fortgeschritten: „Rosalind: Gute Nacht, mein liebes Väterchen, wie schade, dass du schon gehen musst“ (Bortfeldt o.J.: 25). Daneben wird aber auch dem Publikum durch Anweisungen im Nebentext der Tagesverlauf bewusst gemacht: „([...] – Während der nächsten Szene wird es langsam dämmrig)“, heißt es im weiteren Verlauf des Bildes (Bortfeldt o.J.: 25). Und an einer weiteren Stelle des Stückes heißt es noch: „([...] Das Bühnenbild liegt jetzt im Mondschein. Man sieht im Hintergrund zwischen den Bäumen den Vollmond strahlen. [...])“ (Bortfeldt o.J.: 40). Damit ist die Möglichkeit der Verwendung von Lichteffekten zur Darstellung eines Zeitsprungs angesprochen. Auch Wanderscheck z.B. bestimmt in seiner Aschenputtel- Bühnenbearbeitung die Lichtverhältnisse auf der Bühne im einigen Szenen bzw. Bildern vorangesetzten Nebentext und weist dabei auf den Fortgang der Zeit hin: Bald nach Beginn des Stückes ist auf der Bühne eine Waldszenerie bei Dämmerung und Mondschein zu sehen (vgl. 1. Bild, S. 3). In der darauffolgenden Szene ist es wieder hell, d.h. das Geschehen spielt am Vormittag (vgl. S. 5). Am Anfang des dritten Bildes ist es Mittag auf der Bühne (vgl. S. 6). Der Ball im Schloss findet dann vor Sonnenuntergang statt (vgl. 4. Bild, S. 10) und geht bis spät in die Nacht: „([...]. Die Uhr steht auf neun und dreht sich im Laufe der Szene bis auf Mitternacht. [...])“, heißt es im fünften Bild (S. 12). Im sechsten Bild fällt die Morgendämmerung durch ein Fenster (vgl. S. 15). Der Tag ist im achten Bild weiter fortgeschritten: Der Prinz erscheint vor dem goldenen Vogel bei „Abenddämmerung mit Mondenschein“ (vgl. S. 20). Und die Schuhprobe findet am nächsten Morgen, also im Morgengrauen statt (vgl. 9. Bild, S. 21). Ebenso wie Lichteffekte weisen häufig auch schlagende Uhren bzw. Glockenschläge auf den Zeitablauf hin. In kaum einem anderen Märchenstück aus unserem Korpus ist das Hinweisen auf bestimmte Zeitpunkte und ihre Folge durch Glockenschläge so deutlich wie in der Bearbeitung des Dornröschens durch Bürkner. Dabei sind für die Zeitbestimmung die Glockenschläge in der Hofküche maßgebend (vgl. 2. Bild, 8. Szene, S. 60ff.). Der wiederholte Glockenschlag, der das von der bösen Fee Angekündigte immer näher rücken lässt, hat im Stück eine Doppelwirkung: Zum einen wird die Sukzession der Handlung markiert, zum 131 In Bortfeldts Bühnenbearbeitung heißt Aschenputtel zu Beginn Rosalind. Den unvorteilhaften Rufnamen bekommt sie erst von den gemeinen Schwestern verpasst. Diese tragen übrigens die Namen Hilde und Trude. Darstellung und Analyse 175 anderen wird wachsende Spannung erzeugt. Damit werden die akustisch durch Glockenschläge signalisierten Zeitangaben zu unheilvollen Zeichen. Märchenvorlagen und Bühnenbearbeitungen weisen auch deutliche Parallelen bei der Schauplatzgestaltung auf: In allen Märchenstücken des Korpus gibt es, wie auch in den zugrunde liegenden Grimmschen Märchen, einen ständigen Ortswechsel zwischen den einzelnen Bildern und Szenen. So zeigen die Stücke eine Vielzahl von Schauplätzen und der Zuschauer blickt sowohl in die freie Natur als auch in geschlossene Räume: Schlosshöfe, Hofküchen, Säle, Schlossgärten, Wälder usw. Am ständigen Wechsel des Schauplatzes zeigt sich auch das stete Fortschreiten der Zeit. Damit erschöpft sich die Funktion der Orte „nicht im Atmosphärischen, sondern ihr rascher Wechsel ist imstande, Zeit im Sinne des dramatischen Fortgangs zu gliedern“ (Pütz 1977: 24). Die durch Verwandlung des Bühnenbilds signalisierten räumlichen Veränderungen sowie die Ãœbergänge von Szene zu Szene setzen ein Verfließen von Zeit voraus und legen dem Zuschauer ein Nacheinander der einzelnen Handlungsteile nahe. Wir sehen also, dass wegen der oft anzutreffenden Zeitsprünge die im konventionellen Drama zu erwartende Einheit der Zeit von den Bühnenbearbeitern nicht eingehalten wird. Die Einheit des Ortes wird auch nicht streng durchgehalten, auch wenn die Bearbeiter darauf achten, dass die verschiedenen Schauplätze der Stückhandlung dem gleichen räumlichen Zusammenhang angehören, z.B. Schloss und Umgebung. Beide Sachverhalte gehen deutlich mit einer Abnahme der Wahrscheinlichkeit einher. Die Auflösung der Einheit des Ortes und der Einheit der Zeit gegenüber konventionellem Drama wird allerdings sehr oft durch das Eingreifen einer von den Bühnenbearbeitern erfundenen Erzählerfigur ersetzt, so wie es schon bei der Einhaltung der Einheit der Handlung der Fall war (s. oben unter Punkt 3). Durch das Vorhandensein einer solchen Figur können die Bearbeiter z.B. über ausgedehnte Zeiträume hinwegspringen. Die gegenüber dem Grimmschen Märchen völlig neue Figur des Märchenpostillions aus Bürkners Rumpelstilzchen stellt hierfür ein Beispiel dar: Im Zwischenspiel zwischen dem 1. und 2. Bild nimmt der Märchenpostillion Kontakt mit den jungen Zuschauern auf und verkündet dabei: „[...], und die Rosemarie, die ja eine Müllerstochter ist, wandert nun auch, nämlich ins Königsschloss. Vielmehr, das ist schon wieder ein Jahr her, dass sie dorthin wanderte – so schnell vergeht die Zeit im Märchenlande [...]“ (Bürkner 2001b: 47). Durch den Einsatz von Erzählerfiguren wird auch darüber berichtet, was sich auf der Bühne szenisch nicht darstellen lässt, und zwar als zeitlich und/oder räumlich „verdeckte Handlung“ (Klotz 1978: 30ff.).132 Richters Figur des Kochs Balduin in Dornröschen bietet ein Beispiel 132 Die „zeitlich verdeckte Handlung“ informiert den Zuschauer über ausgesparten Zeitraum zwischen den Szenen und Akten oder während der Bühnenhandlung und ermöglicht Raffungen, während die „räumlich verdeckte Handlung“ die Einführung außerhalb der sichtbaren Bühne bzw. simultan ablaufender Ereignisse erlaubt. Anders als die unmittelbar szenisch dargestellte Handlung ist die „verdeckte Handlung“ immer perspektivisch (Pfister 1997: 276), indem „Denken und Fühlen des Darstellung und Analyse 176 dafür, wie nicht auf der Bühne dargestellte bzw. darstellbare Begebenheiten als „verdeckte Handlungen“ in den Bericht an die zuschauenden Kinder integriert und in Rückgriffen als vergangene Geschehnisse nachgeholt werden. Im direkten Kontakt mit dem Kinderpublikum berichtet insofern der Koch im ersten Zwischenspiel über die Zeit vor der Geburt der Prinzessin Röschen (RICHTER 1981: 20). Im zweiten Zwischenspiel informiert er dann über die Vorbereitungen für das Tauffest im Schloss (Richter 1981: 26). 5) Vorhandensein von Wiederholungen Im Rahmen der dramatischen Handlung ist analog zur Märchenhandlung auch das Vorhandensein von Wiederholungen bzw. Parallelismen unter den Bildern und Szenen der meisten Märchenstücke hervorzuheben. Dies geschieht in verschiedener Form, sei es als Wiederkehr von Situationen (in leichter Abwandlung meistens) oder als dreimalige Wiederholung eines dem Grimmschen Ausgangsmärchen entnommenen Spruchs. Dazu gehört auch die dem Märchen entnommene Formel der Dreizahl und das damit verbundene Gesetz der Steigerung (Lüthi 1990a: 30). Letzteres gilt besonders für diejenigen Bühnenbearbeitungen, in denen die Hauptfigur dreimal nacheinander ähnliche (oder gleichartige) Aufgaben zu lösen hat, wie z.B. bei König Drosselbart und Rumpelstilzchen in der Bearbeitung von Leudesdorff, oder dreimal Gefahren bestehen muss, etwa bei Richters Das tapfere Schneiderlein. Unter dem Aspekt der Wiederholung ergibt sich demzufolge eine weitere Identität zwischen Bühnenadaption und erzählerischer Vorlage. In der dramatisch angelegten Form des Bühnenstückes wird nämlich das Vorhandensein von Wiederholungen, also die Wiederkehr des Gleichen (oder Ähnlichen) als Durchbrechung des Sukzessivitätsprinzips der Geschichte verstanden (Pfister 1997: 273), d.h. als Unterbrechung des Handlungsfortgangs und damit als Bruch der Einheit der Handlung. Wiederaufnahmen lassen sich daher oft als anti-illusionistische Mittel verstehen. Sie sind z.B. typische Elemente des epischen Dramas, die die Einfühlung des Zuschauers erschweren. Das Beibehalten formelhafter, märchentypischer Wiederholung kennt Differenzierungen. Besonders extreme Fälle stellen Leudesdorffs Bühnenbearbeitungen dar, weil sie in Bezug auf den dramaturgischen Aufbau eine ausserordentliche Treue gegenüber dem Original aufweisen. Wie im Grimmschen Ausgangsmärchen (KHM 55) wird z.B. der Aufbau von Rumpelstilzchen durch einen Rhythmus der Dreigliedrigkeit beherrscht, indem die Dreizahl eine zentrale Bedeutung in der Handlungstruktur inne hat. So stellt die Adaption die Bewältigung der Schwierigkeiten in drei Stufen dar, genauso wie im ersten Erzählteil der Grimm-Vorlage: Die Zentralfigur Rotraut, also die Müllerstochter, muss sich dreimal hintereinander der gleichen Berichterstatters den Bericht prägen“ (Platz-Waury 1999: 103). (Ausführlich geht auch Pütz auf die „verdeckte Handlung“ ein; dazu Pütz 1977: 212ff.). Darstellung und Analyse 177 unmöglichen Aufgabe stellen, nämlich Stroh zu Gold zu spinnen, um ihr Leben zu retten. Dies entwickelt sich mit fortschreitender Steigerung der Schwierigkeit und erhöht die Spannung. So auch bei König Drosselbart: Dreimal klagt die verstoßene Königstochter, dass sie den guten König, dem Wald, Wiese und Stadt gehören, verschmäht habe und nun einem Spielmann in seine ärmliche Hütte folgen müsse. Und dreimal wird sie auf harte Proben gestellt: Sie muss die Haushaltsführung alleine übernehmen und alle anfallenden Hausarbeiten erledigen, die sie im Schloss ihres Vaters nie tun musste. Sie soll auch zum Lebensunterhalt beitragen und Geschirr auf dem Markt verkaufen. Schließlich muss sie noch im Schloss des Königs Drosselbart als Küchenmädchen arbeiten. Auch für die Wahrung der Wiederholung gibt Bortfeldts Aschenputtel einen Beleg, allerdings im Kontrast zu Leudesdorffs Bearbeitungen mit geringerer Treue zum Ausgangsmärchen der Brüder Grimm, zumindest im Hinblick auf die Darstellung. Dreimal tanzt Aschenputtel mit dem Prinzen im Grimmschen Märchen, und jedes Mal entwischt sie ihm (vgl. KHM 21). Dabei bedient sich der Bearbeiter verschiedener Mittel, nämlich Lieder und narrativer Vermittlung, um der märchenhaften Wiederholung entgegenzuwirken. Statt dramatischer Darstellung lässt insofern Bortfeldt den ersten Auftritt Aschenputtels auf dem Hofball im Bericht des treuen Knappen des Prinzen darlegen und zwar ähnlich einem Botenbericht: Kugel: [...] Stellt euch mal vor, ihr lieben Kinder: [...] Gestern nacht hatte ich mich verlaufen im Märchenwald – und als ich dann ins Schloss kam, war das Fest schon zu Ende. Ich hab gar nichts mehr davon gesehen. Ein wunderschönes Mädchen soll dagewesen sein in einem wunder- wunderschönen Kleid. Sie haben sie alle „Die Prinzessin“ genannt. Aber um Schlag zwölf Uhr war sie verschwunden. (Bortfeldt o.J.: 42) Dadurch wird nicht nur auf dramatische Darstellung zugunsten narrativer Vermittlung verzichtet, sondern auch die für das Drama zu erwartende Verdichtung des Geschehens eingehalten. Wiederholungen bzw. Parallelismen unter den Bildern und Szenen spielen nicht nur eine bedeutsame Rolle bei der Spannungserzeugung aufgrund ihrer Eigenschaft als retardierende Mittel, so z.B. bei den im vorliegenden Abschnitt angeführten Märchenspielen von Leudesdorff. Sie verhelfen auch dazu, die auf der Bühne darzustellende Geschichte zusammenzuhalten und ihr damit dramatische Kohäsion gegenüber der möglichen Zerstreuung durch die Bühnenbearbeitung und die Reizvielfalt des theatralischen Mediums (Bühnenbild, Beleuchtung, Ton usw.) zu verleihen. Hierbei würde dann das Prinzip der Wiederholung technischen und zugleich ästhetischen Bedürfnissen entgegenkommen. Am deutlichsten wird ein solcher Sachverhalt in Aschenbrödel von Görner/Zimmermann durch den häufigen Gebrauch der Bühnentechnik (u.a. Projektionen, Verwandlungen) zum Ausdruck gebracht, so wie sie z.B. bei Darstellung und Analyse 178 der Flucht der Protagonistin nach dem zweiten Ballbesuch eingesetzt wird (Görner/Zimmermann 1962: 26). 6) Vorhandensein wunderbarer und übernatürlicher Elemente Bei der szenischen Umsetzung des Märchenstoffes greifen die behandelten Bühnenbearbeiter auch gerne das Wunderbare des jeweils zugrunde liegenden Grimmschen Märchens auf. Tatsächlich enthalten die dargestellten Geschichten wunderbare und übernatürliche Elemente. Dies verdeutlicht sich einerseits darin, dass in den Märchenstücken zahlreiche, aus der jeweiligen Märchenvorlage übernommene märchenhafte Figuren sowie allerlei zauberhafte Dinge und wunderbare Gegenstände vorkommen. Da gibt es z.B. Fabelwesen wie sprechende Tiere, Zauberer, Feen, Hexen, Riesen und Zwerge. Zu den Zauber- und Wunderdingen zählen verzauberte Spinnräder, prächtige Ballkleider, von Tieren gezogene Wagen, die Aschenputtel zum Ball des Prinzen bringen, Spiegel, durch die man das Geschehen in anderen Räumen verfolgen kann, zauberhafte Blumen, die sprechen können, Wasser, das Menschen in Tiere verwandelt, Speisen, die wieder das Lachen zurückbringen und sofort gute Laune machen und so weiter. Andererseits tritt das Wunderbare in Erscheinung, indem diesseitige und jenseitige Gestalten nebeneinander stehen und unbefangen miteinander verkehren. Damit wird das Diesseits und Jenseits gleichermaßen aufgehoben, so wie wir es für das Märchen bereits kennen. Denn das Jenseits ist bekanntlich im Märchen erlebnismäßig nah, in ihm wird ein selbstverständlicher Umgang mit den Figuren im Jenseits möglich. Solch fließender Ãœbergang von Diesseits und Jenseits entspricht der von Lüthi so genannten „Eindimensionalität“. Bei ihm heißt es konkret: „Die Menschen des Märchens, Helden wie Unhelden, verkehren mit diesen Jenseitigen, als ob sie ihresgleichen wären. Ruhig und unerschüttert nehmen sie ihre Gaben in Empfang oder schieben sie beiseite, lassen sich von ihnen helfen oder kämpfen mit ihnen, dann gehen sie ihren Weg weiter“ (Lüthi 2005: 9). Ein Beispiel für das selbstverständliche Nebeneinander dieser beiden Dimensionen bietet Leudesdorffs Rumpelstilzchen. So wie in der Grimmschen Märchenvorlage (KHM 55) begegnet auch hier die Hauptfigur (die Müllerstochter Rotraut) einer jenseitigen Gestalt in Form eines Männchens mit den Kräften, Stroh zu Gold zu spinnen. Allerdings erfährt sie das Fantastische ohne große Anteilnahme, d.h. sie wundert sich nicht über das plötzliche Erscheinen des fremden Männchens. Für sie scheint es zur selben Dimension zu gehören. Sie verkehrt mit dem Jenseitigen, als ob es ihresgleichen wäre (Leudesdorff 1980a: 24ff., 31ff. u. 36ff.). Ähnliches gilt für andere Figuren, die das Wunder ohne innere Bewegung erfahren, d.h. sie handeln, ohne über den Charakter des Wunderbaren nachzudenken. Begleitet wird z.B. das Aschenputtel in Bortfeldts Adaption von zwei intelligenten und sprachbegabten Tieren (Katze Darstellung und Analyse 179 Kritzekratze und Mäuschen Piep), es erscheint ihm sogar eine Fee namens Haselnuß und erfüllt seine Wünsche: Auf den bekannten Zauberspruch hin zaubert sie Aschenputtel ein wunderschönes Kleid und einen goldenen Wagen, sodass es heimlich und unerkannt zum Ball des Prinzen fahren kann (Bortfeldt o.J.: 40f. u. 82f.). Auch bei Richters Dornröschen taucht ganz selbstverständlich die gute Fee Floralia auf und hilft Prinz Heinrich vom Blumenland in der Not: Sie gibt ihm eine zauberhafte Heckenrose, mit der er die tödliche Dornenhecke des Schlosses überwinden und Prinzessin Dornröschen erlösen kann (Richter 1981: 65ff.). Und der Müllerssohn Findling bei Der Teufel mit den drei goldenen Haaren in der Bearbeitung durch Thoenies kann ohne Probleme in die Hölle eintreten, wobei er niemals ins Staunen gerät oder Furcht vor dem Ãœbernatürlichen verspürt (Thoenies 1998: 46ff.). Dabei ist allerdings nicht zu übersehen, dass der Auftritt solcher Fabelwesen, Zauber- und Wunderdinge und Jenseitswesen im Stück eine erhebliche Abnahme der Wahrscheinlichkeit des auf der Bühne Dargestellten mit sich bringt. 7) Märchenhafte Elemente bei der Figurenkonzeption Untersucht man die Figurenebene der uns vorliegenden Märchenstücke im Hinblick auf die Konzeption der einzelnen Bühnenfiguren und besonders der Handlungsträger etwas näher, so können – wie auch bei der Handlungsschilderung – weitere Parallelen zum Märchen gezogen werden, die jene von Lüthi festgestellten Merkmale der Märchenfiguren in Erinnerung rufen; also keine eigenständige Individualität, Flächenhaftigkeit, Isolation und Beziehungslosigkeit. In der Regel erscheinen die handlungstragenden Figuren der Mehrzahl der untersuchten Bühnenstücke wie jene des Grimmschen Ausgangsmärchens, d.h. sie sind nicht in erster Linie Individualitäten, sondern eben Träger des Geschehens und Erleider ihres Schicksals. Besonders auffällig ist es, dass sie von der Dynamik der Ereignisse mitgerissen werden. In diesem Sinne wirken sie nicht, wie es sonst für das Drama charakteristisch ist, als aktive Subjekte, die sich gegen die Willkür auflehnen und ihre Schicksale in die eigenen Hände nehmen. Vielmehr werden sie als passive Subjekte wahrgenommen. Oft sind es Zufälle und günstige äußere Umstände (Aufgaben, Verbote, Bedingungen, Gaben, Ratschläge), die ihr Glück und Schicksal besiegeln. Entschlüsse, Begegnungen zwischen Menschen oder sogar ihr größter Erfolg kommen eher zufällig zustande – wie auch bei Märchenfiguren schon so manches durch schicksalhafte Wendungen, Zufälle und spontane Entscheidungen seinen Lauf nimmt. Da also die einzelnen Handlungsträger durch schicksalhafte Zufälle geführt werden, neigen sie entsprechend stark zu Objekten anstatt zu selbständig handelnden Subjekten. Exemplarisch zeigt sich das an der charakterlichen Darstellung der Aschenputtel-Figur. So ist z.B. aus der Bühnenbearbeitung des bekannten Märchens durch Wanderscheck Folgendes zur Titelfigur zu entnehmen: Aschenputtel heißt hier Elfi, die die Hauptfigur der Geschichte ist. Darstellung und Analyse 180 Den Mittelpunkt der Handlung bildet, wie bei der Grimmschen Vorlage, Elfis ungerechtes Schicksal, das das eines traurigen und hilflosen Mädchens ist. Sie ist die ärmste Magd im Haus und wird Aschenputtel genannt, weil sie immer staubig und schmutzig aussieht. Außerdem wird sie von der Stiefmutter schlecht behandelt und hart bestraft und von ihren beiden Stiefschwestern schikaniert. Ähnlich wie bei den Grimms ist Elfi bei Wanderscheck auch eine passive Figur, d.h. sie erduldet ihr unglückliches Schicksal und denkt gar nicht daran, irgendetwas zu ändern oder aufzubegehren. Besonders die liebevolle Fürsorge eines goldenen Vogels bewirkt eine entscheidende Entwicklung und Veränderung ihres Schicksals. Wie auch das Grimmsche Aschenputtel also ist Elfi ihrem Schicksal ergeben und darauf angewiesen, dass der Prinz sie rettet. Ähnliches gilt für die Müllerstochter-Figur bei den einzelnen uns vorliegenden Bühnenadaptionen des Rumpelstilzchens. So zeigt die Bearbeitung des Grimmschen Märchenklassikers durch Doll und Fleckenstein auch eine Müllerstochter, die in der Geschichte die Rolle einer von den drei männlichen Figuren (Vater, König und Rumpelstilzchen) fremdbestimmten Frau hat. Wie im Ausgangsmärchen ist sie eine entsprechend rein passive Figur, hilflos, tränenreich und von Zufällen abhängig. Sie verdient weder ihr Unglück am Anfang, als der prahlerische Vater sie als Spinnerin anpreist, noch verdient sie ihr Glück, denn nur der Zufall rettet ihr das Leben und verhilft ihr zum sozialen Aufstieg. Später braucht die zur Königin aufgestiegene Müllerstochter auch noch Helfer, um gegen das fordernde Rumpelstilzchen anzugehen. Erst am Ende der Geschichte wird sie bedingt aktiv: Sie schickt zwei Kammerherren (Potz und Blitz) aus, um den Namen des bösen Männchens zu erfahren. Neben der fehlenden Berücksichtigung individueller Anlagen der Hauptprotagonisten unterstützt auch deren eindimensionale Charakterisierung im Sinne Pfisters (1997: 243) die märchenverwandte Konzeption der in den uns vorliegenden Stücken vorkommenden Figuren. Dabei werden eher funktionalisierte (Stereo)typen individuell gezeichneten, komplexen Bühnenfiguren vorgezogen, d.h. im Gegensatz zu den nach Pfister mehrdimensional angelegten Figuren (Pfister 1997: 244) kommen bei den zur Analyse herangezogenen Märchenstücken eher eindimensional gezeichnete Figuren vor. Die meisten Protagonisten werden entsprechend durch einen kleinen und in sich schlüssigen Satz an Merkmalen bestimmt. Im Extremfall reduziert sich dieser Satz auf einen einzigen Charakterzug, sodass manche Figuren zu Karikaturen werden. Vor allem Neben- und Randfiguren, also die zum Hof und zur Dienerschaft gehörigen Figuren, werden in groben Umrissen und dabei stark karikiert und überzeichnet geschildert. Ein Beispiel dafür stellt die Figur des Wächters in Bürkners Rumpelstilzchen dar, der auf den Charakterzug der Tölpelei festgelegt ist. Dieses Merkmal wird schon durch seinen sprechenden Namen eingeführt: Tolpatsch. Daneben kommt die Langsamkeit als ein weiteres Charaktermerkmal bei ihm zum Vorschein und alle seine Repliken bestätigen dies dann nur Darstellung und Analyse 181 noch, so z.B. wenn er Ausdrücke wie „Gut Ding will Weile haben“, „Eile mit Weile“ und „Immer langsam voran“ benutzt. Was noch die Konzeption der Figuren der uns vorliegenden Märchenstücke anbetrifft, so lässt sich auch feststellen, dass die darin dargestellten Figuren tendenziell eher statischer Natur sind, d.h. sie bleiben im Laufe der Stückhandlung überwiegend gleich und weisen dementsprechend keine Entwicklungstendenzen auf. So sind beispielsweise in Bortfeldts Aschenputtel die Hauptfigur Rosalind (genannt Aschenputtel) und ihre beiden Gegenspielerinnen Hilde und Trude Figuren, deren wesentliche Eigenschaften schon zu Beginn des Stückes festgelegt werden. Im Verlauf der Stückhandlung verändern sie sich dann nicht mehr. Wie im Märchen der Brüder Grimm (KHM 21) bleibt die Protagonistin trotz ihrer Unterdrückung durch die Stiefmutter bescheiden, fleißig, gütig und brav. Ebenfalls sind auch die beiden Stiefschwestern das ganze Stück über eitel, eifersüchtig und innerlilch wertlos. Anders etwa die Figur der Stiefmutter. Im Vergleich zu Rosalind, die im Laufe des Stückes eher passiv bleibt, weist die von Natur aus böse Figur der Stiefmutter deutliche Entwicklungszüge auf: Kurz vor dem Ballbesuch ist sie von Rosalindes Traurigkeit äußerst betroffen und wandelt sich von der herzlosen Stiefmutter zur Stiefmutter der Hochherzigkeit: Mutter: [...] (Zu Rosalind:) Weil Weihnachten ist, darfst du heute mit deiner Katze spielen, und auch das Mäuschen darf ausnahmsweise dabei sein. Und nun wein nicht mehr und leb wohl. Rosalind: (unterdrückt das Schluchzen) Ja, Mutti, leb wohl. Mutter: (gibt ihr rasch und heimlich einen Kuss, dann links ab.) Rosalind: (sieht ihr erstaunt nach, bricht wieder in Tränen aus und geht mit der Schüssel in die Stube.) (Bortfeldt o.J.: 80). Allerdings gilt die eindimensionale und statische Konzeption der Figuren keineswegs generell für alle im Stücktextkorpus vorkommenden Figuren. Es gibt bei der Vielfalt von Figuren auch Ausnahmen. Bei näherem Hinsehen lässt sich tatsächlich feststellen, dass nicht alle Märchenstücke von der Eindimensionalität ihrer Figuren leben, sondern auch vom Gegensatz mehr- und eindimensionaler Figuren. Bei Richters Das tapfere Schneiderlein z.B. erweisen sich vor allem die Handlungsträger im dramatischen Geschehen (Schneider Fridolin Leichtfuß und Prinzessin Rosenblüte) als mehrdimensionale Figuren, während weitere Figuren wie etwa die Hofleute (z.B. der Kriegsminister und der Leibarzt) als eindimensionale Figuren angelegt sind. Und auch in den verschiedenen vorliegenden Bühnenbearbeitungen des König Drosselbart-Märchens wird die Hauptprotagonistin, also die hochnäsige Königstochter, als veränderungsfähig dargestellt. Bei den mehrdimensional konzipierten Figuren ist es aber mitnichten so, dass es sich um gerundete und ausgefeilte Charaktere im psychologischen Sinne handelt, sondern vielmehr um Figuren, die nur ein geringes Maß an Komplexität bieten. Da Darstellung und Analyse 182 solche Figurenkonzeptionen allerdings einen deutlichen Unterschied zum Grimmschen Ausgangsmärchen darstellen, liegen hier interessante Abweichungen vor, die im Rahmen des Vergleichs Märchenvorlage/Bühnenadaption als Eingriffe der Bearbeiter hervorgehoben werden sollen (s. 3.4.1.2). Es muss allerdings tendenziell eher von einer märchentypischen Eindimensionalität der Bühnenfiguren aus unserem Korpus die Rede sein. Eine solche Eindimensionalität schließt ihre Psychologisierung ebenso wie ihre soziale und volle familiäre Einbindung aus. So gewinnen die in den Märchenstücken auftretenden Figuren in der Regel kein eigenes Profil, d.h. sie lassen weder eine individuelle Prägung erkennen, noch werden sie durch einen komplexeren Satz von Merkmalen definiert, die auf den verschiedensten Ebenen liegen und z.B. ihren biografischen Hintergrund betreffen. Nicht einmal die Psychologie der Hauptfiguren wird vertieft. Treten bei ihnen geistige Eigenschaften hervor, so sind es praktische, wie List, Klugheit oder Kunstfertigkeit. Dabei handelt es sich eher um schwankende Persönlichkeiten, die verschiedenen Prüfungs- bzw. Gefahrensituationen ausgesetzt werden und nur deshalb reagieren. Daneben stehen die meisten der Figuren lediglich für einen Stand oder eine Berufsgruppe, reduziert auf deren charakteristische Eigenschaften, die allerdings meist mit jedem anderen Stand oder Beruf ebenso leicht zu verbinden wären. Auch durch eventuell vorkommende Namens- oder Berufsbezeichnungen werden die Figuren nicht aus der eindimensionalen Darstellung gelöst. Manche tragen zwar Eigennamen, aber es sind Allerweltsnamen ohne individualisierende Merkmale, z.B. Hans, Peter, Florian, Ulrike, Rosalind, Sabine. Und mit Bezeichnungen wie z.B. „König“, „Prinzessin“, „Müllerstochter“ oder „Schneider“ wird auch keine konkrete Person gezeichnet. Insgesamt werden die Figuren durch ihre Funktion bestimmt. Diese ergibt sich z.T. aus der Gattung des Märchens selbst. Da jede mögliche Individualisierung der Figuren ausgeschlossen wird, bleiben diese in den Bühnenstücken, wie auch in den zugrunde liegenden Grimmschen Märchen, Typen. Eine solche Tendenz zur Typisierung lässt sich z.B. an der in den Märchenstücken unseres Korpus beliebten Typenfigur des Prahlhans beobachten. Er ist sowohl eitel und dumm als auch feige und angeberisch, wobei er seine Feigheit durch das Auftischen erfundener Heldentaten komisch vertuscht. Beispiele dafür sind die einzelnen Figuren, die in den uns vorliegenden Rumpelstilzchen-Bearbeitungen den Müller verkörpern, etwa Müller Großwort bei Leudesdorff und Müller Prahlhans bei Bürkner. Weitere Beispiele für Typenfiguren sind: • der Tolpatsch (z.B. die Figur des Teufels aus Thoenies‘ Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der Hofmarschall von Trampel aus Komms Das tapfere Schneiderlein, der Prinz Marzipan aus Das tapfere Schneiderlein in der Bearbeitung von den Kaullas und der Wächter Tolpatsch aus Bürkners Rumpelstilzchen) Darstellung und Analyse 183 • der Habgierige (als König fungierend) • der leichtsinnige Junge (einmal als Schneider, einmal als Findling und einmal sogar als Küchenjunge fungierend) • der begriffsstutzige und vergessliche Diener (z.B. der Koch bei Bürkners Dornröschen) Im Hinblick auf eine solche Typisierung der einzelnen Figuren wie auch das damit gekoppelte Fehlen jeglicher psychologischen Schilderung ist nicht zu übersehen, dass damit die empathische Teilhabe des Zuschauers an den Schicksalen der Protagonisten eher verhindert wird. In Ergänzung zur Darstellung der in den Stücken auftretenden Figuren sei abschließend noch vermerkt, dass die meisten von ihnen einander in oppositorischen Konstellationen im Sinne Pfisters (1997: 227ff.) zugeordnet sind. Das lässt sich vor allem an sich komplementär zueinander verhaltenden Figurenpaaren nachweisen. Die Oppositionen lassen sich insbesondere zwischen den Hauptfiguren beobachten, aber sie betreffen auch scheinbar unbedeutende Nebenfiguren. Hier spielen sozialer Stand, kognitive Fähigkeiten, Verhaltensformen usw. eine Rolle. Solche gegensätzliche Konzeption der Figuren entspricht dabei der Kontrast- und Extremdarstellung der im Grimmschen Märchen auftretenden Figuren und ist eng mit ihrer (Stereo)typisierung verbunden. Ein gutes Beispiel dafür stellt Dornröschen in der Bearbeitung durch Bürkner dar. Hier lassen sich die Figuren in zwei Kategorien einteilen. Die größte Gruppe bildet die mit positiven Eigenschaften ausgestatteten Figuren, die um Prinzeß Röschen sind und diese beschützen. Zu ihnen gehören der König, die Königin, die Diener und der Prinz. Diesen positiv gekennzeichneten Figuren steht, von Ärger und Wut zerfressen, die böse Fee als negative Gegenfigur gegenüber. Sie verkörpert die Macht des Bösen und die Zerstörung der Harmonie. Auch in Bürkners Rumpelstilzchen-Bühnenbearbeitung sind die Figuren kontrastierend gestaltet. Dabei bilden vor allem die unterschiedlichen Verkörperungen der Diener einen Kontrast: Den Gegensatz zur ungeschickten und phlegmatischen Verkörperung vom Wächter Tolpatsch bildet der fixe Müllerbursch Friedel, dessen beste Beschaffenheit die Geschwindigkeit ist. Daneben werden die beiden Figuren deutlich in ihrer Sprache voneinander abgegrenzt. So zeichnet sich der Wächter besonders durch die Ausdrucksweise (s. weiter oben) aus. Die Kontrastierung von Figuren ist in Bürkners Stück auch in dem Aufbau der Beziehung Müller-König sehr deutlich. Beide Gestalten sind gegensätzlich angelegt und stehen entsprechend mit ihren entgegengesetzten Eigenschaften einander gegenüber: Während der Müller als prahlerisch und unehrlich charakterisiert wird, zeichnet sich der König durch seine ehrliche und aufrichtige Beschaffenheit aus. Neben Gegensätzen lassen sich auch Korrespondenzbeziehungen zwischen den auftretenden Figuren beobachten. Um das zu illustrieren, sei nochmals auf das Beispiel des Aschenputtels Darstellung und Analyse 184 von Bortfeldt hingewiesen: Hier ergibt sich eine deutliche Parallele zwischen den beiden Hauptprotagonisten, also zwischen dem Aschenputtel Rosalind und dem Prinzen. Wegen ihres unglücklichen und traurigen Schicksals weist Rosalind Ähnlichkeiten mit dem Prinzen auf. Nicht umsonst trägt er den bezeichnenden Namen Traurig. 3.4.1.2 Eingriffe in das zugrunde liegende Märchen Neben der Tendenz zum Fortbestehen märchenhafter Merkmale in den meisten Stücken, was eindeutig dafür spricht, dass sich die als „traditionell“ zu bezeichnenden Bühnenbearbeiter bei der Umsetzung des Märchenstoffes eng an die Grimmsche Vorlage halten, sind auch mancherlei Bearbeitungseingriffe am Ereignisablauf und am Figurenbestand des zugrunde liegenden Märchens erkennbar. So verdeutlicht die Beobachtung der Handlungs- und Figurenebene der uns vorliegenden Bühnentextvorlagen, dass die Bearbeiter dazu neigen, eine Vielzahl bedeutender Änderungen an der ursprünglichen Handlung und den typischen Figuren des jeweiligen Grimm-Märchens vorzunehmen. Grundsätzlich erweisen sich hier folgende Abänderungen als besonders relevant: Die Grundhandlung bleibt dieselbe, doch wird diese anders dargestellt bzw. aufgelöst. In den meisten Fällen helfen sich die Bearbeiter mit Streichungen. Dasselbe gilt für die Figuren, d.h. die Bearbeiter bedienen sich zwar der durch die Vorlage vorgegebenen Figuren, tauschen aber oftmals Figuren aus, fügen neue hinzu oder streichen andere aus der Handlung. Sie formen sogar Figuren und geben ihnen andere Charaktereigenschaften. Neben diesen Eingriffen in die Grimmsche Märchenvorlage beziehen die untersuchten Bühnenbearbeiter auch eine ganze Reihe von Darstellungsmitteln in ihre Stücke ein, die dem zugrunde liegenden Märchen fremde Momente einfügen. Das Spektrum reicht hier vom Einsatz so genannter zwischengeschalteter Erzählinstanzen bis hin zum Einspielen von Liedern und Tanzeinlagen (S. 3.4.1.3.). 1) Auslassen von Märchenteilen Wollen Bühnenbearbeiter auf eine Annäherung an das kanonische Drama bzw. das so genannte „geschlossene“ Drama (Klotz) nicht verzichten, sehen sie sich bei der Dramatisierung von Märchen größeren Umfangs dazu gezwungen, stark selektiv zu verfahren – und zwar vor allem aufgrund des Anspruchs auf Einheitlichkeit. In diesem Sinne, und um den Grimmschen Märchenstoff dramengemäß fassen zu können, müssen bei der Umsetzung vom Märchen ins Stück zwangsläufig Änderungen an der Grundhandlung vorgenommen werden. Hierzu gehört die Verkürzung des Ausgangsstoffs durch das Auslassen auserwählter Teile und damit die Konzentration auf bestimmte Episoden der ursprünglichen Geschichte der Grimms. Der Vielheit von Handlungen, Orten und Zeitpunkten des Märchens steht nämlich die für das Drama zu Darstellung und Analyse 185 erwartende Konzentration gegenüber (Pfister 1997: 274). Das Auslassen einzelner Märchenteile stellt sich in diesem Sinne als hilfreiches Ausführungsmittel heraus, d.h. es dient beim Bearbeiten des Märchenstoffs nicht nur der Annäherung an eine wirksame dramatische Form, sondern auch dem Zusammenhalten der auf der Bühne darzustellenden Märchengeschichte angesichts der ursprünglichen Vielfalt von Handlung, Raum und Zeit. Ein Beispiel hierfür ist Bürkners Dornröschen-Adaption. Dabei wird die Originalfabel der Brüder Grimm stark gekürzt, indem die Bühnenhandlung am Tag vor dem fünfzehnten Geburtstag der Prinzessin beginnt. Bürkner verzichtet hier also auf den ersten Teil der Vorlage der Brüder Grimm (KHM 50), nämlich auf das große Fest, bei dem die böse Fee den Fluch auf die neugeborene Königstochter legt, und konzentriert sich damit auf den zweiten Teil, also die entscheidende Krisenphase, in der die Prinzessin sich sticht und in Zauberschlaf fällt. Durch das Auslassen der vorderen Glieder der dramatischen Entwicklung wird dann der Eindruck des Unerbittlichen vertieft, die Katastrophe beherrscht somit das ganze Stück. In diesem Sinne verhält sich Bürkners Bearbeitung nach dem Muster eines analytischen Dramas, dessen „entscheidende Begebenheiten schon vor Beginn der Bühnenhandlung unabänderlich abgeschlossen sind, und das nur die letzte Stufe der Handlung“ vorführt (Müller/Wess 1999: 181) – so wie es z.B. in Sophokles‘ König Ödipus (ca. 429-425 v. Chr.), Schillers Die Braut von Messina (1803), Kleists Der zerbrochene Krug (1811), sowie in Ibsens enthüllenden Analysen vergangener Seelengeschichten (etwa Gespenster, 1881) feststellbar sei (Müller/Wess 1999: 105; auch Asmuth 1984: 132; Platz-Waury 1999: 114). Das Bühnenstück Brüderlein und Schwesterlein von Doll/Fleckenstein lässt auch einige Handlungsmomente des Grimmschen Ausgangsmärchens (KHM 11) vermissen. So wird dabei z.B. auf die Darstellung der Vorgeschichte verzichtet, d.h. der Gang der beiden Geschwister in den Wald wird in der Bühnenfassung nicht gezeigt. Zu Beginn der Handlung leben Brüderchen und Schwesterchen bereits im Wald, in einer alten Köhlershütte. Die für das Verständnis des Verlaufs notwendige Vorgeschichte mit den zeitlich zurückliegenden Voraussetzungen des Konflikts wird im Laufe des Stückes aufgedeckt. So heißt es kurz zu Beginn des zweiten Bildes: „Schwesterlein: [...] Wir haben Vater, Mutter und die Heimat verloren...“ (Doll/Fleckenstein 1985: 14). An einer weiteren Stelle heißt es dann: „Schwesterlein: Köhlerstochter, du weißt, dass ich dich sehr, sehr lieb habe. [...] Aber Brüderlein und ich haben nach dem Tode der Eltern gelobt, uns nie zu verlassen“ (Doll/Fleckenstein 1985: 15). Als weiteres Beispiel für das Auslassen einzelner Teile des Ausgangsstoffs sei noch König Drosselbart auch in der Bearbeitung von Doll/Fleckenstein angeführt. Auch hier werden bestimmte Teile des Grimmschen Stoffs bei der Dramatisierung ausgespart, so z.B. das vom Vaterkönig veranstaltete große Fest, zu dem alle heiratslustigen Männer von höherem Rang und Stand eingeladen werden. Das Fest lassen die beiden Bearbeiter nicht auf offener Bühne stattfinden, sondern liefern es als „verdeckte Handlung“ durch den Dialog zwischen dem Darstellung und Analyse 186 Vaterkönig und seiner Tochter nach. Im dialogischen Rückblick wird erzählt, wie die Prinzessin alle Freier verschmäht hat, die da versammelt waren, und wie sie an einem jeden etwas auszusetzen hatte (Doll/Fleckenstein 1966: 4). 2) Komisierung von Handlung und Figuren Die Betrachtung der Märchenstücke macht auf einen weiteren – gegenüber der Grimmschen Vorlage – neuen Aspekt aufmerksam: Die Bühnenadaption interessiert sich nicht für die Botschaft der Märchen, d.h. sie nimmt weder den zugrunde liegenden Stoff noch die handelnden Figuren ernst, sondern bietet flache, stereotyp komische Unterhaltung. Das zeigt sich vor allem in der Vorliebe der Bearbeiter für eine ausgesprochen komische Zuspitzung der dargestellten Handlung und ihrer Figuren, die in den meisten Bühnenbearbeitungen des Korpus eine wichtige Rolle spielt. Dabei dient das Komische hauptsächlich dazu, bei jungen Zuschauern Spannung zu lösen oder das Dramatische der Handlung für kleinere Kinder ertragbar zu machen. So werden traurige oder melancholische Situationen und Stimmungen z.B. durch das Auftreten komischer Figuren gelöst. Um Sympathien und damit die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu binden, werden außerdem den Hauptprotagonisten stets komische Figuren an die Seite gestellt. Häufig sind diese Nebenfiguren origineller gestaltet als die eigentlichen Helden und Heldinnen. Unser Korpus weist eine Vielzahl an Stücken auf, die eine lange Reihe von komischen Handlungsmomenten enthalten. Dazu gehört z.B. die Darstellung von skurrilen Verfolgungs- und Verwechslungsszenen. Zahlreiche Beispiele davon bietet Bürkners Stück Dornröschen. Hier kommt es zu mehreren Verfolgungsjagden zwischen den einzelnen Figuren, so beispielsweise im ersten Bild (Bürkner 2001a: 16f., 28, 31 u. 33). Auch bei Richters Bearbeitung der gleichen Märchenvorlage kommt eine Verfolgungsjagd gleich am Anfang vor. Im Vorspiel wird eine turbulente Verfolgungsszene zwischen Koch Balduin und dem Küchenjungen Peter durch den Zuschauerraum gespielt, so wie es in der Regieanweisung der Bühnentextvorlage angegeben ist: Nun rennt Peter in höchster Eile vor dem Vorhang quer über die Bühne, überquert den Orchestergraben und rennt den Mittelgang des Zuschauerraums davon, wo er irgendwo verschwindet. Kurz nach ihm taucht atemlos Balduin auf, in tadelloser weißer Küchentracht und mit einer hohen Kochmütze, die ihm ein wenig schief auf dem Kopf sitzt [...]. (Richter 1981: 1) Ebenso stellen die slapstickartigen Verfolgungsszenen, die im Laufe des dritten Bildes der auch von Richter verfassten Bearbeitung von Das tapfere Schneiderlein anzutreffen sind, Abweichungen zur Handlung der Märchenvorlage dar. Dabei stehen die vom Schneider Fridolin Darstellung und Analyse 187 zu bestehenden Aufgaben im Mittelpunkt. Zwar werden auch hier die Grundzüge des Grimmschen Märchens übernommen, aber in der Ãœbernahme wird der Inhalt leicht verändert. So wird das Wildschwein mit Pflaumenmus zum Käfig gelockt, gefangen genommen und dadurch unschädlich gemacht (Richter 1977: 93f.). Das Einhorn-Fangen bildet dann eine torero- artige Szene (Richter 1977: 94f.), die an folgender Stelle im Nebentext weitgehend genau beschrieben wird: ([...] Das Einhorn dreht sich um und nimmt den Kampf mit Fridolin auf. Dieser Kampf sollte sich ähnlich wie der eines Toreros mit dem Stier abspielen: das Einhorn nimmt immer wieder von neuem Anlauf und stößt auf Fridolin zu, der sich im letzten Augenblick mit einer geschickten Körperwendung dem gefährlichen Stoß entziehen kann. Endlich ist er ganz außer Atem). (Richter 1977: 94) Zahlreiche Beispiele für Verfolgungs- und Verwechslungsszenen finden sich auch in Bortfeldts Aschenputtel. Bereits in der kurzen, der eigentlichen Bühnenhandlung vorangestellten Eröffnungsszene wird eine spielerische Verfolgung zwischen den zwei sprechenden Tieren Katze Kritzekratze und Mäuschen Piep durch den Zuschauerraum dargestellt (Bortfeldt o.J.: 1). Im ersten Bild ist dann eine eingeschobenene Verwechslungsepisode zu sehen. Dabei verwechselt der Knappe des Prinzen (Kugelrund-Kerngesund) eine der Stiefschwestern (Trude) mit Rosalind (genannt Aschenputtel) und lädt sie, ihre Schwester (Hilde) und ihre Mutter zum Prinzenball im Schloss ein (Bortfeldt o.J.: 31f.). Eine weitere Verwechslungsepisode, die auch für viel Komik sorgt, erfolgt dann zu Beginn des vierten Bildes. Dabei tanzt die im wunderschönen Kleid Aschenputtels gekleidete Trude mit dem Prinzen und versucht erfolglos, sein Herz zu gewinnen (Bortfeldt o.J.: 93ff.). Solche und weitere lustige Momente werden häufig in die Länge gezogen und meistens durch völlig neu eingeführte Figuren ausgeführt, vor allem durch Hofbeamten und Dienerfiguren, die den Protagonisten zur Seite gestellt werden. Gerade durch diese neu eingebauten Figuren, die zudem überspitzt und karikiert dargestellt werden, erfahren die uns vorliegenden Märchenstücke besonders ihre komödiantische Wirkung. So treten Hofmeister, Hofmarschälle, Minister, Hofdamen und Diener in der Regel als ungeschickte und dumme Gestalten auf. Zur Komik trägt auch ihre lustige Namengebung bei; dabei handelt es sich um infantile und skurrile Namen wie z.B. Pinke-Pinki und Ponke-Ponki (die beiden Geldeintreiber bei Thoenies‘ Der Teufel mit den drei goldenen Haaren), Baron Ãœberklug (Leudesdorff: König Drosselbart), Hofmarschall Bitterlich (Richter: Dornröschen), Tanzmeister Spitzbein (Wanderscheck: Aschenputtel), Knappe Kugelrund-Kerngesund (Bortfeldt: Aschenputtel) und Hofmarschall von Trampel (Komm: Das tapfere Schneiderlein) – um nur einige Beispiele zu nennen. Damit zeigen die Stücke eine ironische bis läppische Charakterisierung der Hofwelt. Vor allem die Welt der Dienerschaft wird mit großem Slapstick aufgeführt. Darstellung und Analyse 188 Damit ist aber das gesamte Spektrum von Humor und Komik noch nicht erschöpft. Denn neben der komischen Stilisierung einzelner Figuren und Episoden wird der größte Teil der Märchenstücke auch durch humorvolle Dialoge und witzige Wortspiele, insbesondere zwischen den Hoffiguren, ebenso wie durch wirksame Einfälle belebt. 3) Pädagogisches Anliegen Neben Komik finden auch bereits in Grimms Märchenvorlage vorhandene Tugendlehren und pädagogische Anliegen Eingang in unterschiedliche Stücke unseres Korpus. Im 6. Bild von Rumpelstilzchen in der Bearbeitung von Leudesdorff heißt es z.B.: „Man soll helfen, ohne immer an Lohn zu denken“ (Leudesdorff 1980a: 52). Ãœber diese pädagogische Maxime der Hauptprotagonistin (der Müllerstochter Rotraut) wird die Intention der Bearbeiterin zum Ausdruck gebracht. Damit ist nur eines der zahlreichen Beispiele genannt, die sich durch die uns vorliegenden Bühnentextvorlagen hindurchziehen und so zusätzliche pädagogische Momente auf der Handlungsebene schaffen. Der pädagogische Zeigefinger, der eher unterhaltend als moralisch belehrend seine Botschaft vermittelt, wird in vielen Stücken hinter der vordergründig komischen Handlung versteckt. Tendenziell wird aber die pädagogische Botschaft des Stückes durch die Charakterisierung einzelner Figuren übermittelt. Oftmals sind z.B. in manchen Stücken die Feen der Inbegriff von Tugend und Anstand, also gutem Benehmen und Manieren. Die in den Märchenstücken auftretenden Feen sind Trägerinnen nicht nur von wundersamen Verwandlungen und Zaubermächten, sondern auch von pädagogischen Prinzipien. Besonders gut zu beobachten ist das bei Aschenputtel in der Bearbeitung von Bortfeldt. Hier fordert schon am Beginn der Handlung die gütige Baumfee Haselnuß die beiden sprachbegabten Tiere Katze Kritzekratze und Mäuschen Piep zu gutem Benehmen auf: „Fee: (läutet an der Glockenblume) Wollt ihr wohl manierlich sein und nicht naschen, ihr zwei!“ (Bortfeldt o.J.: 4). Durch die Baumfee lernen sie (und auch die zuschauenden Kinder) nicht nur, dass man immer gutmütig sein soll, sondern auch, dass man sich immer aus Höflichkeit bedanken soll. Bezeichnend ist folgende Stelle im Text: „Fee: [...] Ihr müsst warten, bis Rosalind euch euer Essen gibt, und dann schön ,danke sehr‘ sagen“ (Bortfeldt o.J.: 5). Im Laufe des Stückes zeigen die beiden Tiere, wie man sich richtig zu verhalten hat: „Katze: Nein, du musst nicht immer nur an dich denken“ (Bortfeldt o.J.: 1); „Piep: Mit vollem Mund darf man doch nicht sprechen!“ (Bortfeldt o.J.: 9). Solche lehrhaften Sentenzen erweisen sich als wichtige Methoden der Unterweisung, die den kindlichen Zuschauern dazu verhelfen soll, richtiges von falschem Verhalten zu unterscheiden. Im Anschluss an die alte deutschsprachige Kindertheatertradition des 18. Jahrhunderts bildet Bortfeldts Dramatisierung damit eine aufklärerische, sehr lehrhafte Aufarbeitung des ursprünglichen Grimmschen Aschenputtel-Märchens. Darstellung und Analyse 189 Auch in Richters Das tapfere Schneiderlein gewinnt der pädagogische Aspekt im Gegensatz zum Grimmschen Märchen (KHM 20) eine große Bedeutung. In der Bühnenfassung lautet die pädagogische Botschaft: Es reicht nicht nur tapfer zu sein, sondern man muss auch ehrlich und freundlich handeln. Zur Verdeutlichung sei folgende Stelle aus dem Stücktext gegeben: Brumm: Nein! Erstens: Man darf nicht lügen! Ihr müsst der Prinzessin sagen, dass Ihr nur ein Schneider seid! Zweitens: Wenn Euch die Prinzessin nicht leiden kann, seid Ihr selber daran Schuld! Ihr hättet viel netter zu ihr sein müssen! Drittens: Wenn die Prinzessin nichts anzuziehen hat, dann müsst Ihr ihr eben ein neues schönes Kleid schneidern, wozu seid Ihr denn ein Schneider! (Richter 1977: 66) Daneben sind in Richters Märchenstück noch andere didaktisch relevante Züge zu finden. Um hier nur ein Beispiel zu nennen: Im Laufe des Stückes wird dem Protagonisten (und auch dem kindlichen Zuschauer) klar, dass das Solidaritätsbewusstsein bei Schwierigkeiten und deren Ãœberwindung wichtig ist. So helfen die Musfrau (Frau Brumm) und Prinzessin Rosenblüte dem Schneider Fridolin und halten beim Lösen der drei schwierigen Aufgaben des Königs treu zu ihm. Der Sieg über das Böse findet damit durch eine Kollektivtat statt. Als abschließendes Beispiel für das pädagogische Anliegen der ursprünglichen Grimmschen Handlung sei hier nun noch König Drosselbart in der Bearbeitung durch Weth erwähnt. Nicht zu übersehen ist dabei, dass die dem Stück zugrunde liegende Drosselbart-Handlung zusätzlich mit einer Zeigefinger-Moral besetzt ist. Die lehrhafte Absicht zeigt sich vor allem in der Handlungseinstellung. Ihr thematischer Mittelpunkt ist der Lernprozess der hochmütigen Prinzessin, der im Stück beispielgebend vorgeführt wird. Im Laufe der Stückhandlung werden somit Erkenntnisse als Kommentar und Spruchweisheit sentenziös aufgesetzt, die mit Seitenblick auf die jungen Zuschauer als Belehrung abgegeben werden, wie folgendes Zitat aus der Dialogrede Drosselbarts zeigt: „Du jammerst nur. Nimm an, was dir geboten ist und lern aus dem, was du einst falsch gemacht hast“ (Weth 1970: 22). In ähnlicher Richtung zielen auch die Sprüche der beiden Wichtelmännchen Wappi und Schlürfel „Denn helfen soll man ja[,] ohne einen Lohn zu empfangen“ (Weth 1970: 39) und „Mit seinen guten Werken soll man nicht prahlen“ (Weth 1970: 49). 4) Zuspitzung fabelhafter Elemente Die im Korpus vorliegenden Märchenstücke lassen eine ganze Reihe weiterer bearbeitender Eingriffe an der Handlung und am Figurenrepertoire des Grimmschen Ausgangsmärchens im Hinblick auf die Zuspitzung fabelhafter Elemente erkennen. Die Palette reicht hier vom Einsatz neuer Märchenmotive und Prüfungssituationen über die Anwendung von zusätzlichen Zaubermitteln bis hin zum Zusatz neuer märchenhafter Figuren. Darstellung und Analyse 190 Mit der Verwendung solcher hinzukommenden Elemente wird die Handlung des zugrunde liegenden Märchens „aufgefüllt“, also reicher geschmückt, ja im Grunde genommen variiert bzw. erweitert. Nachfolgend seien einige Beispiele dafür genannt. • In Bortfeldts Aschenputtel werden neben den zentralen Motiven des aus Grimms Märchen stammenden Stoffes (d.h. gestorbene Mutter, böse Stiefmutter, neidische Schwestern, gesellschaftliche Erniedrigung, Unterstützung durch übernatürliche Helfer, Wunderbäumchen, Brautwahl, kostbarer Schuh, Schuhprobe und Heirat mit dem Königssohn) auch weitere Märchenmotive vom Bearbeiter bewusst eingesetzt. Dazu gehören z.B. das Jäger-Motiv am Stückanfang (Bortfeldt o.J.: 13) sowie das Motiv des verlorenen Gegenstandes, also das von der Hauptfigur (Rosalind) auf der Flucht vor dem Prinzen verlorene wunderschöne Kleid (Bortfeldt o.J.: 56). Ähnliches ist auch bei Bürkners Stück Rumpelstilzchen zu beobachten. Dabei wird neben dem im ersten Bild eingeschobenen Jagdmotiv (Bürkner 2001b: 13ff.) auch noch das „Papageno-Schloss“-Motiv aus Mozarts Märchenoper Die Zauberflöte (1791) im zweiten Bild neu eingeführt (Bürkner 2001b: 70): Hier legt Rumpelstilzchen dem Müllerburschen Friedel ein Zauberschloss vor den Mund, sodass er nicht sprechen kann. Auch für den Einsatz von neuen Motiven gibt die Adaption Brüderlein und Schwesterlein durch Doll/Fleckenstein einen Beleg. Darin wird nämlich auf ein Lied aus der dem Kinderpublikum wohl bekannten Märchenoper Hänsel und Gretel (1894) von Engelbert Humperdinck (1854-1921) zurückgegriffen (Doll/Fleckenstein 1985: 41). Damit stoßen die beiden Autoren auf Motivähnlichkeiten, besonders bei der Geschwistermotivik. • Ein Beispiel für den Einsatz neuer Prüfungssituationen aus dem Korpus bietet Richters Dornröschen. Hier ist der Prinz im Verhältnis zum Grimm-Märchen (KHM 50) noch einer Prüfungssituation ausgesetzt, bevor er die schöne schlafende Prinzessin Röschen erlöst: Er muss gegen die böse Fee Stacheline kämpfen, damit sie den Zauberspruch zur Erlösung der Prinzessin preisgibt (Richter 1981: 74ff.). Auch in König Drosselbart in der Bearbeitung von Doll/Fleckenstein werden die Freier der Prinzessin Heidelinde einer Prüfungssituation ausgesetzt, die im ursprünglichen Grimm-Märchen (KHM 52) überhaupt nicht vorkommt. Die Prinzessin stellt nämlich den vorüberkommenden Freiern eine Rätselfrage: „Wie kann man zum Schlosse kommen, nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg?“ (Doll/Fleckenstein 1966: 8). Wer diese schwere Frage beantworten kann, darf die Königstochter heiraten. Auffällig dabei ist, dass die Darstellung und Analyse 191 Bearbeiter das Rätsel von den Grimms übernommen haben: Es stammt ursprünglich aus Die kluge Bauerntochter (KHM 94) und kommt im Stück nur leicht variiert vor. • Beispiele für den Einsatz zusätzlicher Zaubermittel in den Märchenstücken des Korpus finden sich u.a. in Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren – darin gibt die Prinzessin dem Hauptprotagonisten (Hans) ein Zauberobjekt, hier in Form eines Fahrrads, das als Hilfsgegenstand einzig und allein der Rettung vor der Verfolgung durch den Teufel dient (Gruber 1977: 27) – sowie in Richters Dornröschen: Hier gibt die gütige Fee Floralia dem Prinzen eine zauberhafte Heckenrose, damit er die böse Fee Stacheline beim Kampf besiegen kann (Richter 1981: 65f.). • Einen besonderen Fall innerhalb des Korpus stellt Bürkners sehr traditionelle Bühnenbearbeitung Dornröschen dar. Darin wird im zweiten Bild (Bürkner 2001a: 50ff.) ein zusätzliches Märchen eingesetzt und zwar Der süße Brei (KHM 103), eine weitere Geschichte der Brüder Grimm. Ganz ähnlich verfahren Doll/Fleckenstein in König Drosselbart, das auch eine zusätzliche Erzählung beinhaltet: „Die Prinzessin mit dem gläsernen Herzen“133 (vgl. Doll/Fleckenstein 1966: 18f.). Während aber das eingebaute Märchen bei Bürkner sich als überflüssige Einlage erweist und gar weggelassen werden könnte, erfüllt die Märcheneinlage bei Doll/Fleckenstein eine Funktion: Bei ihnen reflektiert das Märchen die dramatische Handlung, d.h. es bezieht sich auf die vorangegangene Handlung (wiederholt sie also als Zitat) und stellt die folgende vor. Märchenhaftes wird auch bei der Figurengestaltung auf die Spitze getrieben, etwa durch den Einsatz völlig neuer Märchenfiguren durch die Bearbeiter. So fügt Leudesdorff in Rumpelstilzchen die Eule Rategut hinzu, ein sprechendes Tier, das wohlmeinende Ratschläge gibt (Leudesdorff 1980a: 60f.). Und ebenso lässt Richter den klugen Esel Langohr in seiner Dornröschen-Bearbeitung erscheinen: Er ist es, der dem Prinzen Heinrich vom Blumenland den letzten Satz des Zauberspruchs gibt, damit sich die Hecke um das Dornröschenschloss öffnet und den Prinzen unbeschadet hindurch lässt (Richter 1981: 86f.). 5) Vorhandensein von Traumszenen Neben den oben erwähnten zusätzlichen, neu hinzukommenden Elementen stellen auch traumhafte Szenen weitere, im Verhältnis zur zugrunde liegenden Märchenvorlage neue 133 N.n. Darstellung und Analyse 192 Handlungseinlagen dar. Als Beispiel hierfür sei Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren herangezogen. Dabei weist der erste Auftritt des Teufels Merkmale einer Traumeinlage auf, die szenisch dargestellt wird: Im Traum begegnet der König dem Teufel. Dabei erfährt er, dass sein Leben dem Teufel gehört (Gruber 1977: 24). Bereits an dieser Stelle wird also ein Hinweis auf die unbewusste Reise des Königs zum Dämon am Ende des Stückes gegeben. Besonders markant ist aber das Vorhandensein von Traumszenen in Leudesdorffs König Drosselbart: Hier wird die von der Prinzessin geträumte Szene im dritten Bild in Form einer Kaspertheateraufführung szenisch dargestellt (Leudesdorff 1980b: 30f.). Erzählt wird die Geschichte einer Kasperleprinzessin, der kein Freier gut genug ist, bis sie sich dazu entscheidet, einen hässlichen Prinzen mit einem guten Herzen zu heiraten. Bedeutung erhält die Traumeinlage nicht nur in der Darstellung innerpsychischer Vorgänge der weiblichen Hauptfigur, denn durch die Traumerfahrung wird die träumende Prinzessin sich ihrer Situation und ihrer schlechten Charaktereigenschaften bewusst, sondern auch im Hinblick auf den Vorsprungscharakter der Szene. Solche Vorausdeutung auf späteres Geschehen ist ein wichtiges Binde- und Gliederungsmittel und zwar auf doppelte Weise: Zum einen nimmt die traumhafte Szene die Zukunft vorweg, für die sich die Prinzessin nach dem Erwachen entscheiden wird; zum anderen setzt die Szene die zuschauenden Kinder schon früh von der Zukunft der Prinzessin in Kenntnis. Im gleichen Bild wird noch ein Kasperspiel eingesetzt (Leudesdorff 1980b: 23f.), diesmal aber als Spiel-im-Spiel-Einlage, wobei wieder zwei verschiedene Fiktionsebenen etabliert werden: Die primäre Ebene ist das Theaterstück, das selbstverständlich Fiktion ist, die sekundäre ist das ebenso fiktionale Spiel im Spiel. 6) Zuspitzung retardierender Momente Anhand des vorliegenden Stücktextkorpus lässt sich für die Verwandlung von Märchen in Bühnenstücke auch als charakteristisch beobachten, dass die Bearbeiter weitere Handlungsabschnitte in ihre Stücke aufnehmen, die nicht nur den Ereignisablauf der zugrunde liegenden Grimmschen Vorlage unterbrechen, sondern im Verhältnis dazu auch zusätzliche retardierende Momente ausmachen. Durch solche retardierenden Momente wird im Laufe der Handlung Spannung aufgebaut, die dann konstant gehalten wird und sich zum Ende noch steigert. Allerdings erschöpfen sich die in den Korpusstücken anzutreffenden verzögernden Momente nicht allein in der Funktion der Spannungserzeugung. Darüber hinaus dienen sie auch dazu, die dramatische Lösung zeitweise zurückzuhalten. Da sie einen deutlichen Unterschied zum Grimmschen Ausgangsstoff ausmachen, sind sie interessante Einfälle der Bühnenbearbeiter, die im Rahmen des Vergleichs Märchenvorlage/Bühnenadaption neben dem Darstellung und Analyse 193 Einsatz von Eingangsszenen (s. 3.4.1.3, darin Punkt 1) als weitere Eingriffe in das zugrunde liegende Märchen hervorgehoben werden sollen. Einen extremen Fall hinsichtlich retardierender Momente stellt Bürkners Rumpelstilzchen dar. Hier ist ein breites Repertoire an verzögernden Eingriffen zu beobachten, die auf spannende Weise die Grimmsche Ausgangsgeschichte verlängern. Dazu zählen neben zahlreichen Liedern auch neu eingeführte Motive, also die bereits an anderer Stelle erwähnten Jagd- und „Papageno- Schloss“-Motive, sowie Verfolgungs- und Verwechselungsszenen, die dem bekannten Grimm- Märchen ganz fremd sind. Eine bedeutsame Rolle als retardierendes Spannungsmoment in Bürkners Märchenstück spielt der gute Einfall vom schwachen Erinnerungsvermögen des Wächters Tolpatsch. Dadurch wird im letzten Bild das Herausfinden vom Namen des bösen Waldwichts und damit das glückliche Ende verzögert (Bürkner 2001b: 85). Ähnlich verhält sich Rumpelstilzchen von Doll/Fleckenstein. Auch hier wird im letzten Bild ein retardierendes Moment durch eine Szene erzeugt, die den Ausgang hinauszögert, indem sie das Eintreten des Gegenteils des Erwarteten noch einmal sehr wahrscheinlich macht (Doll/Fleckenstein 1978: 37f.). Das verzögernde Moment wird durch das Erzählen des Abenteuers auf der Suche nach dem Namen des bösen Männchens möglich und vor allem durch das schwache Erinnerungsvermögen der beiden Diener Potz und Blitz. Damit wird das sich scheinbar in greifbarer Nähe befindliche glückliche Ende, also Rumpelstilzchens Vernichtung, hinausgezögert. Dabei steigt die Spannung noch einmal an: POTZ: Er hüpfte von einem Bein auf das andere ... BLITZ: ... sang ein Lied und nannte laut seinen Namen ... POTZ: ... einen Namen, den ich vorher nie gehört habe. KÖNIG u. KÖNIGIN: (zusammen) Nennt uns endlich den Namen! BLITZ: ... einen Namen, den ich nie vergessen werde ... KÖNIG: ... den Namen!!! POTZ: ... den Namen kann ich auch nicht vergessen! KÖNIG: D e n N a m e n !!! POTZ: Er heißt ... (stockt, große Pause) Blitz, wie heißt er denn eigentlich? BLITZ: Du vergisst auch alles, Potz! Er heißt ...? (Auch er hat den Namen vergessen) ... er heißt ... (Doll/Fleckenstein 1978: 38) 7) Abweichende Lösungen Lenkt man den Blick auf den Schlussteil der Handlung im Märchen, so gehört der glückhafte Schluss – zumindest für die positiven Figuren – zu den Gesetzmäßigkeiten des Märchenablaufs. Das glückliche Ende am Schluss der Handlung als Ziel des Geschehens, z.B. in Form von Liebeserfüllung, Reichtum, Königskrone oder Zufriedenheit, wird für die Glücklichen durch die vorher bewältigten Konfliktsituationen deutlich betont (Pöge-Alder 2007: 27). Darstellung und Analyse 194 Analog dazu verfahren auch die beobachteten Märchenstücke. Wie im zugrunde liegenden Märchen lösen sich sämtliche Probleme auf, d.h. die guten Figuren werden belohnt, die bösen Figuren werden bestraft – und zwar nach der Konvention der am Dramenende sich einstellenden „poetischen Gerechtigkeit“ (Pfister 1997: 139). Im Anschluss an Poetiken und Dramentheorien des 17. und 18. Jahrhunderts werden also auch bei den uns vorliegenden Märchenstücken „alle ethischen Konflikte im Dramenausgang durch die Belohnung der normkonformen und die Bestrafung der normverletzenden Figuren entschieden“ (Pfister 1997: 139). Zum Handlungsausgang der Märchenstücke gehört allerdings nicht nur der glückliche, sondern letztendlich auch versöhnliche Schluss. Weil also die darin dargestellten Geschichten oft ein versöhnliches und positives Ende nehmen, kommt es zu einer Uminterpretation der ursprünglichen Grimmschen Märchenschlüsse. Dies trifft beispielsweise für Wanderschecks Aschenputtel zu. Darin bricht der Bearbeiter mit der erzählerischen Vorlage, indem er auf die Ãœbernahme des wohl bekannten Märchenschlusses verzichtet: Anders als das Grimmsche Aschenputtel endet Wanderschecks Bühnenbearbeitung nicht mit der traditionellen grausamen Bestrafung der beiden bösen Stiefschwestern,134 sondern mit der Versöhnung des ehemaligen Aschenputtels Elfi, das nun als Braut des Prinzen Peter ihren Schwestern Suse und Sabine vergibt (Wanderscheck o.J.: 21f.). Dies gilt auch für Bortfeldts Adaption des gleichen Märchens. Auch hier steht am Ende des Stückes die Versöhnung der Stiefmutter und der beiden bösen Stiefschwestern mit dem Aschenputtel Rosalind. Eingeführt wird die Nächstenliebe durch folgenden kurzen Handlungseinschub: Mutter, Trude und Hilde: (fallen auf die Knie) Rosalind, kannst du uns verzeihen, dass wir so böse zu dir waren und dich Aschenputtel genannt haben? Bitte, bitte! Rosalind: Von Herzen an. Vater: Meine gute, kleine Rosalind, nun werden wir alle glücklich und zufrieden sein. [...]. (Bortfeldt o.J.: 112) Auch bei Richters Das tapfere Schneiderlein findet die ursprüngliche Geschichte der Grimms zum großen Teil ein versöhnliches Ende. Während im Grimmschen Märchen (KHM 20) die beiden Riesen solange aufeinander einschlagen, bis beide tot sind, so werden sie bei Richters Bühnenfassung unschädlich gemacht, mit Ketten gefesselt und ins Schloss des Königs 134 Bei den Brüdern Grimm heißt es nämlich: „Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und teil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zur Kirche gingen, war die Älteste zur rechten, die Jüngste zur linken Seite: da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach, als sie herausgingen, war die Älteste zur linken und die Jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus. Und waren sie also für ihre Bosheit und Falschheit mit Blindheit auf ihr[en] Lebtag gestraft“ (Grimm 1997: 144). Darstellung und Analyse 195 gebracht. Dort werden sie am Schluss als königliche Stallwächter eingestellt (Richter 1977: 88 u. 112). Das Wildschwein wird seinerseits „königliches Riesenwildschwein ehrenhalber“ genannt und soll „in einem prächtigen Käfig wohnen und Pflaumenmus zu fressen bekommen“ (Richter 1977: 111). Und auch das Einhorn bekommt einen warmen Stall und silbernes Zaumzeug und wird am Ende „oberstes königliches Ehrenreittier“ (Richter 1977: 112). Nur die beiden bösen Figuren, also der Kriegsminister und der Leibarzt des Königs, werden bestraft: Sie werden von den beiden Tieren und den Riesen aus dem Königshof vertrieben (Richter 1977: 113). Im Zusammenhang mit dem Ausgang sei schließlich auch noch ein weiterer Aspekt angesprochen, der uns wiederum zur Frage der Wahrscheinlichkeit der Knotenlösung führt. Während das Märchen den Konflikt auf fantastische Weise löst, wird im Drama eine wahrscheinliche Lösung der konflikthaften Ausgangssituation erwartet. Nach der traditionellen Dramentheorie gilt für eine dramatische Struktur mit geschlossenem Ausgang die Bestimmung, dass im Drama, dessen Handlung nach dem Kausalitätsprinzip aufgebaut ist, die Auflösung notwendig aus den Figuren oder der Verknüpfung der Begebenheiten hervorgehen soll, oder aber sie kann auch durch den Eingriff von außen herbeigeführt werden (Pfister 1997: 139). Charakteristisch für dieses Verfahren ist das plötzliche, unmotivierte Erscheinen von Ereignissen, Figuren oder außenstehenden Mächten, die als dei ex machina dem Bühnengeschehen die Schlusswende geben und damit die Lösung des Konflikts mit sich bringen (zum deus ex machina s. 3.4.1.1). In unserem Korpus finden sich Beispiele dafür, wie Ausgangssituationen weder aus den handelnden Figuren, noch aus der Verkettung der einzelnen Geschehnisse hervorgehen. Dabei wird die Lösung des Konflikts durch eine außenstehende Macht herbeigeführt, so z.B. durch ein übernatürliches Wesen (eine gütige Fee oder ein hilfreiches Tier), was stark an die deus-ex- machina-Lösung des antiken Dramas, besonders der Tragödien von Euripides erinnert.135 So tritt im vierten Zwischenspiel von Richters Dornröschen die gute Fee Floralia auf und führt die Figur des Prinzen Heinrich von Blumenland ein, der die schlafende Prinzessin Röschen von ihrem Zauber erlösen wird (Richter 1981: 58f.). In ähnlicher Weise lässt auch Leudesdorff im siebten Bild des Rumpelstilzchens die sprechende Eule Rategut erscheinen. Dadurch gelingt es dem Pagen Hans und dem Müller von Großwort, den Namen des bösen Waldzwergs zu erfahren, was zur Lösung des Konflikts zwischen der zur Königin gewordenen Müllerstochter und Rumpelstilzchen führt (Leudesdorff 1980a: 61). Weitere plötzliche und unerwartete, an einen deus-ex-machina-Schluss erinnernde Figuren oder Ereignisse können auch die Lösung des dramatischen Konflikts bringen. Bei Bürkner, z.B 135 In den Schlussszenen der meisten Tragödien von Euripides greift ein deus ex machina in die Handlung ein. Ein Beispiel dafür bietet etwa Iphigenie im Taurerlande (ca. 414-412). Dabei tritt im letzten Augenblick die Göttin Athene auf, um Iphigenie und Orestes vor dem Zorn des taurischen Königs Thoas zu retten, und fällt ein gerechtes Urteil, dem sich alle unterwerfen. Darstellung und Analyse 196 in Dornröschen, tritt plötzlich eine im bisherigen Text- bzw. Spielverlauf noch nicht dargestellte Figur auf: Der Prinz, der die Prinzessin aus ihrem tausendjährigen Schlaf erlöst (Bürkner 2001a: 66ff.). Auch wird in Rumpelstilzchen angesichts der völlig hilflosen und ohnmächtigen Königin und des triumphierenden Rumpelstilzchen die Wendung zum Dramenausgang und damit zur glücklichen Lösung des Konflikts durch die Belauschungsszene des Wächters Tolpatsch erreicht. Darin sieht dieser zufälligerweise, wie Rumpelstilzchen, das sich unbeobachtet glaubt, um eine Laterne tanzt und dabei seinen Namen preisgibt (Bürkner 2001b: 76f.). 8) Geschlossene Handlungsausgänge Den Schluss eines Märchens bilden oft Formeln wie „Sie lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende“ oder „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, oder aber es gibt irgendeinen anderen ähnlichen Schlusssatz. Damit wird allerdings darauf hingewiesen, dass es sich dabei um keine abgeschlossene Handlung handelt, sondern vielmehr um ein offenes Ende, d.h. ganz am Ende der Handlung wird noch ein Ausblick auf kommende Ereignisse geworfen. Während im Märchen der Schluss unbestimmt offen bleibt, gibt das Drama eine bestimmte abschließende Auskunft – zumindest in der dramatisch angelegten Form. Erwartet wird dabei, wie in Kapitel 2 beschrieben (s. 2.1.1.1), die Darstellung einer abgeschlossenen Handlung mit einem klar definierten Ende (Pfister 1997: 320). Aus der Betrachtung der im Korpus vorliegenden Märchenstücke lässt sich feststellen, dass diese einen endgültigen Schluss aufweisen. Damit folgen sie der nahe liegenden Form des Dramas, bei der nach Konvention die „Informationsdiskrepanzen zwischen den Figuren [...] als auch die Informationsdiskrepanzen zwischen Figuren und Publikum“ (Pfister 1997: 138) aufgehoben und die dargestellten Konflikte gelöst werden. Die Konvention des geschlossenen Dramenendes wird meist durch den stummen Auftritt der Figuren am Ende des Stückes markiert, aber auch durch weitere Konventionen verstärkt. Dazu zählen insbesondere Tanz, Musik und festliches Spiel, so wie es in Bürkners Rumpelstilzchen anzutreffen ist. Darin fassen sich die Darsteller „bei den Händen, bilden einen Kreis, in dessen Mittelpunkt der König und die Königin stehen und schreiten fröhlichen Schrittes und sehr beschwingt singend um das Königspaar herum“ (Bürkner 2001b: 102). Ganz ähnlich verfährt Wanderscheck in Aschenputtel, wenn er sich am Ende des Stückes als Bühnenanweisung wünscht: Fröhliche Musik setzt ein. Die Tauben beginnen um Aschenputtel und den Prinzen zu tanzen und die Vögel des Waldes gesellen sich zu einem kleinen tänzerischen Finale. Bambus und Bambi stecken ihre Köpfe durch das Fenster und nicken sich freudig über das glückliche Ende zu. (Wanderscheck o.J.: 23) Darstellung und Analyse 197 Mit Reden zusammenfassenden Inhalts wird der Schluss der gesamten dramatischen Handlung auch deutlich markiert. Richters Dornröschen zeigt am Ende folgende Textstelle: Frosch: [...] Ich wünsch Glück dem jungen Paar! Was ich voraussagt‘, wird nun wahr: Es zieht das Glück in eure Herzen, vergess nun Kummer, Trauer, Schmerzen! Lebt zufrieden in diesem Haus – quakquak – die Geschichte ist nun aus! (Richter 1981: 95) Als weiteres eingebautes Schlusssignal ist schließlich noch die Hinwendung einzelner Figuren an die Zuschauer hervorzuheben. So endet Richters Das tapfere Schneiderlein mit folgenden Worten des Protagonisten: Fridolin: [...] (Vertraulich in den Zuschauerraum) Und ihr, liebe Kinder, dürft auch nicht verraten, was der Spruch bedeutet! Ja? [...] So, und nun ist sie aus, die Geschichte von der lieblichen Prinzessin Rosenblüte, [...]. Und vergesst bitte nicht das tapfere Schneiderlein, der ein recht leichtsinniger Bursche war, der aber durch sieben Fliegen und süßes Pflaumenmus einen Königsthron und eine liebe Frau gewann! Auf Wiedersehen! (Richter 1977: 114) Einen Sonderfall im Hinblick auf die Gestaltung des Stückschlusses bilden diejenigen Bühnenstücke innerhalb des Korpus, die am Schluss die weihnachtliche Symbolik integrieren. Dazu zählen u.a. die Märchenstücke von Bortfeldt (Aschenputtel), Leudesdorff (Rumpelstilzchen, König Drosselbart) und des Autorenduos Doll/Fleckenstein (Brüderlein und Schwesterlein, Rumpelstilzchen). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie in einer Art Schluss- Apotheose mit weihnachtlichen Klängen enden. So stimmen alle Figuren in Stille Nacht, heilige Nacht oder O du fröhliche, o du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit ein, während „der Vorhang langsam fällt“. Hierdurch sollen eben besagte Stücke eher als Weihnachtsspiele angesehen werden. Die Anwendung der oben beschriebenen konventionellen Verfahren verhilft nicht nur den Bühnenbearbeitern dazu, die im Drama zu erreichende abgeschlossene Handlung zu berücksichtigen, sondern sorgt auch für den dramaturgischen Zusammenhalt des im Stück zugrunde liegenden Märchenstoffs. 9) Ausweitung des Grimmschen Märchenpersonals Wie bereits erwähnt, beschränkt sich die Mehrzahl der untersuchten Bühnenbearbeiter nicht nur auf die Veränderung der Märchenvorlage hinsichtlich der Handlung oder der Art und Weise, Darstellung und Analyse 198 wie diese wiedergegeben wird (z.B. durch Erzählinstanzen). Sie bedient sich auch der durch die Vorlage vorgegebenen Figuren, ändern diese zu ihrem Gefallen um, streichen Figuren aus der Handlung, fügen neue hinzu usw. Durch solche Bearbeitungseingriffe am Figurenrepertoire des zugrunde liegenden Märchens werden die Unterschiede zwischen dem erzählerischen Text und dem Bühnentext nicht nur augenfälliger, sondern sogar noch verstärkt. Blickt man auf die einzelnen Personenauflistungen am Anfang der Märchenstücke, so lässt sich feststellen, dass darin zwar die für das Grimmsche Märchen charakteristischen Figuren vorkommen. Allerdings wird auch deutlich, dass die Bühnenbearbeiter auch entscheidende Änderungen am Figurenrepertoire des Ausgangsmärchens vornehmen, indem z.B. der zugrunde liegenden Geschichte völlig neue Figuren hinzugefügt werden. Dazu gehören vor allem Hofbeamte, Diener und sprechende Tiere, mit denen die bestehende Geschichte des Märchens weiterentwickelt wird. Diese eigentlich dem ursprünglichen Märchen ganz fremden Figuren nehmen im Stück oft eine wichtige Rolle ein, d.h. sie dienen dazu, vielfältige Funktionen auf der Handlungsebene zu erfüllen: von der Auslösung und Verflechtung der Handlung über deren Begleitung bzw. Kommentierung bis zu deren Komisierung. Außerdem übernehmen sie auch Ratgeber- und Helferfunktionen, die die von Propp entworfenen Handlungsfunktionen in Erinnerung rufen. Die Tierfiguren werden oft dazu verwendet, um ähnlich der Fabel menschliche Eigenschaften, Zustände und Gebräuche indirekt darzustellen. Bei Leudesdorffs Rumpelstilzchen z.B. erscheint die wohlmeinende und ratschlaggebende Eule Rategut, mit deren Hilfe es dem zuverlässigen Pagen Hans und dem Müller von Großwort gelingt, den Namen des bösen Wichts herauszufinden. In seiner Aschenputtel-Bearbeitung fügt Bortfeldt dem ursprünglichen Personal der Grimms viele neue Figuren hinzu, darunter zwei konkomitante Figuren, die Katze Kritzekratze und das Mäuschen Piep, die im Stück Erzählfunktionen übernehmen. Und in Dornröschen lässt Richter den klugen Esel Langohr an der Seite des Prinzen auftreten und zu seinem treuen Wegbegleiter und Unterstützer werden. 10) Dynamische Anlage der Figuren Bei der Besprechung der Figurenkonzeption in 3.4.1.1 klang bereits an, dass die meisten der in den Märchenstücken unseres Korpus auftretenden Helden eher statisch konzipiert sind, sie also wie im zugrunde liegenden Grimmschen Märchen kaum erkennbare Entwicklungstendenzen während des Handlungsverlaufes aufweisen (s. Punkt 7 weiter oben). Allerdings lassen sich bei der Vielfalt von Figuren natürlich auch Abweichungen davon feststellen. So gibt es im Korpus eine bestimmte Anzahl an Figuren, die tatsächlich dynamisch angelegt sind, d.h. innerhalb des jeweiligen Stückes eine Entwicklung durchlaufen und dabei auch ihre Charakteristik verändern. Wie schon angedeutet, geht es dabei aber nicht um komplex Darstellung und Analyse 199 genug, also tief angelegte Figuren nach Pfisters Formulierung im Sinne einer mehrdimensionalen Figurenkonzeption (Pfister 1997: 244). Vielmehr muss hier die Rede sein von Figuren, die sich durch ein geringes Maß an Komplexität auszeichnen. Das ist etwa an Richters Das tapfere Schneiderlein zu erkennen. Im Vergleich zum Grimmschen Märchen (KHM 20) werden hier die Figuren charakterlich stärker hervorgehoben und entwickelt, allen voran Schneider Fridolin Leichtfuß als Protagonist. So entwickelt er ein Bewusstsein von Ehrlichkeit und Freundlichkeit der Prinzessin gegenüber, und zwar ganz im Gegensatz zur Märchenvorlage, in der solche Aspekte überhaupt nicht vorkommen. In der Bühnenfassung gesteht er, dass er kein großer Ritter ist, sondern in Wirklichkeit ein kleiner Schneider (Richter 1977: 71). Darüber hinaus findet in Richters Adaption auch eine innere Reifung und Selbstfindung des Protagonisten durch die bestandenen Proben statt. So hat der Schneider Fridolin am Ende der Geschichte seinen Weg erfolgreich durchlaufen und alle Bewährungsproben bestanden. Er ist ein anderer geworden, d.h. klüger, bewusster und erwachsener. Weitere Charakterveränderungen im Stück betreffen die Figuren des Königs und der Prinzessin. Aus dem immer so schlecht gelaunten König (nicht umsonst heißt er Miesepeter) wird nämlich ein fröhlicher König Peter (Richter 1977: 100). Und aus der anfangs völlig launenhaften und widerwilligen Prinzessin Rosenblüte (Richter 1977: 38ff. u. 64) wird dann ein liebliches und romantisches Mädchen (Richter 1977: 71). Auch die Figur der Musfrau, die im ursprünglichen Märchen übrigens am Rande der Geschichte bleibt und daher kaum eine Rolle spielt, entwickelt sich bei Richter zu einer aktiven Mitstreiterin und verwandelt sich ebenfalls charakterlich. Wird sie bei den Grimms einzig und allein als brummig charakterisiert, so erhält sie nun als Bühnenfigur einen eigenen Charakter, der sich dann im Laufe des Stückes verändert. Ihr geringes Selbstwertgefühl wird gestärkt, indem Schneider Fridolin ihr zeigt, dass sie nicht alt, dick und hässlich ist, sondern auch hübsch und ansehnlich in einem von ihm genähten Kleid aussehen kann (Richter 1977: 13ff. u. 19). Da sie von ihm geachtet wird, gewinnt sie Zuversicht und Selbstvertrauen, d.h. ist sie am Anfang des Stückes nicht lieb und dabei recht mürrisch, wird sie dann nett, freundlich und gut gelaunt (Richter 1977: 21). Ebenso führen bei Leudesdorffs König Drosselbart die von der Titelfigur gestellten Aufgaben schrittweise zur Reifung der stolzen und übermütigen Königstochter, die alle Brautwerber verspottet, indem sich ihr moralischer Defekt, also ihr Hochmut, am Ende der Geschichte behoben hat. Durch die Lektionen ihres Gatten wandelt sie sich im Charakter und wird einfühlsam, fleißig und liebenswert. So legt die Bearbeiterin der einst eingebildeten Prinzessin folgende Worte in den Mund, die im Grunde nichts anderes als der Ausdruck ihrer Reifung sind: „Schönheit und Reichtum werden vergehen, ein gutes Herz bleibt immer bestehen. Das hab ich früher nie gedacht. [...]. Jetzt seh‘ ich erst, wie dumm ich war“ (Leudesdorff 1980b: 31). Darstellung und Analyse 200 Eine gewisse Tendenz zur dynamischen Anlage der Figuren ist auch am Rumpelstilzchen von Doll/Fleckenstein erkennbar, insbesondere an der Figur des Königs. Als Figur ist er zunächst in enger Korrespondenz zum Müller angelegt, d.h. die beiden Figuren werden als moralisch angreifbar dargestellt: Der Müller, der unredlich handelt, wenn er dem König Fähigkeiten seiner Tochter vorspiegelt, die sie nicht besitzt und diese dabei durch seine Aufschneiderei in akute Lebensgefahr bringt, wie auch der goldgierige König, der die Müllerstochter skrupellos mit Todesdrohungen unter Druck setzt, sind am Anfang der Geschichte vergleichbar unsympathisch. Aber im Laufe des Stückes durchlaufen sie verschiedene Entwicklungen und werden dadurch zusätzlich unterschiedlich geprägt, denn während sich der Müller gar nicht weiterentwickelt und seinen Eigenheiten (Arroganz, Ãœberheblichkeit, Prahlerei) treu bleibt, wandelt sich der König zu einem sehr liebenswürdigen Charakter, der „fern von allem Gold seine Frau [...] lieb gewonnen hat“ (Doll/Fleckenstein 1978: 23). Zum Veränderbaren hierbei zählt die Namengebung der Figuren (s. Punkt 2 weiter oben). Bleiben die einzelnen Figuren im ursprünglichen Märchen der Grimms anonym, so haben sie nun in der Bühnenfassung einen Eigennamen. Damit werden sie teilweise individualisiert. Durch die Wahl des Namens lassen sich auch besondere Eigenschaften der Figuren ausdrücken. So wird ein Großteil der mit einem Namen versehenen Figuren mit so genannten „sprechenden“ Namen benannt, die ihre Charaktereigenschaften entblößen. Dadurch werden sie auch auktorial bewertet (Pfister 1997: 94). Vor allem Hofleute und Dienerfiguren tragen „sprechende“ Namen wie Haushofmeister von Schwerbegriff, Hofmarschall Bitterlich, Hofdame von Zungenspitz oder Knappe Kugelrund- Kerngesund – um nur einige Beispiele aus unserem Textkorpus zu nennen. Aber auch einige Hauptfiguren werden mit „sprechenden“ Namen versehen, so z.B. und Fridolin Leichtfuß. Der Vorname des Protagonisten aus Richters Das tapfere Schneiderlein verweist ganz deutlich auf einen der berühmtesten Gewerbsgesellen aus der deutschen Literatur, nämlich den fleißigen Kammacher Fridolin aus Gottfried Kellers Novelle Die drei gerechten Kammacher (1856). Im Ganzen betrachtet kennzeichnen solche Namen den Charakter der Figuren oder auch deren Handlungen; überhaupt definieren sie die Figuren schon vor ihrem ersten Auftritt und legen sie auf eine läppische Eigenschaft fest. Außerdem trägt die lustige Namengebung maßgeblich zur Komik der Figuren bei. 11) Motivation der Bühnenfiguren Untrennbar mit der Anlage der unterschiedlichen Figuren verbunden ist deren psychologisch motivierte Charakteristik, insbesondere der Protagonisten, und das z.T. durch individuelle Beweggründe. Ein Beispiel dafür bietet Leudesdorffs König Drosselbart. Darin entwirft die Darstellung und Analyse 201 Titelfigur zusammen mit dem Vaterkönig im Gegensatz zum Grimm-Märchen einen Plan: Der verstoßene Drosselbart, der sich trotz des Hochmuts und der Ungezogenheit der Prinzessin in sie verliebt, plant als angeblicher Bettelmann im Schloss aufzutauchen, um so das Mädchen zu fordern. Er will in Wirklichkeit der eingebildeten Königstochter „trotz allem helfen“ und „ihre Wildheit nur ein wenig zähmen“, denn er ist davon überzeugt, dass „ihre Spottsucht nicht aus einem bösen Herzen kommt“ (Leudesdorff 1980b: 9). Die Figur Drosselbarts hat hier also eine psychologische Motivation, er handelt nämlich aus Liebe. Eine ähnliche Motivation treibt auch König Heinrich von der Aue (so heißt der von der Königstochter verspottete König in König Drosselbart in der Bearbeitung von Doll und Fleckenstein) an. Auch ihr zuliebe will er der übermütigen Prinzessin Heidelinde eine Lehre erteilen. Und so entwickelt er zusammen mit zwei als orientalischen Prinzen verkleideten Musikern (Potz und Blitz) „einen prächtigen Plan“ (Doll/Fleckenstein 1966: 14), um den „stolzen Sinn [der Prinzessin] zu beugen“ und sie für ihren Hochmut zu strafen, mit dem sie ihn verspottet hat (Doll/Fleckenstein 1966: 38). Die Liebe spielt auch bei Thoenies Der Teufel mit den drei goldenen Haaren eine große Rolle. Die hinreißende Liebe des Müllerssohns (Findling) zu Prinzessin Tanjana kann eigentlich als Motor der ganzen Geschichte betrachtet werden. Als Findling der Pippi Langstrumpf- ähnlichen Prinzessin begegnet, ist es Liebe auf den ersten Blick (Thoenies 1998: 25f). Für sein Fitzli-Butzli (so nennt Findling die Prinzessin liebevoll) ist er fest entschlossen, durch die Hölle zu gehen und die drei goldenen Haare vom Kopf des Teufels zu holen: „Top, die Sache gilt, Ehrenwort. Handschlag, nix Königslohn. [...] Die da [...] krieg‘ ich! Keine Angst, Fitzli-Butzli, für uns schaff‘ ich das“ (Thoenies 1998: 32). Ein weiteres Beispiel für psychologisch plausible Motivation der Bühnenfiguren findet sich in Leudesdorffs Rumpelstilzchen. Entsprechend der Erwartung an die Motivation der Figuren wird hier der König als Materialist und korrupter Monarch dargestellt. Er nutzt die Müllerstochter einzig zum Zwecke des eigenen Profits aus und beutet sie demgemäß aus, wie folgende Textstelle aus der gedruckten Fassung belegt: „König: Du hast mit großer Freude mich erfüllt. Doch wirklich glücklich würdest du mich und mein Volk machen, wenn du noch eine Nacht eine noch größere Menge Stroh zu Gold verspinnen würdest [...]“ (Leudesdorff 1980a: 29). Das entgegengesetzte Beispiel kann an Bürkners Bühnenbearbeitung des gleichen Märchens illustriert werden. Dabei wird der Aspekt der Habgier des Königs nicht berücksichtigt. Bezeichnenderweise gewinnt hier die Figur des Königs dagegen moralische Merkmale, d.h. im deutlichen Kontrast zu Leudesdorff geht es dem König bei Bürkner vor allem darum, dem prahlerischen Müller Großwort eine Lektion zu erteilen und ihn zu lehren, wie falsch sein Handeln war. Das wird in Wahrheit zur Grundlage der Geschichte in der bürknerschen Bühnenbearbeitung. Gleichzeitig erfolgt eine Ausrichtung der Märchenhandlung auf Liebe. Im Darstellung und Analyse 202 Verhältnis zur erzählerischen Grimm-Vorlage (KHM 55) lässt der Bearbeiter den jungen heiratslustigen König dagegen aus Liebe agieren. So lässt er ihn im Gespräch mit der zur Königin gewordenen Müllerstochter sagen: „König: Dann hättest du mich nicht verloren, du wärest auch dann meine liebe Frau geworden. Ich hatte nur deinem prahlerischen Vater eine Lehre erteilen wollen. Auch in den Turm hätte ich ihn nicht geworfen. Er sollte nur durch große Angst von seinen Prahlereien geheilt werden [...]“ (Bürkner 2001b: 87). Ein letztes Beispiel für die möglichst umfassende Motivation des Grimmschen Märchenstoffs durch die Figuren bietet Richters Das tapfere Schneiderlein. Hier liegt die Motivation der Hauptfigur (Schneider Fridolin) in seiner Absicht, die Tochter des Königs (Prinzessin Rosenblüte) für sich zu gewinnen, auch wenn die Musfrau (Frau Brumm) die eigentlich treibende Kraft des ganzen Stückes ist. Angeregt durch Frau Brumms Erzählung über das Pflaumenbaumland und seine Menschen entscheidet Schneider Fridolin, auf Wanderschaft zu gehen: „[...] Ich gehe jetzt an den Königshof ins Pflaumenbaumland, besiege die Riesen, das Wildschwein und das Einhorn und heirate die Prinzessin!“ (Richter 1977: 21) 12) Verlagerung der ursprünglichen Handlungsfunktionen im Märchen Bei der Bearbeitung des Grimmschen Märchenstoffes ergeben sich Unterschiede im Bezug auf die Handlungsfunktionen der Märchenfiguren. Nicht nur Hauptfiguren, sondern auch Nebenfiguren bekommen eine neue Handlungsfunktion zugewiesen. Das ist besonders deutlich bei der Funktion des Auftraggebers und der Ratgeber- und Helferfunktion zu beobachten. Ein bemerkenswertes Beispiel für ersteren Fall findet sich in Richters Das tapfere Schneiderlein, das eine Verlagerung der märchenhaften Auftraggeberfunktion vom König auf die Königstochter aufweist. Dies führt dazu, dass hier anders als in der Märchenvorlage die Prinzessin diejenige ist, die darauf besteht, dass der Schneider mit einem gewaltigen Riesen (Muskelprotz) kämpft (Richter 1977: 41). Da diese aber am Ende des Kampfes die Heldentat nicht akzeptiert, schickt sie den Schneider erneut los, um das Einhorn und das Wildschwein zu fangen (Richter 1977: 62). Daneben fungiert die Musfrau (Frau Brumm) in Richters Märchenstück als Ratgeber und Helfer des Schneiders und nicht, wie im Grimmschen Märchen (KHM 20), der Waffenträger. Als weiteres Beispiel für die Verlagerung der märchenhaften Ratgeber- und Helferfunktion gilt Leudesdorffs Rumpelstilzchen. Während in der Grimm-Vorlage ein von der Königin beauftragter Bote den Helfer darstellt (KHM 55), übt in der Bühnenfassung die Figur des zuverlässigen Pagen Hans die helfende Funktion aus. Nicht nur unterstützt er die verzweifelte Müllerstochter, wenn sie in die Kammer mit Stroh eingesperrt wird (Leudesdorff 1980a: 27f.), sondern er überbringt ihr auch die gute Nachricht, ein hässliches und kleines Männchen mit dem Namen Rumpelstilzchen singend auf einem Bein gesehen zu haben (Leudesdorff 1980a: 67ff.). Darstellung und Analyse 203 Auf diese Weise ist der Page neben dem märchenhaften Helfer in der Not auch Bote. Dramaturgisch gesehen stellt diese Figur eine Besonderheit dar: Im Drama gewinnen Botenfiguren in der Regel kein eigenes Profil, da sie nur die Funktion erfüllen, eine Nachricht zu überbringen. Sie übermitteln, was an entfernten Orten passiert ist und auf die dargestellte Dramenhandlung unmittelbaren Einfluss hat. Als Funktionsfiguren werden sie damit „nur wegen ihrer Funktion für die Informationsvermittlung ins Drama eingeführt“ (Platz-Waury 1999: 98). Im Vergleich dazu zeigt der dramatisierte Märchenbote bei Leudesdorff aber auch Ansätze von Eigentümlichkeiten, da er sich ja, wie gesehen, auch als Helfer engagiert. Diesbezüglich ist außerdem darauf hinzuweisen, dass die Bearbeiterin dem zuverlässigen Pagen auch noch einen Mithelfer (Müller Großwort) und einen Ratgeber (Eule Rategut) an die Seite stellt, sodass die Funktion des Helfers erweitert wird, d.h. sie wird nicht nur von einer einzelnen Figur, sondern von einem Figurensystem verkörpert. Anstelle einer individuellen Tat tritt somit eine kollektive. Ähnliches geschieht auch in Bortfeldts Aschenputtel: Hier fungiert neben der guten Baumfee Haselnuß eine ganze Tiergruppe als weitere Helfer (Bortfeldt o.J.: 55 u. 57f.). Auch bei Wanderschecks Aschenputtel stellen die Waldtiere (der goldene Vogel, der Hase Bambus und das Reh Bambi), entweder individuell oder als Kollektiv, die märchenhafte Funktion des Helfers dar, indem sie der Protagonistin zur Seite stehen: Sie beschützen das Aschenputtel Elfi und geben ihr wohlmeinende Ratschläge. Ãœberhaupt bilden die Waldtiere im Märchenstück ein vereinigtes Kollektiv, das sich nicht nur solidarisch für die gemeinsame Sache einsetzt, sondern auch für eine gruppenbildende und solidarische Lösung des Konflikts. Im Stück haben wir es also mit einem Miteinander und einer gemeinsamen Problemlösung zu tun. 13) Tendenz zur Wahrscheinlichkeit Die Märchenstücke unseres Korpus weisen zahlreiche Elemente auf, die zur Unwahrscheinlichkeit der auf der Bühne dargestellten Handlung und ihrer Figuren beitragen. Dazu gehören neben der Durchbrechung der dramatischen Einheit durch häufigen Ortswechsel, lockeres Handlungsgefüge und einen großzügigen Umgang mit der Zeit auch die Verwendung eines sich auktorial verhaltenden Erzählers auf der Bühne, das Vorhandensein von Wiederholungen und mythisch-märchenhaften Elementen (Fabelwesen, wunderbare Gegenstände und Jenseitswesen), ebenso wie die durch neue Figuren, Proben und Zaubermittel dramatisch zugespitzten fabelhaften Elemente, die in der Grimmschen Märchenvorlage gar nicht vorkommen. Bühnenbearbeiter machen sich bestimmte Kunstgriffe zunutze, um die darzustellende Handlung plausibel erscheinen zu lassen und damit die Wahrscheinlichkeit zu fundieren (s.o.). Darstellung und Analyse 204 Im Folgenden werden solche Kunstgriffe noch einmal aufgelistet, wobei jedem einzelnen eine hypothetische Funktion zugewiesen wird: a) Einbau von Bildern bzw. Szenen, deren textliche Grundlage zwar oft nicht durch das ursprüngliche Grimm-Märchen abgedeckt wird, aber die den Anschein von Alltäglichkeit vorgeben. Dadurch werden Voraussetzungen für die Einfühlung des Zuschauers in das Bühnengeschehen geschaffen, d.h. das Kinderpublikum erkennt in der dargestellten Handlung eigene Alltagserfahrungen wieder. So setzt das Autorenduo Görner/Zimmermann in der Exposition von Aschenbrödel eine häusliche Szene im Hause des Barons von Montecontecuculorum (dem Vater Aschenbrödels) ein. Darin führen die einzelnen Figuren häusliche Tätigkeiten vor (Aschenbrödel beim Staubwischen und Putzen, die Morgentoilette der Stiefschwestern, das Vorbereiten des Frühstücks usw.), die die Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit der Bühnenhandlung unterstreichen (Görner/Zimmermann 1962: 1f.). Und so setzt auch Leudesdorff ins dritte Bild ihres König Drosselbart eine traditionelle Weihnachtsszene ein. Hier wird der Ablauf adventlicher Betriebsamkeit auf dem Weihnachtsmarkt einer verschneiten Stadt vorgeführt: [...] Halbschräg nach rechts hinten lehnt sich der Lebkuchenstand an den Häuserblock an. [...] Daneben, nach schräg rechts vorn, ein kleiner Stand mit Tannenbäumen und noch weiter nach vorn ein Spielwarenstand mit aufklappbaren Läden. [...] Die einzelnen Verkaufsstände haben kleine Lampen. Bevor der Vorhang aufgeht, hört man Jahrmarktstrubel, Leierkastenmusik und Anpreisen der Waren. Kinderjubel [...]. (Leudesdorff 1980b: 23) Damit erhält die Szene den Anschein einer realistischen Darbietung, die der Glaubwürdigkeit des Illusionstheaters keinen Abbruch tut. b) Verwendung von Situationskomik in Verbindung mit Wahrscheinlichkeit: Durch komische Momente (u.a. Verstellungen und Verwechslungsszenen) wird die Geschichte auf der Bühne wahrscheinlich. Als Beispiel dafür gilt Bortfeldts Aschenputtel. Dabei wird das Grimmsche Ausgangsmärchen durch zahlreiche komische Episoden verarbeitet. Dazu zählen u.v.a. die eingeschobenen Verwechslungsepisoden im ersten und vierten Bild (Bortfeldt o.J.: 31f. u. 93ff.). c) Neue Themen und Motive mit höherer Wahrscheinlichkeit, etwa Schuld- oder Liebesmotive, so wie wir es z.B. in Leudesdorffs König Drosselbart und in den jeweiligen Dornröschen-Adaptionen durch Bürkner und Richter vorfinden. Für diese Darstellung und Analyse 205 Märchenstücke gilt, dass innere, sittliche Entscheidungen auf den Verlauf der dramatischen Handlung einwirken, also Peripetien bewirken. Dadurch wird nicht nur das Zufällige des Grimmschen Ausgangsmärchens gemildert, sondern auch die Glaubwürdigkeit des Dargestellten unterstrichen. Bei Leudesdorffs König Drosselbart kommt noch dazu, dass der zufälligen Begegnung des Märchen-Ehepaares entgegengewirkt wird. Im Vergleich zum ursprünglichen Drosselbart-Märchen (KHM 52) behandelt die Bühnenfassung ein Liebesmotiv: Der Prinzessin zuliebe entwirft der verstoßene Drosselbart zusammen mit dem Vaterkönig einen Plan, taucht dann als angeblicher Spielmann auf und nimmt das Mädchen mit zu seiner Waldhütte (Leudesdorff 1980b: 9ff.). Bei den verschiedenen Dornröschen-Adaptionen erscheint die Schuldfrage, also die Frage nach der Möglichkeit individueller Schuld, als besonders relevant. Um bei den o.g. Beispielen zu bleiben: Bei Bürkner wird dem Koch Verantwortung und Schuld aufgetragen und zwar durch das gut eingefügte Motiv der verschlossenen Kammertür, das sich aus der Beschaffenheit der Figur ergibt. Die Prinzessin sticht sich an der verzauberten Spindel wegen der Vergesslichkeit des Kochs (Bürkner 2001a: 63). Bei Richter ist es wiederum der König, der die Verantwortung trägt, d.h. er ist schuld am Unglück seiner Tochter und nicht sie selbst. Der König ist nämlich derjenige, der die dreizehnte Fee auf den Rat des Ministers nicht zum Fest einlädt: König: Ach was! Die alte, garstige Fee Stacheline wohnt so weit weg von diesem Schloss in einer wilden Felsengrotte, dass sie gar nichts von diesem Fest hören wird, also kann sie es auch nicht übelnehmen, wenn wir sie nicht einladen. So wird‘s gemacht – fertig und Punktum! (Richter 1981: 24) d) Das Hinzufügen neuer Figuren als Stifter von Handlungen, die die Wahrscheinlichkeit der dramatischen Handlung erhöhen. e) Der Gebrauch von Parallelismen unter den handelnden Figuren, die der Geschichte auf der Bühne Glaubwürdigkeit verleihen. Dies geschieht vor allem durch die Gestaltung von Korrespondenz- und Kontrastrelationen (Pfister 1997: 227ff. u. 263f.) innerhalb der einzelnen Figuren. f) Die Verlagerung der märchenhaften Funktionen einzelner Figuren. Dadurch wird dem Wunderbaren und damit der Unwahrscheinlichkeit der Grimmschen Grundhandlung entgegengewirkt. Das ist z.B. an der Figur des Kochs in Bürkners Dornröschen erkennbar. Hier verursacht (wie oben erwähnt) die Vergesslichkeit des Kochs, dass sich die Prinzessin an ihrem 15. Lebensjahr sticht. Der Stich an der verzauberten Spindel führt dann zu ihrem hundertjährigen Zauberschlaf mit allen Bewohnern des Schlosses. Darstellung und Analyse 206 Das Ominöse der Erfüllung der Prophezeiung wird so durch die geistige Einschränkung des Kochs verdrängt. 3.4.1.3 Anwendung epischer Darstellungsmittel Die Tendenz zur Verwendung von Darstellungsmitteln, die als „episch“ bezeichnet werden können, charakterisiert eine Vielzahl der im Korpus versammelten Märchenstücke. Geradezu eine Besonderheit der meisten als „traditionell“ einzustufenden Stücke ist der Einsatz von Erzählerfiguren, die in prologähnlichen Szenen, in Zwischenreflexionen und z.T. auch in Epilogen auftauchen. Meist handelt es sich dabei um narrative, an der Handlung nicht beteiligte Stimmen, die die dramatische Handlung kommentierend begleiten und damit das Stück an die Grenze der dramatischen und epischen Gattung bringen. Aber es können auch Figuren sein, die in unmittelbarer Verbindung zum Handlungsgeschehen stehen und einzelne dazugehörende Ereignisse kommentieren. Weitere epische Züge bei den Stücken ergeben sich auch aus dem Einbezug von Liedern und Tanz sowie aus dem Einbau von prologartigen Szenen. Die genannten Mittel sind als „undramatische“ Elemente zu bezeichnen, die als solche dazu beitragen, das Artifizielle der dramatischen und theatralischen Konventionen hervorzuheben. 1) Einbau von Eingangsszenen Auf der Handlungsebene ist bei manchen Bühnenbearbeitern der Einbau von Eingangsszenen festzuhalten, d.h. das Vorhandensein einleitender Szenen zu Beginn des Stückes. Im typischen Fall zeichnen sich diese einleitenden Szenen durch ihren monologischen Charakter aus; also lassen sie sich mit dem „epischen Monolog“ (Wilpert 1979: 521) oder dem „Expositionsmonolog“ (Pfister 1997: 191) gleichsetzen. In diesem Sinne dienen sie sowohl der Erläuterung von Ereignissen, die sich vor der Bühnenhandlung zugetragen haben, als auch der Ankündigung kommender Ereignisse. Der Eingriff erinnert deutlich an den Prolog der antiken Dramentradition, der in seiner besonders für die Komödie charakteristisch separaten Form als ein Vortrag ans Publikum gedacht war (Asmuth 1984: 82 u. 102), sowie an das im Laufe der europäischen Theater- und Dramengeschichte mehrfach verwendete Vorspiel (Haberkamm 2007: 808f.). Eine solche Einrahmung der Stückhandlung nimmt durchaus eine besondere Rolle ein, insofern hier häufig eine der handelnden Figuren oder aber eine der eigentlichen Bühnenhandlung enthobene auktoriale Figur die kindlichen Zuschauer anspricht, um sie direkt und gezielt in den Handlungszusammenhang einzuführen (Näheres hierzu s. unter dem nachstehenden Punkt). In unserem Stücktextkorpus lassen sich an Eingangsszenen diverse Erscheinungsformen unterscheiden, die wiederum nach ihrem strukturellen Aufbau und ihrer Funktion in Darstellung und Analyse 207 verschiedene Arten und Formen unterteilt werden können. Nach dem strukturellen Aufbau ist zwischen „handlungsrahmenden“ und „handlungsgliedernden“ Eingangsszenen zu differenzieren. Beide Formen unterscheiden sich durch ihren unterschiedlichen Handlungsbezug, indem in Ersteren die Handlung auf übergeordneter Ebene verortet wird, während in Letzteren die persönliche oder geschichtliche Vor- oder (bei Rückblenden) Nachhandlung in expositorischer Absicht abgesondert wird (Haberkamm 2007: 809). Nach der Funktion lassen sich die in den Märchenstücken des Korpus vorkommenden Eingangsszenen in zwei Arten unterteilen: die Eingangsszenen informierender oder expositorischer Art und die als Publikumsbegrüßung und -einstimmung dienenden Eingangsszenen. Im Extremfall kann es dabei sogar zu einer Einleitungsszene kommen, in der der Stückinhalt episch vermittelt wird. Eine solche Eingangsszene übernimmt dann Funktionen, die beispielsweise im antiken Drama vom Chor erfüllt wurden. Auf einige konkrete Beispiele hierzu wird in den folgenden Abschnitten eingegangen. Als Beispiel für eine „handlungsgliedernde“ Eingangsszene gilt die Eröffnungsszene bei Richters Dornröschen. Dem Märchenstück wird ein langes Vorspiel mit Expositionscharakter hinzugefügt (Richter 1981: 1ff.). Dabei erscheint die aus dem Grimmschen Märchen übernommene Figur des Kochs – im Stück übrigens mit dem Namen Balduin versehen – und nimmt Kontakt mit den zuschauenden Kindern auf. Er selbst gibt in einem Monolog Informationen über sich preis136 und erklärt, dass er ein großes Festessen vorbereiten soll. Im Schloss wird nämlich Hochzeit gefeiert: Prinzessin Dornröschen und Prinz Heinrich aus dem Blumenland heiraten, denn Dornröschen ist wach geküsst und aus ihrem hundertjährigen Schlaf vom Prinzen erlöst worden, und mit ihr alle anderen dazu. Anschließend nimmt Koch Balduin sich vor, dem Kinderpublikum die Geschichte von Dornröschen zu „erzählen, ganz genau und in allen Einzelheiten“ (Richter 1981: 3). Damit beginnt die eigentliche Bühnenhandlung, die aus der Gegenwart in die Vergangenheit, also über hundert Jahre zurückblendet und zwar in eine Zeit, in der Balduin als Küchenmeister im Dornröschenschloss eingestellt wurde (Richter 1981: 5ff.). Der Ãœbergang aus der Gegenwart in die erinnerte Vergangenheit ist dabei markiert durch einen Kommentar Balduins, der als Ich-Erzähler rückblickend über etwas berichtet, was er selbst erlebt hat und das Erlebte reflektiert: „Also, das war vor vielen, vielen Jahren, da war ich auf der Wanderschaft. Und auf meinen langen, langen Wanderwegen kam ich auch eines Tages in ein Schloss“ (Richter 1981: 3). Im Stückausgang wird die Handlung wieder in die Gegenwart zurückgeholt und gezeigt, wie Dornröschen dem Prinzen zur Frau gegeben wird. Ein solcher Aufbau, also der Kreislauf aus der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück in die Gegenwart lässt erkennen, dass der Anfang des Stückes eigentlich schon der Schluss ist, 136 Die Selbstvorstellung Balduins fungiert in diesem Monolog als expliziter Eigenkommentar. Dramentechnisch gesehen zieht Richter hier somit eine explizit-figurale Charakterisierung (Pfister 1997: 251) vor. Darstellung und Analyse 208 nämlich das Ende eines dem Beginn des Schauspiels vorausgehenden Geschehens, das es im Verlaufe des gesamten Stückes „aufzudecken“ gilt. Ebenso wie Richters Märchenstück, geht auch der Dornröschen-Bearbeitung durch Bürkner eine als „Einführung“ bezeichnete Eingangsszene voraus. Darin tritt mit dem letzten Takt des Volksliedes „Trara, die Post ist da!“ die gegenüber dem Grimmschen Märchen völlig neue Figur des Märchenpostillions auf und spricht das Kinderpublikum an (Bürkner 2001a: 5f.). Doch handelt es sich bei Richter um ein handlungsgliederndes Vorspiel (Koch Balduin nimmt sich als Handlungsfigur nämlich vor, eigenes Erleben weiterzugeben), so haben wir es hier hingegen mit einer handlungsrahmenden Eingangsszene zu tun, die als solche mit der eigentlichen Bühnenhandlung nicht verbunden ist. Vielmehr erscheint die Szene als ein von der Handlung abgesonderter epischer Bestandteil. Dabei beschränkt sich die von Bürkner als spielextern konzipierte Figur (Pfister 1997: 109) des Märchenpostillions darauf, nach einer kurzen Publikumsbegrüßung die kindlichen Zuschauer durch fröhliche Ansprache in eine märchenhafte Stimmung zu versetzen, um sie darauffolgend ins „Märchenland“ zu „führen“. Insofern lässt Bürkner ihn folgendermaßen sprechen: „Merkt ihr, dass wir schon losgefahren sind? Wir nähern uns ganz, ganz schnell dem Märchenlande, – und dort wollen wir heute Dornröschen besuchen...“ (Bürkner 2001a: 5). Das gleiche Verfahren gilt auch für die der eigentlichen Bühnenhandlung vorgelagerte und deutlich markierte „Einführung“ im Märchenstück Rumpelstilzchen (Bürkner 2001b: 5f.). (Außer den hier genannten Aufgaben des Märchenpostillions werden weitere wichtige Auswirkungen der Zweiheit der Figur auch im nachfolgenden Punkt 2 angeführt). Vorspielcharakter hat auch die Eingangsszene zu Wanderschecks Aschenputtel. Im Vergleich zu den zwei oben genannten Beispielen wird diese einleitende Szene nicht monologisch, sondern rein gesungen angelegt, d.h. sie wird von dem Hauptteil durch einen längeren Gesang eines Chors getrennt. So tritt gleich zu Beginn des Stückes ein auch in der inneren Spielebene agierender Taubenchor vor dem Zwischenvorhang auf und singt ein Lied, das das künftige Bühnengeschehen gerafft einleitet. Im Verlauf des Lieds spricht der Chor das Kinderpublikum direkt an, hält also lyrische Zwiesprache mit ihm, indem er über das traurige Schicksal der Hauptfigur (Aschenputtel) spricht. Darin erfolgt auch deren Charakterisierung, wobei seine Lebenstraurigkeit zum Ausdruck gebracht wird: LIED DER TAUBEN: (im Chor gesprochen) Gurre di gu, gurre di gu, liebe Kinder, hört uns gut zu, dort hinten im Wald steht ein Haus, da fliegen wir lustig ein und aus, dort wohnt Aschenputtel, das schöne Kind, das ihr lieben lernt geschwind. Gurre di gu, gurre di gu, Darstellung und Analyse 209 seid still und schaut gut zu, denn viel Unrecht wird dem Kind geschehn, es muss in schmutzigen Kleidern gehn, an der Mutter Grab, da kniet es nieder, weint sich rot die Augenlider. Gurre di gu, gurre di gu, kommen die Tiere des Waldes dazu, fasst Aschenputtel neuen Mut alles Herzeleid wird wieder gut und ihre Sorgen fliegen fort, wir aber bleiben in ihrer Nähe, am sicheren Ort. (Wanderscheck o.J.: 2) Auch in König Drosselbart schicken Doll und Fleckenstein eine gesungene, lyrische Einleitung voraus, deren erste Strophe lautet: Der König hat ‘ne schöne Tochter Das ist ein Sorgenkind. Er sucht für sie schon lang ‘nen Freier, doch keiner sie gewinnt. Sie weist sie alle von sich, ob König oder Graf, doch wissen wir ja, liebe Kinder, auf Hochmut folgt die Straf‘. (Doll/Fleckenstein 1966: 3) Das von den beiden erfundenen Figuren Potz und Blitz nach der Melodie der Ballade „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ gesungene Lied bringt nicht nur einen Teil des Stückinhalts nach Brechtscher Manier zum Ausdruck. Dabei wird auch, und das ist das Auffällige, auf die Motivation der beiden Musikanten als handelnde Figuren eingegangen. Als orientalische Prinzen verkleidet wollen sie der stolzen und hochmütigen Prinzessin Heidelinde einen Streich spielen, daneben auch richtig königlich essen und trinken: Wir werden unser Glück versuchen, mit diesem Königskind, es soll erfahren, will es uns freien, wer wir in Wahrheit sind. […] Wenn wir uns richtig satt gegessen, trunken goldnen Wein, dann singen wir: Mach‘s gut, Prinzessin, es hatt‘ nicht sollen sein. (Doll/Fleckenstein 1966: 3) Nicht alle vorangestellten Eingangsszenen haben allerdings die Vermittlung eines Teils oder des gesamten Stückinhalts zum Gegenstand, so wie bei den hier aufgeführten Beispielen. Wie oben schon angedeutet, dienen sie vielmehr dazu, das Kinderpublikum in eine fröhliche, Darstellung und Analyse 210 unterhaltsame Stimmung zu versetzen. Daneben tragen solche einleitenden Szenen zur Spannungserzeugung im dramaturgischen Handlungsaufbau bei, indem sie Wissen sowohl vermitteln als auch vorenthalten. Tendenziell muss nun eher von Publikumsbegrüßungen und -einstimmungen die Rede sein, so wie es in Dornröschen und Rumpelstilzchen in der Bearbeitung durch Bürkner der Fall ist. Als weiteres Beispiel dafür lässt sich auch Bortfeldts Aschenputtel-Bühnenbearbeitung nennen. Auch hier gibt es ein dem Bühnenstück vorangestelltes kleines Spiel: Statt gleich mit der Grimmschen Märchenfabel zu beginnen, stellt der Bearbeiter der eigentlichen Bühnenhandlung eine kurze Eröffnungsszene voran, in der eine spielerische Verfolgung zwischen zwei sprechenden Tieren (Katze Kritzekratze und Mäuschen Piep) durch den Zuschauerraum dargestellt wird, bis sie dann auf die Bühne kommen und Kontakt mit dem Publikum aufnehmen (Bortfeldt o.J.: 1f.). Dabei animieren die beiden Tierfiguren die zuschauenden Kinder zum Mitrufen, „damit der Märchenvorhang aus seinem Schlaf erwacht“ (Bortfeldt o.J.: 2). Erst nach dem Sprechen der Worte „Vorhang, hör, wir bitten dich, öffne, öffne, öffne, dich!“ beginnt die eigentliche Bühnenhandlung. Auffällig bei dieser prologähnlichen Szene ist es, dass hier im Vergleich zu Bürkners Bühnenstücken nicht auf das Stilmittel der monologischen Rede zurückgegriffen wird. Stattdessen wird die ganze Szene in Dialogform darlegt. Da insofern keine sprachliche narrative Darstellung geschieht, wird auch zur Einfühlung eingeladen. Anders als vielleicht erwartet, sind die oft in den Bühnenstücken unseres Korpus anzutreffenden Vorspiele bzw. Einführungen nicht als Vorgeschichte der dramatischen Handlung konzipiert, wie wir es z.B. von mehreren Dramen, besonders von der griechischen Tragödie (Aischylos, Sophokles, Euripides) kennen. Im Unterschied dazu scheint es bei den uns vorliegenden Märchenstücken so zu sein, dass die Bearbeiter auf die Vorgeschichte verzichten können. Als Grund dafür kann angegeben werden, dass die Zuschauer weder mit dem Märchenstoff vertraut gemacht noch auf die Handlungsträger vorbereitet werden müssen, d.h. man geht davon aus, dass die zuschauenden Kinder die Geschichte bereits aus dem Grimmschen Märchen kennen. Dies muss allerdings präzisiert werden. Denn trotz solcher „thematische[n] Vorinformation“ (Pfister 1997: 70) aus dem Rückbezug der Märchenstücke auf Grimmsche Märchen, die beim Kinderpublikum als bekannt vorausgesetzt werden, lässt sich an einigen wenigen Stücken des Korpus beobachten, dass die Vorgeschichte in zwar mehr oder weniger eingängiger Weise, immer aber in einem für das Verständnis hinreichenden Maße rekapituliert wird. Wenn Bühnenbearbeiter auf die Vorgeschichte hinweisen, dann wird diese kurzgefasst, z.B. im Figurengespräch – so in Bürkners Dornröschen (2001a: 9), Bortfeldts Aschenputtel (o.J: 6), Görners/Zimmermanns Aschenbrödel (1962: 6) und in König Drosselbart (1966: 4) in der Bearbeitung von Doll/Fleckenstein. Oder aber diese wird in einem „informierenden Monolog“ (Pfister 1997: 191) wiedergegeben, etwa in Wanderschecks Aschenputtel (o.J.: 4). Auf jeden Darstellung und Analyse 211 Fall wird dabei in erster Linie auf das Erreichen einer Wahrscheinlichkeit gezielt, sowie darauf, dem Publikum bestimmte Handlungen und Sachverhalte zur Kenntnis zu bringen. Zwei Beispiele mögen solche entgegengesetzten Möglichkeiten veranschaulichen: Bei Wanderschecks Aschenputtel wird eine Episode der Geschichte des Grimmschen Ausgangsmärchens (KHM 21) während der Bühnenhandlung „nachgeholt“, und zwar in einem Monolog bzw. einer Apostrophe der weiblichen Hauptfigur vermittelt: Aschenputtel: Ach, liebe Mutter, warum bist du so früh von mir weggegangen? Jetzt, wo sich der gute Vater eine neue Frau genommen hat, muss ich in der Asche sitzen. Die böse Stiefmutter und ihre beiden Töchter verspotten mich. Liebes Mütterlein, was fange ich nur an? Den ganzen Tag muss ich den Fußboden scheuern und Linsen aus der Asche lesen. Die Stiefmutter hat mir dieses Lumpenkleid gegeben [...]. (Wanderscheck o.J: 4) Dadurch wird das Publikum nicht nur mit dem Zusammenhang des Vorhergehenden bekannt gemacht, sondern auch ein wichtiger Teil des Grimmschen Märcheninhalts aufgearbeitet, ohne sich in hohem Maße störend auf den Gang der auf der Bühne zu präsentierenden Handlung auszuwirken. In ihrer Aschenbrödel-Bearbeitung lassen Görner und Zimmermann hingegen im Gespräch zwischen der Protagonistin und dem als altem Bettler verkleideten Zauberlehrling Syfax die Bühnenhandlung in die Vorgeschichte hinein erweitern: Bettler: [...] Was hast du deiner Stiefmutter und ihren Töchtern getan, dass sie so bös zu dir sind? Asch.: Ich weiss es nicht. Als mein Mütterlein starb, deckte der Schnee ein weisses Tüchlein auf sein Grab und als die Sonne im Frühling das Tüchlein wieder weggezogen hatte, nahm der Vater eine andere Frau. Die ließ ihre bösen Launen an mir aus, die Stiefschwestern nahmen mir die schönen Kleider und ich musste mich in diesem grauen Kittel in die Asche setzen, und nun heiße ich nicht mehr Rosa sondern Aschenbrödel. (Görner /Zimmermann 1962: 5) Das gilt auch für Bürkners Dornröschen. Schon zu Beginn des Stückes spricht das Königspaar vom schlimmen Wunsch der bösen Fee bei Dornröschens Taufe: König: Ja, morgen Mittag 12 Uhr, mit dem Glockenschlag ist die Zeit abgelaufen, in welcher der schlimme Wunsch der bösen Fee dem lieben Röschen und uns allen schaden kann. In Röschens fünfzehntem Lebensjahre, so hatte die böse Fee verheißen, solle das Kind sich an einer Spindel stechen und in einen hundertjährigen Schlaf versinken. Königin: O diese böse, böse Fee! Aus Ärger und Wut, weil wir vergessen hatten, sie zu Röschens Taufe einzuladen, hat sie ihre schreckliche Drohung ausgesprochen. Aber du hast ja alle Spinnräder und Spindeln Darstellung und Analyse 212 aus unserem Lande entfernen lassen, sodass sich Röschen ja gar nicht stechen kann. (Bürkner 2001a: 9) Da Bürkner sein Märchenstück mit diesem Dialog beginnen lässt, ist dem Publikum gleich zu Beginn der Handlung die Information über alles, was sich in der Vergangenheit ereignet hat, zur Hand. Dies ermöglicht dem Bearbeiter in der Tat eine ökonomisch raffende Darstellung des ersten Teils der Märchenhandlung, was auch die stoffliche Konzentration auf das Wesentliche, also die entscheidende Krisenphase, bedeutet. Bei Bürkner setzt insofern die Handlung in der kritischen Phase der Grimmschen Geschichte ein und beschränkt sich somit auf das Endstück Stückende, genau wie beim so genannten „analytischen“ Drama (Asmuth 1984: 131ff.; Platz- Waury 1999: 113f.). Das führt uns zu einem weiteren Aspekt, der in Zusammenhang mit den Eingriffen in die Grimmsche Grundhandlung seitens der Bearbeiter steht, also dem Weglassen einzelner Märchenteile (s. 3.4.1.2, darin Punkt 1). 2) Vorhandensein von Erzählerfiguren Episch-narrative Texte zeichnen sich durch die Anwesenheit einer Vermittlungsinstanz aus: den Erzähler (Stanzel 1991: 15). Im erzählenden Text nimmt der Erzähler eine bedeutende Rolle ein. Als fiktionale vermittelnde Instanz fungiert er zwischen dem Rezipienten und den vor ihm dargebotenen Vorgängen. Der mittelbaren Erzählung steht das unmittelbare Drama gegenüber. Ein für das Drama im Wesentlichen konstitutives Merkmal ist nämlich das Fehlen der Erzählerfunktion: Das Drama ist nicht durch eine vermittelnde Instanz bestimmt, vielmehr wirkt es durch die Sprachhandlungen der Figuren (Pfister 1997: 20f.). Im erzählenden Text kommen die Figuren (in Form der wörtlichen Rede) und der Autor bzw. der von ihm geschaffene fiktive Erzähler gleichermaßen zu Wort, im dramatischen Text hingegen nur die handelnden Personen, d.h. die vom Autor des Dramas gestalteten Figuren (Szondi 1963: 15). Unter diesem Gesichtspunkt zeichnet sich das Drama durch den Dialog der Figuren oder allgemeiner – unter Einbeziehung von Monolog – durch die Figurenrede aus. Der Vollständigkeit halber sei allerdings darauf hingewiesen, dass es auch Dramen gibt, die die Abwesenheit einer vermittelnden Erzählfunktion – wie sie in narrativen Texten üblich ist – zu kompensieren versuchen und dabei „steuernde und urteilende Äußerungen eines Erzählers“ (Asmuth 1984: 54) in das Spiel einfügen. Formal gesehen wird also im Stück eine Erzählerfigur eingesetzt. Der Dramatiker nähert so den dramatischen Text an die Erzählung an, d.h. er verlässt die dramatische Darstellungsform des Dramas und gleicht sich einer epischen Darstellung an. Damit wenden wir uns dem Vorhandensein von Erzählinstanzen zu. Dabei geht es hauptsächlich um Figuren, die sich deutlich als „explizite Erzähler“ (Schmid 2008: 72) zu erkennen geben, indem sie außerhalb der Bühnenhandlung zu Worte kommen. Innerhalb Darstellung und Analyse 213 unseres Korpus lassen sich zwei verschiedene Varianten voneinander unterscheiden, je nachdem, ob a) der Erzähler vom Bühnenbearbeiter neu eingeführt und analog dem allwissenden, d.h. dem „auktorialen Erzähler“ (Stanzel) bzw. „heterodiegetischen Erzähler“ (Genette) im narrativen Text aufgebaut wird,137 b) oder dieser im Gegensatz dazu aus der Perspektive einer bereits in der Märchenvorlage enthaltenen Figur gestaltet wird, die auch als „auktorialer“ bzw. „Ich-Erzähler“ auftritt. Formal unterscheiden sich die beiden Varianten dadurch, dass Letztere sich als Figur innerhalb der fiktiven Welt der Bühnenhandlung befindet, d.h. ständig als handelnde Figur im Stück auftritt und somit als spielinterne Figur agiert (Pfister 1997: 112), während die erstgenannte Variante außerhalb und über der dramatischen Handlung steht und über den Ablauf der Handlung verfügt. Als spielexterne Figur (Pfister 1997: 109) schweift sie dann vom Bühnengeschehen ab und lenkt dabei die Geschicke der verschiedenen Figuren. Die Gestaltung eines „auktorialen Erzählers“ auf der Bühne stellt das weitgehendste epische Mittel dar, da es die dramatische Handlung als bebilderte Erzählung erscheinen lässt, wobei die Trennung von Erzähler und Erzählgegenstand betont wird, z.B. durch eine andere Sprache oder eine andere Haltung. Die Verwendung von solchen der Erzählung verwandten Figuren in den Märchenstücken unseres Korpus setzt insofern voraus, dass mit dem Aufbau der dramatischen Darstellungsform strukturell gebrochen wird und folglich, da sie verfremdend und illusionsbrechend wirken, zur epischen Form des Dramas gegriffen wird. Beide Erzählervarianten übernehmen ähnliche Funktionen. Schon weiter oben (s. 3.4.1.1, darin Punkt 3 u. 4) ist darauf hingewiesen worden, dass solche Figuren als verknüpfende Elemente zu verstehen sind, d.h. zum einen werden sie dazu eingesetzt, die häufigen Zeitsprünge und Ortswechsel innerhalb der aus dem Märchen entnommenen Handlung zu erleichtern bzw. zu überbrücken. Zum anderen haben sie eine verbindende Funktion, indem sie dem Zusammenhalt der gesamten Handlung dienen. Durch ihr Eingreifen werden die notwendigen Verbindungen zwischen den einzelnen Bildern bzw. Szenen hergestellt und damit die Erwartung einer einheitlichen Handlung erfüllt. Ein solches Bindemittel innerhalb unseres Korpus lässt sich u.a. in den Adaptionen von Bearbeitern wie Gruber, Bürkner, Weth, Richter und Bortfeldt finden. Allen gemeinsam ist, dass die Geschichte durch eine solche Erzählerfigur „erzählt“ wird, die, wie im vorstehenden Punkt 1 beschrieben, mit einem Vorspiel oder einer „Einführung“ das Bühnengeschehen 137 In einem erzählenden Text befindet sich dieser Erzählertyp nicht in der gleichen (fiktiven) Welt wie die Erzählung, d.h. er steht über der erzählten Welt, daher dem Autor näher („auktorial“), und kommentiert als Autorität die fiktionale Welt (Genette 1998: 33). Als Gegenbegriff dazu gilt der so genannte „homodiegetische Erzähler“, der sich als (Neben-)Figur innerhalb der fiktiven Welt seiner Erzählung befindet (Genette 1998: 33ff.). Darstellung und Analyse 214 eröffnet und damit das Spiel einleitet. Im Laufe des Stückes tritt diese Figur dann immer wieder auf – und zwar zwischen den Szenen – und wendet sich in einem Selbstgespräch an das Kinderpublikum. Dabei wird über Vergangenes berichtet, indem die dramatische Handlung kurz zusammengefasst oder aber aus eigener Perspektive kommentiert wird. Daneben werden auch zukünftige Ereignisse angekündigt und auf der Bühne nicht dargestellte oder nicht darstellbare Vorgänge mitgeteilt. Insofern nimmt eine solche Figur als „Märchenpostillion“ (Bürkner: Dornröschen, Rumpelstilzchen), „Märchenerzähler“ (Weth: Aschenputtel), „Ansager“ (Gruber: Der Teufel mit den drei goldenen Haaren) oder unter ähnlichen Namen die Rolle eines Vermittlers zwischen Bühne und Zuschauerraum ein, so wie wir es für das epische Theater kennen (Kesting 1978: 48f.). Am stärksten ist das Verfahren, eine Figur als Erzähler der Handlung einzusetzen, in Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren zu beobachten. Gleich zu Beginn des Stückes erscheint ein sich auktorial verhaltender Erzähler: der Ansager, der sich dem Kinderpublikum zuwendet und in Brechtscher Manier das Spiel einleitet – und es gleichzeitig inszenieren lässt: Ansager: [...] Ihr Kinder und Leute! Ihr werdet‘s erfahren. Wir zeigen euch heute: Das Märchen vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. (Es ertönt ein Tusch. Die beiden Mitspieler ziehen den Vorhang auf. Aus einer Spiellandschaft fährt ein Mobil, bunt bemalt, vollgestopft mit Requisiten und verblüffend verwandlungsfähig. Die anderen Mitspieler sitzen darin und darauf und machen Musik.) (Gruber 1977: 2) Grubers Ansager ist insofern Erzähler und Regisseur zugleich. Als Erzähler kommentiert und reflektiert er aus seiner eigenen Perspektive die Begebenheiten der auf der Bühne gezeigten Geschichte. Als Spielleiter liegt seine Funktion vor allem darin, die Geschichte durch die Schauspieler agieren zu lassen. Daneben lässt er auch die einzelnen Figuren auf- und abtreten und gibt ihnen Spielanweisungen bzw. spricht die Regieanweisungen des Autors selbst mit: Ansager: Was denn, du Pißpottbandit, du! Du verschwindest, verstanden?! Los los! Macht euch fort! Ksch! (zum Publikum) Wir sind nämlich am Fluss! Da drüben hängen die Zweige bis aufs Wasser. Es gibt gefährliche Strudel und Strömungen hier; da muss sich einer genau auskennen, wenn er übers Wasser will. Wo ist der Fährmann? (Gruber 1977: 31) Sehr ähnliche Aufgaben erfüllt auch der „Märchenerzähler“ bei Weths Aschenputtel. Hinzu kommen dabei allerdings noch weitere Funktionen. Als Spielleiter kann er die verschiedenen Darstellung und Analyse 215 Szenen spielen lassen: Märchenerzähler: Ihr seht die Küche des Hauses, in der gerade das Mädchen mit ihrer Stiefmutter und deren Töchter ist. Soll ich sie zum Leben erwecken? (Nach der Reaktion des Publikums klatscht er dreimal in die Hände. Die Szene lebt. Der Märchenerzähler verschwindet.) (Weth 1975: 7) Er kann auch jederzeit das Spiel unterbrechen: (Während alle höhnisch Aschenputtel rufen, kommt der Märchenerzähler wieder. Er klatscht dreimal in die Hände. Die Szene erstarrt zum „stehenden Bild“.) Märchenerzähler: Genug des schlimmen Treibens! Wie schön wäre es, wenn man im alltäglichen Leben nur dreimal in die Hände klatschen müsste und jedes böse Spiel erstarrt. So vielen Dank! (Schauspieler lösen sich von der Erstarrung und gehen langsam von der Bühne.) (Weth 1975: 13) Außerdem kann der Märchenerzähler auch Zeiträume aussparen und sie in narrativem Bericht überbrücken: „[...] So vergingen Tage, Wochen und Monate. Der Frühling kam [...]“ (Weth 1975: 13). Oder er kann gelegentlich selbst eine Nebenrolle übernehmen und an der Handlung teilnehmen: „[...] Es begab sich aber, dass der König durch seinen Herold ein großes Fest ausrufen ließ. Seht selbst, wie das war. Ich spiele den Herold, der durch das Land zog, um die Bewohner des Königreiches zu unterrichten“ (Weth 1975: 14). In den von uns gewählten Textstellen wird deutlich, dass das Dargestellte für Grubers „Ansager“ und Weths „Märchenerzähler“, „wie für den Erzähler in narrativen Texten, ein Vergangenes, ein Abgeschlossenes ist“ (Pfister 1997: 112). Damit erweist sich der „Typ der Regie- oder Spielleiterfigur als die strukturell deutlichste Annäherung dramatischer Texte an das Kommunikationsmodell narrativer Texte“ (Pfister 1997: 112). Auch in Bürkners Dornröschen und Rumpelstilzchen lässt sich das Vorhandensein eines sich auktorial verhaltenden Erzählers nachweisen. Dabei sind die verschiedenen Ebenen der Geschichte durch eine spielexterne Figur verzahnt: Durch den in Bürkners Märchenstücken traditionellen Märchenpostillion nämlich, der zugleich zum direkten Sprachrohr des Bearbeiters wird, so z.B. wenn er sich in der „Einführung“ durch ein Sprechen ad spectatores direkt an das fiktive (und Bürkner sich durch ihn an das tatsächlich anwesende) Kinderpublikum „in fröhlichem Plauderton“ wendet und das Spiel ankündigt als einen Versuch, „ins Märchenland zu kommen“ (Bürkner 2001b: 5). Seine „Erzählung“ soll den Eindruck vermitteln, dass die kindlichen Zuschauer in einer Kutsche Platz genommen hätten, um ins Märchenland zu fahren, in dem „es wunderbar schön ist. Aber nicht nur das, – es ist mitunter auch lustig“ (Bürkner 2001b: 5). Damit wird das Wechselspiel zwischen Bühne und Zuschauerraum in Gang gebracht. Im Laufe des Stückes werden dem Märchenpostillion immer wieder Auftrittsmöglichkeiten Darstellung und Analyse 216 eingeräumt, und zwar in den zwischen den einzelnen Bildern eingeschobenen Zwischenspielen. Die Zwischenspiele sind der Ort, von dem aus er zwischen der Ebene der dramatischen Handlung und dem Publikum vermittelt. Dabei erfüllt er als Erzählerfigur vielfältige Funktionen. Seine Präsenz dient so zur resümierenden Wiedergabe der Handlung und der Verbindung der unterschiedlichen Bilder, sowie dazu, den Inhalt von noch darzustellenden Handlungen anzukündigen. Da er auch außerhalb und über der Handlung steht und deren Gang kennt, verfügt er analog zum „auktorialen Erzähler“ im narrativen Text frei über die gesamte dramatische Handlung. In der Rolle des Stückautors überblickt also der Märchenpostillion in der Art eines Spielleiters den Handlungsverlauf, macht steuernde und urteilende Äußerungen und überbrückt erzählend längere Zeiträume. Durch seine Einwürfe schwächt er zudem die Spannung gegenüber dem Ausgang der Handlung und richtet sie stattdessen auf deren Gang. Auch in Richters Dornröschen sind zwischen den einzelnen Bildern eingeschobene Zwischenspiele zu verzeichnen, die sich auf die Auftritte von zwei Erzählerfiguren spezialisieren: dem Koch Balduin und der guten Fee Floralia. Im Unterschied zum Bürknerschen Märchenpostillion, der als isolierter „auktorialer Erzähler“ das Bühnengeschehen von außen kommentiert, ohne involviert zu sein, handelt es sich in diesem Falle um spielinterne Figuren, die abwechselnd die Rolle eines „Ich-Erzählers“ einnehmen. Sie sind somit gleichzeitig Kommentatoren und Handelnde. Da sie in ihren Rollen keinen Kontakt zum Kinderpublikum finden können, treten sie aus der Rolle heraus, verlassen dabei die dramaturgische Konvention und wenden sich als „bloße“ Schauspieler an die zuschauenden Kinder. Weitere Unterschiede bestehen in Bezug auf die Funktion beider Erzählerfiguren: Anders als bei Bürkner dienen die bei Richter anzutreffenden Erzähler vor allem zur Darstellung von vergangenen (und selber erlebten) Ereignissen in Form von „verdeckter Handlung“, d.h. Geschehnisse, die sich an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit zugetragen haben, werden in Rückgriffen als vergangene nachgeholt, so wie es sich bei der Figur des Kochs feststellen lässt. Dadurch wird z.B. über das Jahr vor der Geburt der Prinzessin Röschen referiert (Richter 1981: 20), von der Vorbereitung des Tauffestes berichtet (Richter 1981: 26) sowie die Geschichte „weitererzählt“, bis endlich der Fluch der bösen Fee Stacheline in Erfüllung geht (Richter 1981: 33). Ähnliches gilt z.B. auch für Bortfeldts Aschenputtel: Ausgesparte Zeitspannen während der Bühnenhandlung werden auch hier durch Rückgriffe ins Vergangene kompensiert. In den zwischen den einzelnen Handlungsabschnitten eingeschobenen Zwischenspielen wendet sich der Knappe Kugelrund-Kerngesund immer wieder ans Kinderpublikum und gibt dabei Kommentare zu vergangenen Ereignissen, so z.B. in folgender Stelle: Kugel: [...] Gestern nacht hatte ich mich verlaufen im Märchenwald – und als ich dann ins Schloss kam, war das Fest schon zu Ende. Ich hab gar nichts Darstellung und Analyse 217 mehr davon gesehen. Ein wunderschönes Mädchen soll dagewesen sein in einem wunder-wunderschönen Kleid. Sie haben sie alle „Die Prinzessin“ genannt. Aber um Schlag zwölf Uhr war sie verschwunden. (Bortfeldt o.J.: 42) Auffällig dabei ist, dass hier nicht nur ein vergangenes, für die Haupthandlung bedeutendes Geschehen (der erste Ballbesuch Aschenputtels) zusammengefasst und als Botenbericht narrativ dargestellt wird, sondern auch das zu Erwartende vorweggenommen wird: [...] Und nun wollen wir noch ein Fest veranstalten am Weihnachtsabend, und ich bin auf die Suche gegangen, um dem armen Prinzen Traurig zu helfen. [...] – passt gut auf, ihr Kinder, wie es weiter geht. Ich will alle schönen Mädchen im Lande zusammenklingeln, damit sie auf das Fest kommen am Weihnachtsabend, und der Prinz seine Prinzessin wiederfindet. (Bortfeldt o.J.: 42) Im Ganzen betrachtet bedeutet das Vorhandensein einer solchen Figur folgendes: Eine deutlich in Erscheinung tretende Erzählerfigur setzt zunächst die Veränderung der ursprünglichen Handlung des Grimm-Märchens voraus, indem diese nunmehr in eine Rahmenhandlung gekleidet wird. Damit entstehen im Stück zwei parallel ablaufende Handlungsstränge, d.h. zwei klar zu unterscheidende Ebenen wechseln sich ab: die Erzählerebene und die Ebene der dramatischen Handlung. Letztere vertritt mit den handelnden Figuren die eigentliche Handlung des Stückes, während erstere durch ein „episches Ich“ (vgl. Szondi 1963: 139ff.), also eine episch vermittelnde Figur, vertreten wird. Dadurch ergibt sich bei einer Vielzahl von Stücken aus unserem Korpus eine andere Art der Handlungsgestaltung im Vergleich zur dramatisch angelegten Form des Dramas, die in strenger Kausalität der Ereignisfolge auf das sonst übliche Darstellen eines zusammenhängenden Ausschnittes aus einer Geschichte setzt. Die uns vorliegenden Märchenstücke zeichnen sich allgemein dadurch aus, dass sie eine umfangreiche Handlung mit einer nur schwach ausgesprägten kausalen Beziehung zwischen den Szenen aufweisen (s. 3.4.1.1, darin Punkt 2). Daneben ist, wie auch da bereits dargelegt (s. Punkt 4), die freie Ausdehnung in Raum und Zeit ein weiteres Merkmal der Handlungsstruktur der Märchenstücke. Für die Darstellung der Zeit ist nicht nur die große Zeitspanne auffällig, sondern auch die Abweichung von der Chronologie, was sich wieder von der linear durchgängigen Handlung des konventionellen Dramas unterscheidet. So erlaubt sich z.B. der Erzähler in Richters Dornröschen häufig Szenenumstellungen durch Vor- und Rückgriffe. Die Aufsplitterung von Raum und Zeit sowie die umfangreichen Geschichten, die in den Märchenstücken des Korpus zur Darstellung kommen, sind nur möglich, weil die darin dargestellten Handlungen häufig in einzelne, in sich geschlossene Szenen zerfallen. Solchen episch angelegten Handlungen fehlt allerdings das Moment der Geschlossenheit, und damit ist der Anfang kein echter Anfang und der Schluss Darstellung und Analyse 218 mehr oder weniger offen. So heißt es am Ende von Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren: „Ihr Kinder und Leute – / Das war‘s für heute! / Hat‘s euch gefallen / So empfehlt uns allen! / Klatscht in die Hände: / Wir sind zu Ende“ (Gruber 1977: 44). Und so treten auch in Bürkners Dornröschen die Schauspieler zugweise von der Bühne ab und winken den Zuschauern fröhlich zu (Bürkner 2001a: 74). Dennoch gibt es für diese lockere Szenenfolge eine einheitsstiftende Klammer, die durch die Einführung einer Erzählerfigur geliefert wird, sei es als Ansager, Märchenerzähler oder Märchenpostillion. Die aus dem Vorhandensein einer Erzählerfigur resultierende Aufspaltung in mehrere Ebenen, also Erzählerebene und Ebene der dramatischen Handlung, führt auch zu einer distanzierten Zuschauerhaltung. Durch die Durchbrechung des einsträngigen Handlungsablaufs, wie er im dramatischen Theater sonst üblich ist, sowie durch den reflektierenden Text wird nämlich dem Zuschauer die Fiktionalität des Stückes völlig bewusst, ja die dramatische Illusion unablässig durchbrochen, womit sich die untersuchten Bühnenbearbeiter von der von Aristoteles bis Lessing bekannten Einfühlung des Zuschauers in die auf der Bühne dargestellten Situationen und Figuren abwenden. Damit tendieren sie zu einer Darstellungsform, die an das epische Theater Brechts und anderer bedeutender Dramatiker des 20. Jahrhunderts (u.a. Thorton Wilder) erinnert (Balme 2003: 49ff.; Asmuth 1984: 54), wenn auch die Distanzierungsstrategie bei Brecht bekanntlich intendiert war und eine ideologische Mission hatte (Asmuth 1984: 54f.). Das Vorhandensein eines Erzählers, der im Laufe des Stückes mit den kindlichen Zuschauern in Wechselbeziehung tritt, ist außerdem untrennbar mit der Auflösung der so genannten „vierten Wand“ verbunden. Durch die Einführung einer Erzählerfigur wird nämlich die scharfe Trennung zwischen Publikum und Bühne aufgehoben. So wie in den o.g. Beispielen dargestellt, sind es nicht nur spielexterne Figuren, die Kontakt mit dem Kinderpublikum aufnehmen. Auch Figuren, die direkt in der Bühnenhandlung involviert sind (z.B. Richters Erzählerfiguren bei Dornröschen), treten zeitweise aus dem Bühnengeschehen und damit auch aus ihrer Rolle heraus und sprechen die Zuschauer direkt an, z.B. durch gezielte Fragen, mit denen ihre Aufmerksamkeit erhalten wird. Ein weiteres Beispiel dafür findet sich gleich zu Anfang des Brüderlein und Schwesterlein von Doll/Fleckenstein. Auffällig wirkt dabei die Tatsache, dass die Bearbeiter im Dialogtext bereits die zu erwartenden Antworten der zuschauenden Kinder festgelegt haben: Blitz: Kinder, wisst ihr, ob in dem Schloss jemand wohnt? Kinder: Ja, nein! Blitz: Habt ihr denn jemand gesehen? Kinder: Nein! [...] Potz: Ich habe wirklich jemand gesehen. Eine ganz hässliche Person. Das kann nur eine Hexe sein. Darstellung und Analyse 219 Blitz: Hexe! Angsthase! Es gibt doch heutzutage keine Hexen mehr. Kinder, habt ihr vielleicht hier eine Hexe gesehen? Kinder: Nein! (Doll/Fleckenstein 1985: 2f.) Das Aus-der-Rolle-Fallen der Figuren erinnert stark an Formen des Unterhaltungstheaters, wo die Schauspieler zum Publikum spielen und dabei aus der dramatischen Handlung ausbrechen, als auch in einem gewissen Ausmaß an das Brechtsche Epische Theater mit seinen Verfremdungseffekten. Anders als bei Brecht aber stehen die Darsteller in den untersuchten Märchenstücken nicht neben der Rolle, um die Kluft zwischen Kunstschein und Wirklichkeit permanent bewusst zu machen. Eine solche Figurenkonzeption, die die Figuren gleichzeitig auf zwei verschiedenen Ebenen spielen lässt bzw. sie aus der Rolle fallen lässt, verhindert, wie bereits erwähnt, die Einfühlung des Zuschauers in die einzelnen Figuren und ihre Handlungen. Dafür werden aber dem Publikum neue Identifikationsmomente im Verlauf der Bühnenhandlung geboten. So werden die zuschauenden Kinder bei der Aufführung oft dazu ausdrücklich aufgefordert, Stellung zu nehmen und das Auftreten einer Figur zu beurteilen. Sie werden auch dazu eingeladen, mitzusingen und beim Theaterspiel mitzumachen: Mal fühlt man sich angesprochen, die von einer Figur gestellten Rätsel mitzuraten, mal wird man um Mithilfe bei der Entwicklung und Lösung des dramatischen Konflikts gebeten. Als Stilmittel ermöglicht ein solches Verfahren insofern, dass sich die zuschauenden Kinder am Bühnengeschehen beteiligen können und somit zu „Mitspielern“ werden. Das macht das Geschehen unmittelbarer und erhöht das Identifikationspotential der jungen Zuschauer. Ein deutliches Beispiel dafür, dass die Zuschauer um Mithilfe bei der Lösung der dramatischen Handlung gebeten werden, bietet Bürkners Rumpelstilzchen. Darin lässt der Bearbeiter die zuschauenden Kinder durch die direkte Ansprache der Figuren am Bühnengeschehen teilhaben, indem der Märchenpostillion ihnen Anweisungen zur glücklichen Wendung der Geschichte gibt: „[...] Na also – wenn der Friedel vielleicht nachher euch leise zurufen sollte: eins... zwei... drei!... dann seid ihr doch so lieb und ruft wie eben ,Rumpelstilzchen‘ aber feste, Kinder, ganz furchtbar feste – wollt ihr? Fein – dann kann ich beruhigt gehn! Auf Wiedersehen! [...]“ (Bürkner 2001b: 78). Und tatsächlich: Am Ende des Stückes findet der Sieg über das böse Männchen mit der Hilfe der zuschauenden Kinder statt: Rosemarie: [...] Ja, Kobold, wenn du nicht Stimpelrulzchen heißt, und nicht Rimpelstulzchen, und auch nicht Stumpelrilzchen, dann heißt du ganz bestimmt: ... Friedel: (an der Rampe) Kinder: eins – zwei – drei ... (Nach dem bestimmten einsetzenden gewaltigen Schrei der Kinder: „Rumpelstilzchen“ donnert es und wird für eine Sekunde finster – dann Darstellung und Analyse 220 wieder hell – Rumpelstilzchen ist mit einem grellen, lang anhaltenden Schrei verschwunden.) (Bürkner 2001b: 101) Damit wird das Kinderpublikum zum Komplizen der beiden Figuren und es kommt es zu einer gruppenbildenden solidarischen Lösung: Erst die Zusammenarbeit der Dienerschaft mitsamt den zuschauenden Kindern führt zur erfolgreichen Bekämpfung des Bösen. In dem Fall kann angenommen werden, dass das Publikum selber eine Heldenfunktion erhält, indem die Lösung des dramatischen Konflikts quasi an die Kinder im Zuschauerraum delegiert wird. Dass diese sich unmittelbar am Bühnengeschehen beteiligen und sich damit artikulieren können, zeigt ein dramaturgisches Verfahren, das vor allem in den Formen des so genannten „Mitspiel-“ und „Mitmachtheaters“ der 1970er Jahre entwickelt wurde. In einer ähnlichen Weise verfährt auch der König Drosselbart von Doll/Fleckenstein. Hier soll das Kinderpublikum bei der szenischen Darbietung einen besonderen Reiz darin finden, das von der Prinzessin Heidelinde an die vorüberkommenden Freier gestellte Rätsel mitzuraten (Doll/Fleckenstein 1966: 8f.) oder die vom König Heinrich (also Drosselbart) gestellten Fragen zu beantworten, wie z.B. „Wie heißt der kleine mutige Junge mit der Wunderlampe aus dem Märchen ‚Tausend und eine Nacht‘“? (Doll/Fleckenstein 1966: 12). Ebenso schaffen die im Stück zahlreichen Lieder nach alten und bekannten Melodien Möglichkeiten, das Kinderpublikum zum Mitsingen und Mitklatschen zu bringen und dadurch zur Einfühlung einzuladen, wenn etwa die beiden sonst bei Doll und Fleckenstein auftretenden Figuren Potz und Blitz ihre Bühnenrede direkt in den Zuschauerraum richten und mit den zuschauenden Kindern interagieren: „Das [Lied] wollen wir gleich mal mit den Kindern ausprobieren. Wir singen einen Vers vor, und ihr singt dann alle mit. ‚Eine Muh! Eine Mäh! Eine Täterätätä!‘“ (Doll/Fleckenstein 1966: 13). Aus dem bisher Gesagten lassen sich zusammenfassend mehrere Gründe angeben, mit denen das Vorhandensein von offenliegenden bzw. „expliziten Erzählern“ in den Märchenstücken unseres Korpus erklärt werden kann: • Analog zum fiktiven Erzähler in narrativen Texten, der sich mit einer Geschichte an seine Leser wendet, scheinen auch die Bearbeiter von Märchen für die Bühne ein erzählendes Subjekt zu benötigen138 und somit, wie aus den angeführten Beispielstücken hervorgeht, einem gewissen formalen „Fatalismus“ unterworfen zu sein. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass im Kindertheater im Allgemeinen die direkte Kontaktaufnahme zwischen Bühnenfiguren und Publikum üblich ist, ja sogar gefördert wird, und zwar durch direkte Publikumsansprache, gezielte Fragen usw. Der 138 Vergleichbare Funktionen hatten auch der Chor in der antiken Tragödie, allegorische Figuren in mittelalterlichen Moralitäten sowie Regie- und Kommentatorfiguren im modernen epischen Drama. Darstellung und Analyse 221 Kontakt mit dem Zuschauer ist im Theater für Kinder viel enger als im Erwachsenentheater. Unterstützt wird der Kontakt zum kindlichen Theaterpublikum in hohem Maße durch das häufige Auftreten von Erzähler- bzw. Kommentatorfiguren, die sich zwischen Spielen und Erzählen stellen und damit als Bindeglied zwischen den beiden Ebenen fungieren. In diesem Zustand des Dazwischen-Seins nehmen solche Figuren die Haltung eines Betrachters ein, der dem Publikum Einblicke in das Bühnengeschehen vermittelt, d.h. die Geschichte von außen „erzählt“ und kommentiert. So stellen sie auch den zuschauenden Kindern die in der Geschichte handelnden Figuren vor oder sie geben im Laufe des Stückes einzelne ausgelassene Episoden aus dem ursprünglichen Märchen wieder. Der Umweg über die Figuren erleichtert ihnen das Erzählen: So sind die handelnden Figuren wie Gegenstände, die der Illustration der Geschichte dienen. • Besonders plausibel erscheint uns auch, die von den Bühnenbearbeitern eingefügte Erzählerfigur als ein Füllsel zu betrachten, so wie das oft nur aus rhythmisch- metrischen Gründen zur Füllung des Versmaßes eingeschobene Füllwort in der Lyrik. Durch Hinzufügen eines Erzählers kann die kurze Fabel nämlich aus dem Märchen auf eine ein- oder eineinhalbstündige Dramatisierung ausgedehnt, ja zu einer abendfüllenden Aufführung ausgearbeitet werden. Aus dieser Sichtweise heraus wäre die Figur des Erzählers als Garant für die Darstellung von Märchenstücken zu verstehen. • Schließlich können auch soziologische und psychologische Argumente herangezogen werden. In diesem Sinne ließe sich die durch die Bühnenbearbeiter eingeführte Erzählerfigur als eine väterliche oder mütterliche Figur erklären, d.h. als ein Erwachsener, der den Kindern etwas (eine Geschichte, ein Märchen) erzählen und als Begleiter und ständiger Ãœberschauer der Ereignisse überhaupt in Erscheinung treten würde. So würde das Auftreten Auftritt einer derartigen Figur auf die jungen Zuschauer nicht ganz so befremdlich wirken wie bei einem erwachsenen Publikum, was wiederum erklären würde, warum das Theater für Kinder im formalen und dramatischen Sinne einem nicht so streng im Vergleich zum Theater für erwachsene Zuschauer vorkommt. Dieses Argument kann mit dem Ziel des Kindertheaters, lehren zu wollen, in Verbindung gebracht werden. Damit stellt sich auch die Frage nach der Wirkungs- bzw. Rezeptionsästhetik des Theaters für Kinder. Auf eine ausführlichere Behandlung beider Fragestellungen wird hier verzichtet, da dies die Zielsetzung und den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde (dazu ausführlich insb. Hartung 2001; Kirschner 2004). Es sei allerdings kurz darauf hingewiesen, dass, wie unsere eigenen Darstellung und Analyse 222 Beobachtungen zeigen, sowohl im herkömmlichen Kindertheater als auch im konkreten Fall von Märchenstücken insbesondere das Pädagogische in Betracht kommt. Wirkungs- und rezeptionsästhetisch wird das traditionelle Märchentheater vor allem als Gebrauchstheater und Erziehungshelfer begründet. Nicht nur durch die stoffliche Grundlage, also das Märchen, sondern auch (und vor allem) durch die versteckte Pädagogik hätte sich das Märchenstück als „Weihnachtsmärchen“ die Legitimation als kinderspezifische Gattung verschaffen (Schedler, Jahnke). Hier liege begründet, dass traditionelle Märchendramatisierungen von den Erneuerern des deutschen KJTs ab Ende der 1960er Jahre abgelehnt wurden. Ästhetische Erziehung, wie sie etwa von F.K. Waechter betrieben wurde, setzte insofern Maßstäbe wider den Gebrauchscharakter von herkömmlichem Kinder- bzw. Märchentheater überhaupt. 3) Einsatz von Gesang, Musik und Tanz Lieder und Tänze, begleitet von stimmungsvoller Musik, sind (ebenfalls wie die Gestaltung des „auktorialen Erzählers“) epische Mittel, die zur Aufführbarkeit der uns vorliegenden Stücke beitragen. Durch den Einsatz von Musik, Tanz und Gesang zeigen die meisten der zum traditionellen Korpus zählenden Bühnenbearbeitungen überhaupt einen klaren Vorzug für die freie Behandlung der von den Grimms übernommenen Märchenhandlung. Allerdings geht es dabei um zusätzliche, der epischen Märchenvorlage fremde Elemente, die den dramatischen Handlungsfluss unterbrechen und, damit einhergehend, zum Aussetzen der Handlungs- und Zeiteinheit beitragen. Da es durch solche Lied- und Tanzeinlagen aber keine einheitliche Handlungsstruktur, wie im dramatischen Theater sonst üblich, mehr gibt, weichen die meisten Märchenstücke unseres Korpus entsprechend von der dramatischen Darstellungsform ab und zeigen dadurch deutlich einen epischen Einfluss. In den meisten Fällen greifen die Bearbeiter jedoch auf eine ganze Reihe von Verfahren zurück, um den Bruch des Handlungsablaufs zu mildern, indem sie die Musik- und Tanznummern an Elemente der darzustellenden bzw. dargestellten Bühnenhandlung binden. Sei es, dass eine Melodie im Verlauf des gesamten Stückes stellenweise leitmotivisch verwendet wird; sei es, dass Figuren singend ihrer Emotion Ausdruck verleihen; sei es, dass sie im Gewand eines Liedes andere Figuren ansprechen (z.B. als musikalisierte Liebeserklärungen) oder dass die Lieder ganz allgemein mit dem Handlungsort verknüpft sind. Die musikalischen und tänzerischen Nummern fügen sich mit der Darstellung zu einem eigenen Netzwerk von manchmal äußerst heterogenen Bedeutungen zusammen. Bei der Wahl der Musik, also für die Entscheidung, aus welchen Melodien die neu einzufügenden Lieder bestehen sollen, stützen sich die meisten Bearbeiter sehr stark auf deutsche Kinder- und Volksmusik. Dabei handelt es sich um rhythmische Lieder mit Darstellung und Analyse 223 eingängigen Melodien und wohl bekannten Texten, die bei der szenischen Darbietung das Kinderpublikum zum Mitsingen und Mitklatschen animieren und dadurch auch zur Identifikation einladen. Die in den Stücken vorkommenden Lieder bieten so eine motivierende Möglichkeit zur Nachahmung und tragen damit zur aktiven Teilnahme der jungen Zuschauer am Stück bei. Da kleine Kinder in der Regel sehr gerne singen, ist ihre Bereitschaft, sich auf die im Laufe des Stückes häufig gespielten Kinder- und Volkslieder einzulassen, recht groß. Das gemeinsame Singen schafft eine positive Atmosphäre und stimmt die Kinder auf das Theaterspiel bzw. Theatererlebnis ein. Daher haben Lieder häufig einen festen Platz am Anfang des Stückes. Das gemeinsame Singen am Ende des Stückes gibt dann auch den zuschauenden Kindern das Gefühl, in das ganze Spiel integriert und Teil von diesem gewesen zu sein. Ãœberhaupt wird so den Kindern Anlass gegeben, sich in die Handlung und ihre Helden einzufühlen. In Bürkners Rumpelstilzchen z.B. sind zahlreiche eingebaute Lieder zu finden, die vom Bearbeiter als unentbehrlich gedacht sind, d.h. sie können nicht weggelassen werden, ohne dass das Stück darunter leidet. In einem dem Stücktext vorangestellten Kommentar wird entsprechend von der Streichung der eingestreuten Lieder aufgrund der schädlichen Auswirkungen auf die szenische Darbietung abgeraten (Bürkner 2001b: 4). Die im Stück vorkommenden Lieder basieren auf alten Vorlagen und weisen damit bewusst Treue zur Tradition auf: Sie sind „sämtlich (zum Teil textlich abgewandelte) bekannteste Volkslieder“ (Bürkner 2001b: 4). Dazu gehören u.a. „Das Wandern ist des Müllers Lust“ (1. Bild, S. 7f.), eines der bekanntesten und beliebtesten Wanderlieder aus der Zeit der Romantik überhaupt,139 das Jägerlied „Im Wald und auf der Heide“ (1. Bild, S. 20ff.), „Steh ich in finsterer Mitternacht“ (1. Bild, S. 37f.) nach Wilhelm Hauff (1802-1827), „Du, du liegst mir im Herzen“ (2. Bild, S. 60) und „Ach wie ist‘s möglich dann“ (3. Bild, S. 90). Was ihre Funktion angeht, so dienen sie sowohl der Kommentierung als auch der Widerspiegelung der Handlung, indem sie für das Darzustellende bzw. Dargestellte stehen. Zudem sind sie Ausdruck der Gedanken und Gefühle der Figuren. Ähnliches gilt für die Dornröschen-Bühnenbearbeitung. Auch hier ist als deutliche Hinzufügung zum Grimmschen Märchen (KHM 50) das Bindemittel zu verzeichnen, das die zahlreichen, die Bühnenhandlung kommentierenden und widerspiegelnden Lieder ausmacht. Dazu zählen neben Volksliedern – etwa das wohl bekannte Lied „Sah ein Knab ein Röslein stehn“ mit Goethe-Text (Bürkner 2001a: 69f.) – auch populäre deutschsprachige Liebeslieder („Blau blüht ein Blümlein“ im 1. Bild, S. 90), Schlaf- und Wiegenlieder („Weißt du wieviel Sternlein stehen?“, auch im 1. Bild, S. 23f.; „Schlaf, Kindlein, schlaf“ im 2. Bild, S. 58f.; „Guter Mond, du gehst so stille“ im 2. Zwischenspiel, S. 65) und Kinderlieder („Backe, backe Kuchen“ 139 Dazu http://www.liederlexikon.de (abgerufen am 21. November 2015). Darstellung und Analyse 224 im 2. Bild, S. 49). Im Laufe des Stückes wird auch Musik in Bewegung umgesetzt und zwar in Form von bekannten Spielliedern, etwa das alte Ringelreihelied „Ringel Ringel Reihe, / Kinder sind wir dreie, / Sitzen unter‘m Holderbusch, / Machen alle: husch, husch, husch!“ (Bürkner 2001a: 19f.). Daneben sind auch Kinderreimen zu finden, deren rhythmisches Sprechen einen hohen Anreiz zur Nachahmung bietet. Ein gutes Beispiel dafür findet sich im folgenden Kinderreim, von Aloys Blumauer (1755-1798) übernommen: Vögel, die nicht singen, Pferde, die nicht springen, Glocken, die nicht klingen, Pistolen, die nicht krachen, Kinder, die nicht lachen, Was sind das für Sachen?! (Bürkner 2001a: 14) Auch bei Bortfeldt wird die ursprüngliche Aschenputtel-Geschichte der Brüder Grimm (KHM 21) mit Musik und Tanz reicher geschmückt. So werden die gewohnten theatralischen Mittel (Bewegung, Mimik, Gestik, Geräusche, Stimme und Text) durch ein Repertoire von bekannten Kinder- bzw. Volksliedern um sentimentale und dem Publikum vertraute Melodien ergänzt und in den Grimmschen Märchenrahmen eingehängt. Zum einen dienen die im Stück eingesetzten Lieder zur guten Publikumsstimmung, so z.B. die beiden im ersten Bild anzutreffenden Volkslieder „Mäuschen, laß dich nicht erwischen“ und „Rosenstock Holderblüth“ (Bortfeldt o.J.: 3 u. 18f.). Zum anderen haben sie aber auch eine reflektierende, also handlungsbeschreibende Funktion, so z.B. wenn die Hauptfigur (Aschenputtel Rosalind) die Blumen und den Haselstrauch begießt und dabei ein Lied nach der Melodie von „Meine Blumen haben Durst“ singt (Bortfeldt o.J.: 7f.). Weitere Beispiele dafür, dass Lieder die Handlungen einer Figur unterstützen, finden sich im ersten Bild beim Einsetzen der beiden Volkslieder „Ein Männlein steht im Walde“ und „Das Nachtwächterlied“ (Bortfeldt o.J.: 29 u. 36). Außerdem werden durch Lieder einzelne Figuren vorgestellt. So lässt Bortfeldt den Prinzen Traurig und seinen Begleiter (den Knappen Kugelrund-Kerngesund) sich selbst dem Publikum vorstellen, und zwar durch ein selbstgetextetes Lied nach der Melodie des im deutschsprachigen Raum wohl bekannten Scherzliedes „Ich bin der Doktor Eisenbart“ (Bortfeldt o.J.: 11; vgl. www.liederlexikon.de). Lieder werden schließlich bei Bortfeldt zur Vorwegnahme künftiger Handlungsvorgänge verwendet, wie z.B. bei „Leise zieht durch mein Gemüt“, in dem die „Erlösung“ des Prinzen durch Rosalind vorweggenommen wird (Bortfeldt o.J.: 41), sowie dazu eingesetzt, um vergangene Handlungsvorgänge bzw. einzelne Phasen der Geschichte, die verdeckt bleiben, raffend wiederzugeben. Das ist z.B. am Anfang des zweiten Bildes der Fall: Nach der bekannten Melodie von „Der Meierschen Brücke“ berichten Stiefmutter und - schwestern über die Vorgänge beim ersten Fest im Schloss (Bortfeldt o.J.: 44f.). Ein weiteres Darstellung und Analyse 225 Beispiel dazu bildet auch das Lied „Es fuhr ein Bauer ins Heu“, nach dessen Melodie Rosalind und die Tiere über die vergebliche Suche nach dem wunderschönen Kleid berichten (Bortfeldt o.J.: 62). Noch zwei Beispiele aus unserem Korpus zur Verwendung von Liedern und Liedtexten seien hier angeführt: Brüderlein und Schwesterlein und König Drosselbart, beide Stücke vom Autorenduo Doll/Fleckenstein verfasst. Im Unterschied zu den oben aufgeführten Beispielen verwenden die beiden Verfasser bei Brüderlein und Schwesterlein in erster Linie selbstgetextete Lieder. Was ihre Funktion anbelangt, so leisten die im Text eingebauten Lieder Verschiedenes. Dadurch stellen einzelne Figuren sich selbst musikalisch vor. Auch wird einiges zu ihrem Charakter gesagt. So z.B. präsentieren sich gleich zu Beginn des ersten Bildes die beiden Figuren Potz und Blitz folgendermaßen: Potz, Blitz, wir Vagabunden, wir haben uns gefunden! Wir lieben keinen festen Ort, die Lust zu wandern treibt uns fort. Ob im Dezember oder Mai, wir sind, so wie die Vögel, frei. Wer könnte uns schon halten? Potz, Blitz sind stets die alten! (Doll/Fleckenstein 1985: 1) Durch das „Lied von Brüderlein und Schwesterlein“ im zweiten Bild wird auch das Hauptmotiv des Stückes, also die Bruder-Schwester-Beziehung thematisiert: Wir gehören für immer zusammen, mag kommen, was kommen mag. Wir gehen nie auseinander, so seis bis zum letzten Tag. In Freud und Leid sollst du stets sein: Mein Brüderlein! Mein Schwesterlein! (Doll/Fleckenstein 1985: 16) Bezeichnenderweise zieht sich dann der Refrain des Liedes leitmotivisch durch das Spiel (vgl. z.B. im 4. Bild, S. 43). Auffällig am Stück ist außerdem noch, dass das Geschwistermotiv überspitzt wird, und zwar dadurch, dass die Bearbeiter auf ein Lied aus der dem Publikum wohl bekannten Märchenoper Hänsel und Gretel (1894) von Engelbert Humperdinck (1854-1921) zurückgreifen: „Brüderchen komm tanz mit mir“ (Doll/Fleckenstein 1985: 41). Damit stößt man auch auf Motivgleichheiten zwischen den beiden Grimmschen Märchen Brüderchen und Schwesterchen (KHM 11) und Hänsel und Gretel (KHM 15). Schließlich haben die im Stück Darstellung und Analyse 226 eingestreuten Lieder einen kommentierenden Charakter, wodurch das Geschehen auf der Bühne reflektiert wird. Auch in König Drosselbart umrahmen zahlreiche von den bei Doll und Fleckenstein traditionellen Figuren Potz und Blitz gesungene, eingängige Lieder die aufregenden Erlebnisse der stolzen und übermütigen Prinzessin Heidelinde. Dabei handelt es sich allerdings nicht immer nur um eingebaute Lieder nach alten und bekannten Melodien, die dazu da sind, Stimmung zu verbreiten, also bei der szenischen Darbietung das Kinderpublikum zum Mitsingen und Mitklatschen zu animieren (u.a. Doll/Fleckenstein 1966: 12f.). Im Märchenstück gibt es auch Lieder Brechtscher Art, d.h. die beiden Figuren treten im Laufe des Stückes (meist vor jedem Bild) auf und singen als Moritatensänger und Erzähler Lieder, in denen sie dem Publikum einzelne Abschnitte des Schicksals der Prinzessin vorstellen. So resümiert z.B. das Lied zu Beginn des dritten Bildes nach der Melodie der Ballade von „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ die noch darzustellende Handlung und verdeutlicht auch die Haltung der weiblichen Hauptfigur: Das Spiel geht weiter, liebe Kinder, schaut her und gebt fein Acht, was nun der König, unser Spielmann, mit der Prinzessin macht. Es gibt nicht Schloss, nicht Diener, nicht Prunk und Hofstaat mehr, sie selbst muss waschen, kochen, flicken, das fällt ihr gar so schwer. Sie taugt zu keiner harten Arbeit, und langsam wird ihr klar, dass sie bisher nur eine schöne, verwöhnte Prinzessin war. Man hört sie oftmals klagen: „Ich arme Jungfer zart, ach, hätt ich damals doch genommen den König Drosselbart.“ (Doll/Fleckenstein 1966: 25) 4) Ausführliche Bühnenanweisungen Das Drama, zumal in seiner klassischen Ausprägung, kennt gewöhnlich kaum Bühnen- bzw. Regieanweisungen, da es alle Aktionen und Reaktionen der Figuren im gesprochenen Wort selbst aufzuheben pflegt: Die Ankündigung einer neuen Figur wird ausgesprochen, heftige Regungen auf Mitteilungen vom Redepartner werden geäußert und so weiter. Die wenigen ausdrücklichen Bühnenhinweise beschränken sich für gewöhnlich auf die Angabe des Darstellung und Analyse 227 Schauplatzes. Das gilt für das griechische Drama der klassischen Zeit wie auch für das französische und deutsche klassische Drama (Pfister 1997: 37ff.). Diesem Sachverhalt laufen die meisten der als „traditionell“ einzustufenden Märchenstücke aus unserem Korpus entgegen, indem sie sich durch die Verwendung von ausführlichen Bühnenanweisungen auszeichnen. Dabei drängen sie den ehemaligen Vorrang des Wortes zurück. Ein Großteil der Stücke scheint vielmehr in erster Linie auf Visualität zu setzen. Verfolgungen auf der Bühne, besondere Theatereffekte (u.a. Projektionen), Licht- und Bühnenverwandlungen, ständige Umzüge usw. sind Elemente, die die Bedeutung der visuellen Wahrnehmung einer Vielzahl der uns vorliegenden Stücke betonen. Dies wäre nicht nur am Inszenierungskonzept, sondern auch – wie gesagt – an der sehr häufigen Verwendung von Bühnen- bzw. Regieanweisungen (oft breit angelegten Anweisungen) im Nebentext erkennbar. Dabei werden die Gestaltung des Bühnenraums und die Aktionen der verschiedenen Figuren durch die Bearbeiter peinlichst genau festgelegt. Besonderes Gewicht haben Bühnenanweisungen in Leudesdorffs Märchenstücken. Kennzeichnend ist hier, dass die Bearbeiterin am Beginn der Bilder ausführliche Anmerkungen zur Szenerie schreibt. Als Beispiel weisen wir auf die Schauplatzgestaltung im ersten Bild von König Drosselbart hin. Dabei werden das Gartenhäuschen der Prinzessin und die Umgebung folgendermaßen beschrieben: Gartenpavillon der Prinzessin. Im Hintergrunde ist bereits der Prospekt für das II. Bild sichtbar, auf dem links ein Wald, in der Mitte eine Wiese und rechts in der Ferne eine Stadt zu sehen sind. Vor der Wiese steht ein Rhododendron-Boskett. Der Pavillon besteht aus durchbrochenen, mit Blumen umrankten Rundbögen. In der Mitte hängt eine zierliche, goldene Schaukel, die nach hinten weggehängt werden kann. Links vorn eine gepolsterte Bank. Schräg rechts ein Diwan, zu dessen Häupten ein goldener Käfig mit dem Kakadu Habakuk, der beweglich sein und mit den Flügeln schlagen muss. Links und rechts im Hintergrunde grosse Krüge mit Blumen. Strahlende Morgensonne. (Leudesdorff 1980b: 1) Bemerkenswert ist hier besonders die starke konkretisierende Raumkonzeption durch detaillierte szenische Anmerkungen. Das gilt gleichermaßen für ihre Rumpelstilzchen- Bearbeitung. Auch hier werden jedem Bild ausführliche Bühnenanweisungen vorausgeschickt, die genaue Angaben über Ausstattung, Requisite, Beleuchtung usw. beinhalten. Ebenso verhält es sich mit den Anweisungen zur gestischen und mimischen Darstellung sowie zum Verhalten der auftretenden Figuren, wie im folgenden Beispiel aus dem ersten Bild: [...]. Ein Page stößt ins Horn. Alle rufen: „Zur Jagd, zur Jagd“. Die Pagen reiten aus, nach allen Seiten freundlich grüßend, die Zofen winken zum Abschied. Ein Page reitet auf dem Jagdspeer. Hans stellt einen bellenden Jagdhund dar. Plötzlich stocken alle, wittern das Wild, pirschen sich heran Darstellung und Analyse 228 und rufen: „Die Wildsau!“, womit der Haushofmeister gemeint ist, der die ganze Zeit dem Treiben wehren wollte. [...]. (Leudesdorff 1980a: 9) Die vielen, verhältnismäßig genauen Bühnenanweisungen bei Leudesdorff entsprechen, wie man an obigen Beispielen zureichend sehen kann, zwar naturalistich-realistischer Tradition. Aber anders als im naturalistischen Drama, wo durch breit angelegte Bühnenanweisungen versucht wurde, Ort, Zeit, Milieu und Handlungen der auftretenden Figuren vorzuführen, um die gesellschaftliche Wirklichkeit ganz genau und bis in alle Einzelheiten abzubilden, geht es bei Leudesdorff einfach um Anweisungen zur Schauplatzgestaltung und zum gestischen Verhalten der einzelnen Figuren, d.h. bei ihr beschränken sich die ungewöhnlich expliziten und detailgenauen Bühnenanweisungen auf dramaturgische Hinweise zur Inszenierung des Bühnentextes. Damit erhalten die jeweiligen Szenen den Anschein einer realistischen Darbietung, die die Glaubwürdigkeit fördern. Ähnliches gilt auch für Rumpelstilzchen und Dornröschen in der Bearbeitung durch Bürkner. Auch hier liefern die Anweisungen des Bearbeiters zum Bühnenbild detaillierte Angaben zu Ausstattung und Requisiten – wie im folgenden Beispiel aus Rumpelstilzchen: (Warmer Abendsonnenschein erfüllt den Platz vor der Mühle, deren Vorderfront (mit Eingang) den Hintergrund bildet. Die Seiten der Bühne werden von Tannen flankiert. [...]. Vor der Mühle große Mehlsäcke, Mahlsteine u. dgl. Weiter vorn seitlich Bauerntisch mit drei Bauernstühlen, – gegenüber, vor den Tannen, ein Baumstumpf.) (Bürkner 2001b: 3) Auffällig dabei ist außerdem noch, dass einige Anmerkungen für Regisseur, Darsteller, Bühnenbildner und Techniker dem Text des Stückes vorausgehen. Neben dem Hinweis, wie die komischen Figuren dargestellt werden sollen, wird auch ausdrücklich davon davor gewarnt, etwaige Änderungen am Text vorzunehmen, da es der Wirkung des Märchenspiels Abbruch tun würde. Insbesondere wird von der Streichung sämtlicher Lieder abgeraten (Bürkner 2001b: 4). Dadurch versucht Bürkner schon eine Art Vorgriff auf die Aufführungen vorzunehmen. Hinter solchen Hinweisen lässt sich auf jeden Fall ein gewisses Misstrauen der Regie und den Schauspielern gegenüber vermuten, deren Interpretationsspielraum damit deutlich eingegrenzt wird. Auch die von Görner und Zimmermann äußerst genau formulierten Bühnenanweisungen bei Aschenbrödel sind eher epischen Charakters. Als Beispiel führen wir eine Anweisung aus dem fünften Bild an. Die Szene erzählt von Aschenbrödels Flucht nach dem zweiten Ballbesuch im Königsschloss, dabei verliert es einen seiner gläsernen Schuhe: [...] (Sobald der Prinz über die Brücke ist, lässt Syfax diese einstürzen. Der ganze folgende Hof rutscht wie auf einer Rutschbahn ins Wasser. Alle schwimmen. Indessen läuft Asch. vorn über die Bühne, verliert einen Schuh, Darstellung und Analyse 229 aber entwischt dem Prinzen, der den Schuh aufhebt, der zu leuchten beginnt). (Vorhang) (Görner /Zimmermann 1962: 26) Hier werden nicht einfach Anweisungen zu besonderen Theatereffekten gegeben, sondern es liegt ein dramaturgischer Hinweis zur Inszenierung vor, der allein die Möglichkeiten der Bühnentechnik demonstriert, die mit der Verwandlung der Bühne in ein Schwimmbad einen äußerst publikumswirksamen Effekt erreichen will. Größere Ausdehnung erleben auch die Bühnenanweisungen bei Blazejewskis Brüderchen und Schwesterchen. Hier überwuchern die häufigen Anweisungen im Nebentext den eigentlichen Text und stehen nur in lockerem Zusammenhang mit diesem. Oft erreichen sie, etwa zu Beginn des zweiten Bildes (Blazejewski 1996: 10), den Umfang breiter Erzählpassagen. Im Grunde genommen handelt es sich dabei um durchgeformte erzählende und beschreibende Texte, die das nachfolgende Bühnengeschehen häufig schon einer bestimmten Deutungsperspektive unterwerfen, wie sich z.B. an der folgenden Stelle ablesen lässt: Endlich gelingt es ihr [der Stiefmutter], sich dem Publikum in ihrer ganzen Pracht zu präsentieren. Die Frau ist „in den besten Jahren“ und könnte sich durchaus sehen lassen, wenn sie nicht ein so bitterböses Gesicht machen würde und nicht so eine auffallend hässliche Nase hätte. (Blazejewski 1996: 11) Zwar gelten auch bei Blazejewski die Bühnenanweisungen den Schauspielern, die die einzelnen Figuren im Stück verkörpern – diese werden von der Bearbeiterin durch Aussehen, Stimme, Sprechweise, Handlung, Mimik und Gestik charakterlich genau festgelegt –, aber sie gehen auch als Darstellungsmittel ins Stück selbst ein, so wie z.B. während des Baus der Waldhütte: Hier baut der Techniker nach Schwesterchens Anweisungen aus altem Gerümpel die Hütte, die sie dann gemeinsam mit Brüderchen bewohnt (Blazejewski 1996: 39ff.). 3.4.1.4 Auswertung und Schlussfolgerungen Die Analyse der zwanzig Texte, die unser Korpus traditioneller Märchenstücke ausmachen, ergibt aufschlussreiche Angaben zum Einsatz formeller Verfahren bei der Bühnenbearbeitung von Buchmärchen hin zum Bühnenstück. Einerseits zeichnet sich eine deutliche Tendenz vom kanonisch Dramatischen weg zum episch Erzählerischen hin ab, was die ästhetische und mediale Ausrichtung der Bearbeitungen anbelangt. Andererseits lässt sich im Laufe der Jahre ein Trend zu größerer Beachtung der Märchenerzählung immer deutlicher wahrnehmen. Beide Stränge kommen dann interessanterweise in der Aufhebung zusammen, welche die Produktion von F.K. Waechter für das deutsche Märchenstückpanorama bedeutet hat. Es ist noch früh, um einschätzen zu können, ob Waechters Anregungen Fuß gefasst haben und für andere Darstellung und Analyse 230 Theaterschaffende richtungsweisend geworden sind. Auf alle Fälle lassen sie sich als einen besonders folgerichtigen Schritt angesichts der vorliegenden Geschichte der Gattung einstufen. So wie am Raster „Traditionelle Verfahren bei der Bearbeitung von Märchenstücken“ (s.u.) zu sehen ist, stellt unsere Analyse konstante und inkonstante Merkmale fest, wobei die geschichtliche Verteilung bei manchen von Letzteren wertvolle Hinweise auf die genannten Trends liefert. Zu den beständigen Merkmalen gehören folgende Verfahren, die sich sonst als unvermeidlich und erforderlich anschauen lassen, denn sie betreffen den Fabelkern der Märchen: • Weiterbestehen von Handlungsstruktur • Konfliktlose Handlung • Fremdbestimmte Handlung • Vielzahl von Schauplätzen • Geschlossener Handlungsausgang Dabei ist zu unterstreichen, dass der geschlossene Handlungsausgang eine glückliche Voraussetzung aller Märchen hinsichtlich der Bühnenbearbeitungen darstellen muss. Eine solche Gemeinsamkeit zwischen erzählerischer Vorlage und den Erfordernissen der Gegenwärtigkeit der Bühnenhandlung hat unbedingt die Arbeit der Bearbeiter erleichtern müssen. Zugleich erweisen sich folgende Hinzufügungen als konstant: • Komisiserung • Ausweitung von Grimms Personal Ohne Ausweitung von Grimms Figuren sowie ohne Slapstick kommt keine Bühnenbearbeitung offensichtlich aus. Dies würde die erweiterte Auffassung bestätigen, beim Märchenstück hat man an sich mit farcehafter Unterhaltungskunst zu tun. Der Einsatz von Tanz- und Gesangeinlagen verzeichnet zwar keine solche absolute Beständigkeit, aber doch eine unumstrittene Kontinuität über die Jahre hin. 85% der studierten Stücke weisen solche Einlagen auf. Dies könnte als reiner Beitrag zur Unterhaltungskunst angesehen werden. Ebenfalls könnte es als episierende Perspektivierung gesehen werden, der einem Kommentar ähnlich Abstand zum Bühnengeschehen verschaffen soll. Doch das wiederholte Zurückgreifen nach bekannten Liedern, ja nach Volksliedern, lässt vielmehr vermuten, dass dadurch die Bühnenbearbeiter über einen multimedialen Weg dem Potential an Gegenwärtigkeit Vorschub zu leisten versucht haben. Die Förderung der Gegenwärtigkeit zwischen dem Bühnengeschehen und der Zuschauerschaft würde nicht wie in der idealen Darstellung und Analyse 231 Gattung des Erwachsenentheaters (also im Drama) durch Einfühlung zu Stande kommen, sondern durch die Einladung zur Beteiligung am multimedialen Erfahrungsfeld des Singens. Neben solchen fast durchaus konstanten Merkmalen lassen sich weitere erkennen, deren Verteilung im Ablauf der Jahre nicht immer aussagekräftig zu sein scheint: • Weite Zeiterstreckung • Zeitsprünge • Pädagogisches Anliegen • Traumszenen • Zugespitzte Retardierung • deus-ex-machina-artige Figuren • Verlagerte Märchenfunktionen • Ausführliche Bühnenanweisungen Der Raster zeigt eine über die Jahre hinweg ungleichmäßige Verteilung solcher Merkmale, was wenig Aufschluss dazu liefert, inwieweit jedes von ihnen entweder mit der dramatischen oder mit der epischen Aufrüstung in einem Zusammenhang steht. Während die beiden ersten Merkmale um die Zeit (Zeiterstreckung, Zeitsprünge) sicherlich als unvermeidliche Vorgaben vom Originalmärchen anzusehen sind, könnte man beim Rest sowohl dramatisierende (zugespitzte Retardierung, deus-ex-machina-artige Figuren verlagerte Märchenfunktionen, ausführliche Bühnenanweisungen) als auch episierende Impulse (pädagogisches Anliegen, Traumszenen) erkennen. Um dies näher zu bestimmen, sind offensichtlich weitere Untersuchungen auf ähnlichen Korpora nötig. Umso aufschlussreicher kommen insofern folgende weitere Merkmale vor, deren Frequenz erkennbare Unterschiede nachweist. Wir unterscheiden dabei zwischen abnehmender und zunehmender Frequenz. Dies wiederum darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Ausbleiben einer Abnahme eben eine Zunahme bedeuten mag sowie umgekehrt. Abnehmende Frequenz zeigen insofern: • Implizierter Erzähler • Wiederholungen • Märchenhafte Figurencharakterisierung • Auslassen von Märchenteilen • Dynamische Figuren • Wahrscheinlichkeitstrend • Eingebaute Eingangsszenen Darstellung und Analyse 232 Ebenso ragen weitere Merkmale heraus, die im Laufe der Jahre schwach bis deutlich zugenommen haben: • Abweichende Lösungen • Motivation der Figuren • Explizierter Erzähler Das gemeinsame Bild von beiden Reihen spricht für eine Abnahme eines kanonischen Vorbildes am konventionellen Drama sowie für einen freieren Umgang mit dem Märchenstoff, sodass sogar abweichende Lösungen vorgenommen werden. Besonders bezeichnend kommen hier der Trend um die Motivation bzw. die Dynamik der Figuren vor wie derjenige um die erzählerische Vermittlung. Im Schatten der dramatischen Handlung als Vorbild darf es nicht verwundern, wenn Bühnenbearbeiter in den 50er und 60er Jahren sich Mühe gegeben haben, nachvollziehbarere wahrscheinlichere Figuren in das Märchenstück einzubauen. Allerdings verschwindet dann dieser Zwang fast vollständig, sodass er erst auf unserem letzten Beispiel aus dem Jahre 1998 wieder zu verzeichnen ist. Umso bezeichnender im Sinne einer erzählerischen Aufhebung des Märchenstückes zeigt sich das umgekehrte Verhältnis zwischen internem und externem Erzähler. Ersterer gehört noch zur Tradition des kanonischen Dramas und zwar unter der Form einer zumutbaren erzählerischer Figur. Sie wird aber bald zugunsten eines expliziten Erzählers aufgegeben. Dies hängt offensichtlich mit der Entwicklung in der Bühnenlandschaft der Bundesrepublik zusammen. Die Rezeption von Brechts kritisch-historischem Theater, das Vorbild des Dokumentardramas sowie überhaupt herkömmlicher Konventionen führt zur Entdeckung der Vermittlerfigur des expliziten Erzählers, der davor so gut wie verpönnt war. So bezeichnend jedoch wie die Einbürgerung eines bühnenhaften Erzählers verhält sich die Zunahme von demjenigen Merkmal, das für die Fachliteratur den Schlüssel von Waechters Beitrag bedeutet: die Beachtung des Märchens als erzählerischer Struktur, ja der folgerichtige Respekt davor. Den Trend kann man unumstrittenerweise am abnehmenden Merkmal „Auslassen von Märchenteilen“ ablesen. Einerseits bezeugt es, dass die ersten Bearbeiter unseres Korpus ausgesprochen wenig zimperlich damit umgegangen sind. Die Märchen wurden erstmals offensichtlich als Stofflieferant für jene später z.T. berüchtigte Unterhaltungskunst betrachtet. Dieser Trend kippt mit der Zeit merklich um, sodass ab Mitte der 70er Jahre Bühnenbearbeiter eine immer deutlichere Achtung vor der Märchenintegrität nachweisen. Darin ist eine feste Grundlage für die Beiträge Waechters kaum zwanzig Jahre später zu sehen, als er auf seinen Spektakeln den Stoff eventuell ergänzt bzw. kontextualisiert hat, aber der erzählerischen Grundstruktur der Gattung Märchen weit mehr respektvoll als früher Recht gegeben hat. Darstellung und Analyse 233 234 Darstellung und Analyse 235 3.4.2 Analyse moderner Märchenstücke am Beispiel der verschiedenen Teufel-Fassungen von F.K. Waechter Angesichts der Bedeutung individueller Leistungen bei der Auswertung des Beitrags des F.K. Waechter zur Modellierung eines modernen Märchenstückes soll in diesem Teil der Arbeit kurz der biografische Hintergrund des Autors erläutert werden. Dem folgt ein Ãœberblick über das dramatische Werk von Waechter mit dem Fokus auf dessen Entwicklung von Mitte der 1970er bis Ende der 1990er Jahre, um damit die markanten Änderungen zu verdeutlichen, die in diesem Zeitraum bei seinem Kindertheaterschaffen auftraten, und gleichzeitig aufzuzeigen, inwieweit und in welchem Ausmaß dabei Rückgriffe auf Märchen stattgefunden haben. Da die Anfangsperiode seines Schaffens eng mit der Wiederentdeckung des Märchens für die Kindertheaterbühne verbunden ist, liegt ein Schwerpunkt des Ãœberblicks auf seine ersten Märchenadaptionen und deren Entwicklung. Zugleich werden zeitgenössische theatralische Einflüsse auf das Bühnenwerk von Waechter verdeutlicht. Ferner wird auf den ästhetischen Hintergrund eingegangen, der schlüsselhaft für seine Art der Märchenbearbeitung über 20 Jahre hinweg geworden ist. Dies erfolgt grundsätzlich durch die Besprechung von Waechters unterschiedlichen Bühnenfassungen des Stückes Der Teufel mit den drei goldenen Haaren. 3.4.2.1 F. K. Waechter: Leben und Werk 3.4.2.1.1 Bio-Bibliographie140 Friedrich Karl Waechter wurde 1937 in Danzig, heute Polen geboren. 1945 zog er mit seiner Familie nach Schleswig-Holstein. Bis 1956 besuchte er die Lauenburgische Gelehrtenschule in Ratzeburg und absolvierte dann von 1957 bis 1960 eine Ausbildung zum Gebrauchsgrafiker an der Kunstschule Alsterdamm in Hamburg. Ab 1960 war er als Grafiker für eine Annoncenexpedition in Freiburg im Breisgau tätig. 1962 kam Waechter dann als F.K. nach Frankfurt am Main. Dort nahm er als Graphiker, Zeichner, Illustrator, Karikaturist und Cartoonist maßgeblich an der Entwicklung von verschiedenen Zeitschriften teil. So zeichnete er zuerst für das linke Satire-Monatsschrift pardon (dort als Chefgraphiker ab der ersten Nummer), für das er das Logo entwarf: einen kleinen Teufel mit gelüftem Bowler, und später für die Satireblätter konkret, twen und Titanic (ab 1979). Durch seine dortige Tätigkeit wurde er der so genannten „Neuen Frankfurter Schule“ zugerechnet.141 140 Bei der Erstellung von Waechters Biografie wurde vor allem die Aufzeichnung Schneiders (in: KJTZ 1994: 331ff.) herangezogen; ferner die Waechter-Webseite (http://www.fkwaechter.de/biografie.html; abgerufen am: 25.06.2015) 141 Die Neue Frankfurter Schule (NFS), deren Name sich spöttisch an die philosophische Frankfurter Schule (Horkheimer, Adorno u. a.) anlehnt, war eine Satirikergruppe von Schriftstellern und Darstellung und Analyse 236 Erst Anfang der 70er Jahre wurde Waechter als Kinderbuchautor bekannt, vor allem durch seinen 1970, in der Hochphase der antiautoritären Bewegung entstandenen Anti-Struwwelpeter, der auf persönliche Erfahrungen mit den eigenen drei Kindern und der Kinderladenbewegung basierte. Aus dem politischen Bewusstsein der 68er Studentenbewegung heraus veröffentlichte er auch seine ersten experimentierfreudigen Arbeiten: singbare Kinderrollenspiele (Brülle ich zum Fenster raus, 1973), detailreiche Wandbilder mit kreativen Anregungen zum Mitmachen (Drei Wandgeschichten, 1974) und weitere Spiel- und Kreativbücher, wie z.B. Opa Huckes Mitmachkabinett (1976). Für sein bereits 1973 erschienenes Kinderbuch Wir können noch viel zusammen machen erhielt er 1975 den Deutschen Jugendbuchpreis in der Sparte Bilderbuch. Dabei thematisierte Waechter als Schwerpunkt die solidarische Freundschaft von drei Tierkindern, die gemeinsam zu handeln und zu spielen lernen. Neben seinen Kinderbuchveröffentlichungen schrieb Waechter auch für das Kindertheater. So verfasste er noch im gleichen Jahr 1975 das Clownsstück Schule mit Clowns (UA: 1.6.1975; Regie: Hermann Treusch. Abgedruckt in: Waechter 1975: 5ff.; Neuausgabe: Waechter 1985: 7ff.; wieder in: Waechter 2000). Es entstand als Auftragsproduktion der Frankfurter Städtischen Bühnen fu ̈r das Theaterfestival Experimenta.142 Seit seiner Uraufführung ist Schule mit Clowns, wie im Klappentext der Ausgabe von 1985 vermerkt, „zum Klassiker des internationalen Kindertheaters geworden“, mit 200 Inszenierungen in Deutschland und auch über die Grenzen hinaus. (Näheres zum Stück s. Bauer 1980: 116ff.; Schneider 1984: 76f.). Der Erfolg des Stückes weckte bei Waechter die Lust auf weitere Theaterprojekte. So entstand das Mitmachstück Pustekuchen, das als Weihnachtsspiel am 18.11.1975 vom Schauspiel Frankfurt (Regie: Iven Tiedemann) uraufgeführt wurde,143 daneben auch zwei auf Grimmschen Märchen basierende Stücke: Der Teufel mit den drei goldenen Haaren und Die Bremer Stadtmusikanten. Während Ersteres zusammen mit Schule mit Clowns und Pustekuchen im Band 4 der Reihe »3mal Kindertheater« 1975 beim Ellermann Verlag in München gedruckt vorlag,144 erschien Die Bremer Stadtmusikanten 1977 zunächst nur als Bühnenmanuskript im Frankfurter Verlag der Autoren und wurde erst einige Jahre später als Buch veröffentlicht (in: Zeichnern, die in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts eine neuartige, also intelligente, gnadenlose, hintersinnige und absurde Komik etablierte. Zur Gruppe gehörten neben Waechter auch Hans Traxler (geb. 1929), Chlodwig Poth (1930-2004), Robert Gernhardt (1937-2006), Fritz Weigle genannt F. W. Bernstein (geb. 1938), Peter Knorr (geb. 1939), Eckhard Henscheid (geb. 1941) und Bernd Eilert (geb. 1949). (Zu Waechters Werk als Karikaturist s. Verstappen 1990, Schmitt 2001u. Fahrenberg 2011). 142 1975 widmete sich die Experimenta ausschließlich dem KJT. Neben Waechters Stück wurde auch eine theoretische Abhandlung über Clowns auf der Bühne durch den Schriftsteller und Dramaturgen Horst Laube (1939-1997) präsentiert. Und der Theaterleiter und Stückeschreiber Wolfgang Deichsel (1939-2011) brachte zum Treffen eine einzige Zeile mit, aus der sich später das Stück Zappzarapp. Die Panik der Clowns hinterm Vorhang (1984) entwickelte. 143 Zum Konzept des Stückes s. Schneider (1984: 76); auch Dolle-Weinkauff (1998: 146). 144 Dazu die Rezension in der SZ (3.7.1976) von Albert von Schirnding unter dem Titel: „Überhaupt kein fauler Zauber. Friedrich K. Waechters bemerkenswertes Kindertheater“. Pustekuchen erschien auch später noch in: Waechter (1984: 57ff.). Darstellung und Analyse 237 Waechter 1991a: 51ff.). Dessen Uraufführung fand im selben Jahr (am 9.11.1977) am Schauspiel Frankfurt unter der Regie von Thomas Reichert statt. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren erlebte hingegen zunächst keine Premiere, erst viel später kam es zur Aufführung (UA: Theater der Jugend, München, 28.2.1981; Regie: Udo Schön). 1979 wurde dann das Stück Kiebich und Dutz (1977 für die Schauspieler Michael Altmann und Karl Heinz Krähkamp geschrieben) in Frankfurt uraufgeführt. Bei der Inszenierung führte Waechter erstmals selbst Regie. Damit legte er ein Kinderstück vor, in dem sich manche Züge der beiden Hauptlinien seines Kindertheaterschaffens wiederfanden: zum einen der karikaturistisch- verfremdete Blick, zum anderen das Comichafte bzw. seine spezifische Art zu erzählen (Näheres dazu Schneider 1984: 78ff.). Ein Jahr zuvor, 1978, war sein erster großer Cartoonband erschienen: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein, der ebenfalls ein grandioser Erfolg wurde und Waechter als Zeichner in ganz Deutschland bekannt machte. Die 1980er Jahre verliefen auf zwei Pfaden. Einerseits fand sich eine Weiterentwicklung im Bereich des Kindertheaters: 1983 wurde eine Neufassung von Kiebich und Dutz (erschienen in: Waechter 1984: 7ff.) am Münchner Residenztheater (Bayerisches Staatsschauspiel) aufgeführt. Dafür wurde Waechter mit dem Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ausgezeichnet.145 1984 folgte dann auch am Residenztheater das Clownsstück Nach Aschenfeld, für zwei Schauspieler und zwei Musiker geschrieben, bei dem Waechter selbst wieder einmal Regie führte. Und 1985 verfasste er – quasi als Fortsetzung von Schule mit Clowns – die erste deutsche Ãœbersetzung von Ken Campbells (1941-2008) Ausflug mit Clowns (UA: Schauspielhaus Bochum, 16.10.1985; Regie: Ken Campbell. Abgedruckt in: Waechter 1985: 51ff.; wieder in: Waechter 2000). Andererseits erhielt Waechter 1986 und 1987 Lehraufträge an der Sommerakademie in Salzburg und an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg. Daneben entstanden in dieser Zeit weitere Cartoonbände: Es lebe die Freiheit, Männer auf verlorenem Posten, Glückliche Stunde, und gegen Ende des Jahrzehnts auch satirische Kunstobjekte. Die 90er-Jahre begannen mit der Veröffentlichung des Bandes Mich wundert, dass ich fröhlich bin (1991), der Bleistiftskizze, Collage, Comic, Concept, Federzeichnung, Fotografie, Parodie, Poesie und Satire in sich vereinigte. Nach 1992 war Waechter mit zahlreichen Büchern für Kinder und Erwachsene erfolgreich. 1998 erschien z.B. das Bilderbuch Der rote Wolf, das 1999 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde. Vor allem aber arbeitete Waechter über das Jahrzehnt zunehmend auch als Autor und Regisseur für das Theater. In kurzer Zeit entstanden so neben dem Clownsstück Ixypsilonzett (UA: Schauspiel Frankfurt, 145 Der Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin ist eine Auszeichnung zur Förderung des KJTs. Prämiert werden deutschsprachige Stücke und Inszenierungen, „die aus dem Bereich des Kinder- und Jugendtheaters stammen, sich mit der Wirklichkeit junger Menschen auseinandersetzen und auf ein tolerantes Miteinander hinwirken“ (zit. nach dem Merkblatt zur Verleihung; URL: http://www.theaterderzeit.de/index.php/blog/meldungen/ausschreibung_strich_wettbewerb/br%C3%B Cder-grimm-preis_ausgeschrieben/komplett; abgerufen am: 10.07.2015) Darstellung und Analyse 238 21.6.1991; Regie: Winni Victor. Gedruckt in: Victor 1991; wieder in: Waechter 1992: 47ff.) auch weitere Theaterstücke, die Waechter selbst inszenierte: Der Schweinehirtentraum (UA: Junges Theater Göttingen, 12.10.1990. Gedruckt in: Waechter 1991a: 7ff.) und Luzi (UA: Schauspiel Essen, 13.1.1991. Gedruckt in: Waechter 1992: 12ff.; wieder in: Waechter 1997: 195ff.). Unter den Regiearbeiten waren auch die Vorstellungen Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren (1991) am Jungen Theater in Göttingen sowie Die Eisprinzessin (1993) am Staatstheater Hannover. 1994 folgten dann die Inszenierungen am Niedersächsischen Staatstheater Hannover von den Stücken Ixypsilonzett und Die elenden Vier (ein Singspiel nach den Bremer Stadtmusikanten; Musik von Christine Weghoff und Arni Arnold). In diesen Jahren entstand neben seinem frei nach Shakespeare gestalteten Prinz Hamlet (veröffentlicht in: Victor 1996: 151ff.)146 auch ein breites Theaterwerk, das im Frankfurter Verlag der Autoren erschien (Waechter 1997) und bei dessen Umsetzung auf der Bühne Waechter nicht nur als Regisseur, sondern teilweise auch als Bühnen- und Kostümbildner fungierte. Außerdem entwickelte er seine ganz eigene Form des so genannten „Erzähltheaters“. Dabei gelang es ihm immer wieder, nur mit einem oder zwei Darstellern figurenreiche Stoffe zu dramatisieren. Mit dem Stück Der singende Knochen (veröffentlicht in: Waechter 1997: 165ff.; wieder in: Waechter 2006) entwickelte 1999 Waechter schließlich eine Art Objekttheatermärchen und veranstaltete damit Lesungen, ergänzt durch kurze Texte aus der Stücksammlung Die letzten Dinge (1992), in denen er seine Zeichnungen mit dem Theater kombinierte und so erzählbare Minidramen entstehen ließ. F.K. Waechter starb am 16. September 2005 in Frankfurt am Main. 3.4.2.1.2 Angaben und Erläuterungen zu Waechters Märchenadaptionen Als Kindertheaterautor begann Waechter sich ab Anfang der 1970er Jahre mit klassischen Märchenstoffen zu beschäftigen. Da besuchte er, wie er sich bei einem 1992 geführten Gespräch erinnert,147 ein Märchenseminar im Dramatischen Zentrum Wien, das ihm einen neuen Blick auf uralte Märchen eröffnete. Dadurch interessierte er sich zum ersten Mal für die sozialen Geschichten, die im Märchen enthalten sind. Zu der Zeit hatte aber auch das so genannte „aufklärerische“ bzw. „emanzipatorische Kindertheater“ (Bauer) Hochkonjunktur (s. Kapitel 1, darin 1.3.6). Da galt es, jenseits der „Weihnachtsmärchen“-Tradition der Stadt- und 146 UA: Tartu Children‘s Theatre, Tartu (Estland), 15.4.2000; Regie: Taago Tubin. Die deutschsprachige Erstaufführung fand erst am 3. Februar 2007 durch das Theater Pfütze (Nürnberg) im Stadttheater Fürth unter der Regie von Maya Fanke statt. Die Pfütze erarbeitete zu der Aufführung des Prinz Hamlet ein theaterpädagogisches Heft zur Vor- und Nachbereitung des Stückes (URL: http://www.theater-pfuetze.de/stuecke/prinz-hamlet/schulmaterial.html; Stand: 4. August 2015). 147 Das Gespräch gewährte Waechter 1992 Ruth Oswald und Christian Bleiker von der Zeitschrift für Kinder- und Jugendtheater TATR. Darstellung und Analyse 239 Staatstheater eine neue, realistische Tradition auf der Bühne aufzubauen sowie neue Spielweisen und Stoffbereiche auszuprobieren, die dem konfliktgeladenen Alltag der damaligen Kinder entnommen werden sollten. Unter emanzipatorischem Anspruch schienen also altbekannte Märchen kaum tauglich, die Ziele der neuen Theaterform transportieren zu können. Sowohl märchenhafte Stoffe als auch Märchenstücke wurden als rückständig verschrien und von der Mehrheit der Kindertheaterschaffenden (u.a. Grips-Theater, Rote Grütze, Birne) seit Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre abgelehnt. Man behauptete nämlich, dass „die aufzufindende Differenz zwischen der Welt in den Märchen und der realen Welt die Kinder von den zu vermittelnden Vorstellungen und Kenntnissen über ihre tatsächlichen Erfahrungen“ fortführte (Kayser 1985: 122). Und trotzdem hat Waechter die Alltagsrealität in seinen Geschichten und ersten Märchenstücken nie direkt ins Bild gesetzt. Darauf hat der Autor selbst in einem Gespräch ausdrücklich hingewiesen: Ich glaube, dass der Alltag in meinen Stücken auch vorkommt, dass es nur eine andere Methode ist, also mehr über die Bilder wirkt. Es ist eine märchenähnliche Form und eine magische und eine übersetzte Form, eine abstraktere Form, also keine naturalistische, realistische Form. (KJTZ 1992: 43) Waechter wehrte sich demnach gegen die Umfunktionierung des Märchens, also das Kaputtmachen der Fantasie um eines neuen Ansatzes willen. Für ihn beinhalteten Märchen trotz aller an ihnen geübter Kritik noch Elemente, die er ansonsten verloren gegangen sah. Eine tote Geschichte bliebe übrig, wenn nur noch die realistischen Bestandteile herausgefiltert würden. Zum Stück Die Bremer Stadtmusikanten vermerkte der Autor z.B.: „In den ‚Stadtmusikanten‘ [...] sollte das Märchen belassen werden, die Reise sollte den Hauptstoff abgeben. Es galt, die Geschichte nicht auf den Realismus hin abzuklopfen und damit tot zu machen“ (Waechter bei Schneider 1984: 75). Hierin unterschied er sich deutlich von den „klassischen“ Vertretern des „emanzipatorischen Kindertheaters“. Zwar entstanden Waechters erste Kindertheaterstücke aus ähnlichen Ãœberlegungen wie Stücke anderer zeitgenössischer Schaffenden aus den Anfängen des „emanzipatorischen Kindertheaters“ (z.B. Grips), doch weiterhin versuchten sie durch das Märchen aussagekräftig, vor allem aber wirkungsvoll zu sein: „Die Grundmuster der Solidarität, sich zusammen gegen Ausbeuter/Zauberer, sich zur Wehr setzen, das sind Grundkonflikte, die schon im Märchen vorhanden sind, uralte Muster“ (Waechter bei Schneider 1984: 76). Auf den Umgang mit Märchen im neuen deutschen KJT am Anfang der 1970er Jahre sowie auf ihre Nutzen ist oft von der Forschung hingewiesen worden, so z.B. Haas (1974: 160): Das für das Märchen charakteristische thematische Muster des Umschlags von Schwäche in Stärke, von Unterlegenheit in Ãœberlegenheit bot eine relativ früh erkannte Möglichkeit, das Märchen agitatorisch einzusetzen oder doch das Erzählmuster für diesen Zweck zu benutzen. Darstellung und Analyse 240 Diese Gedanken griff auch Waechter für seine ersten Märchenstücke auf, bei denen Volksmärchen, wie sie uns aus der Sammlung der Brüder Grimm vertraut sind, als Transportmittel satirischer oder politischer Anliegen verwendet wurden. Dabei galt es nicht allein, die im Märchen enthaltenen Modelle der Konfliktbewältigung herauszuarbeiten und daraus soziale Geschichten zu machen (Schneider 1992: 189), sondern auch den märchenhaften Stoff in eine sozialkritische Darstellung einzubinden. Neben „gesellschaftskritische[m] Bewusstsein“ verbanden sich in Waechters Stücken dann auch noch „Nähe zur naiven Gedankenwelt von Kindern, Sinn für Situationskomik sowie groteske, manchmal makabere Einfälle“ (Heidtmann 1992: 32). Ãœberhaupt stellen Waechters Märchendramatisierungen einen der wenigen Versuche in den 1970er Jahren dar, das Märchen für die deutsche Kindertheaterbühne wiederentdeckt zu haben, zumal „im Rahmen des Anspruchs von emanzipatorischem Kindertheater“ (Kayser 1985: 133). Bedeutsam in diesem Zusammenhang sind neben Waechters frühen Märchenstücken auch die Bearbeitungen durch Hans Mathes Merkel, z.B. das 1977 entstandene Stück Das Märchen vom starken Hans in Zusammenarbeit mit dem Münchner Theater der Jugend, der späteren Schauburg (Lukasz-Aden 1993: 51).148 (Näheres dazu s. Kayser 1985: 126ff.; eine ausführliche Beschreibung des Stückes gibt auch Bauer 1980: 122ff.). Zur Begründung für die Bearbeitung von Märchenstoffen im Rahmen des „emanzipatorischen Kindertheaters“ trug vor allem der Interpretationsansatz vom sozial- emanzipatorischen Gehalt des Märchens bei, wie ihn neben Schedler (1973) auch Richter/Merkel (1974) vertraten. Diese verfolgten bei ihren Untersuchungen zur Frage der Märchenrezeption einen historisch-soziologischen Ansatz. Sie setzten sich mit der Umgestaltung und Umfunktionierung alter Volksmärchen zur bürgerlich gesitteten Kinderliteratur auseinander, beginnend mit der Niederschrift der KHM-Sammlung der Brüder Grimm selbst. Im Gegensatz zu dem dabei zum Ausdruck kommenden Erziehungsgestus der Märchen, betonten Merkel und Richter vor allem deren grundlegenden sozialen Charakter sowie deren Bedeutung und Verankerung bei den niederen Ständen des Feudalismus. Zudem vertraten sie auch den Standpunkt, dass es sich bei den Handlungs- und Figurenkonstellationen ehemaliger Volksmärchen im Kern um Fantasie-Utopien der niederen sozialen Schicht handelte, in denen deren Sehnsucht nach Ausbruch aus bedrückenden Verhältnissen zum Ausdruck gebracht wurde. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, waren Märchen an sich also emanzipatorisch und hatten einen Beispielcharakter. Es kam deshalb darauf an, „Märchen als eine Art Beispiele dafür zu nehmen, wie Unterdrückte von der Ãœberwindung der Unterdrückung träumten oder alle List aufwandten, um sich gegen ihre Unterlegenheit zu behaupten“ (Richter/Merkel 1974: 114). 148 UA: 26.2.1977; Regie: Ensemble (Lukasz-Aden 1993: 119). Darstellung und Analyse 241 Die frühen Märchenstücke Vor diesem Hintergrund entstand 1974 Die Beinemacher als erstes Märchenstück von Waechter. Es erschien im 1969 gegründeten Frankfurter Verlag der Autoren.149 Das Stück, das keine Uraufführung erleben konnte,150 stellte eine Bühnenadaption der 1972 erschienenen Bilderbuchbearbeitung durch Waechter selbst des Grimmschen Märchens Tischchendeckdich, Goldesel und Knüppel aus dem Sack (KHM 36) dar. Solidarität und Freundschaft sind die Themen dieser Adaption, in der dargestellt wird, wie fünf Tischlergesellen (Philip, Uschi, Andreas, Jens und Fritz) von ihrem Meister (Herr Bock) geknechtet werden: Sie sollen das Tischlein-Deck-Dich erfinden. Als es schließlich einem von ihnen (Philip) gelingt, wird er vom Meister zum Erfinder befördert, und auch die Nähe der Meisterstochter (Caroline) wird ihm nicht mehr verwehrt. Die anderen Gesellen, die ebenfalls viel Verdienst an der Erfindung hatten, finden das aber ungerecht und zeigen ihre feindlichen Gefühle mehr und mehr, der Erfinder wird dadurch immer unglücklicher. Als er den Befehl bekommt, zum Schutz des Wundertischchens den Knüppel-Aus-Dem-Sack zu erfinden, weiht er seine einstigen Freunde ein, und gemeinsam nutzen sie die neue Erfindung aus, um sich von der Knechtung durch ihren habgierigen Meister zu befreien. Waechters Märchenstück spielt zwar ebenfalls, wie auch das Grimmsche Märchen, auf dem es beruht, in einer Fantasiewelt, will aber nicht die Vorstellung des Ausgangsmärchens wiedergeben, sondern eine Klassenkampf-Perspektive gegen Unterdrückung aufzeigen. Dementsprechend hat Waechter versucht, die von Richter/Merkel vertretenen Theorien auf seine erste Theaterarbeit anzuwenden. So nahm er eine politisch motivierten Auseinandersetzung mit dem bekannten Märchenstoff auf, die sich, wie Dolle-Weinkauff (1998: 145) darlegt, „in Versuchen einer sozialkritisch angelegten Aktualisierung darbietet“. Insofern brachte das Stück zum ersten Mal in Waechters Kindertheaterschaffen die sogenannten „kleinen Leute“ bzw. die Arbeiterklasse als Opfer zur Darstellung. Dabei suchte er deren Perspektive und zwar mit bewusster klassenkämpferischer Ausrichtung. Dolle-Weinkauff (1998: 145) erläutert weiter zum Stück: „Der Autor verwandelt hier den Stoff in eine antikapitalistische Parabel, die lehrt, dass die Arbeitenden durch Solidarität und Widerstand gegen den Produktionsmittelbesitzer ihren Anteil an den gemeinschaftlich hergestellten Produkten sichern können“. Und tatsächlich endet das Stück damit, dass der Knüppel den bösen Fabrikanten im genauesten Sinne des Wortes aus dem Feld schlägt und dass das 149 Als einer der ersten deutschen Verlage hat der Verlag der Autoren Stücke, die den Anforderungen eines neuen KJTs entsprachen, in sein Programm aufgenommen und vertrieben, sodass er in den späten 60er und frühen 70er Jahren zum Geburtshelfer charakteristischer Produkte des modernen deutschen KJTs wurde. Hierzu „Einladung zur Mitarbeit an einem neuen Kinder- und Jugendtheater“, in: Theater heute, August 1969, S. 33. Weitere wichtige Verlage der Pionierzeit waren auch Oetinger (Hamburg), Thienemann (Stuttgart) und Ellermann (München). 150 Die Beinemacher bleibt immer noch bis heute ein Waechter-Stück, das nie aufgeführt worden ist. Darstellung und Analyse 242 Wundertischschen nun für alle Leute von Breitenrode kostenlos Mahlzeiten bereitstellt (Waechter 1974: 87ff.). Waechter greift dabei zuweilen auch besondere dramaturgische und szenische Strukturen auf, z.B. die Unterbrechung der Handlung durch Lieder bzw. Songs wie im epischen Theater Brechtscher Prägung, die Geschehenes reflektieren oder einzelne Figuren bzw. Figurenbeziehungen charakterisieren, sowie das dynamische Wechselspiel zwischen Erzähl- und Spielebene. Im zweiten Akt beispielsweise lösen Erzähl-, Reflexions- und Spielebene einander ab, gehen ineinander über und ergänzen sich (Waechter 1974: 57ff.). Die Erzählebene vertritt Erwin, eine Handpuppe, die nur aus Kopf und Beinen besteht und als auktorialer Erzähler auftritt. Er ist es, der die Geschichte von den Beinemachern erzählt (Waechter 1974: 12f.). Als Erzähler wendet er sich dabei immer wieder mit direkter Anrede an die Zuschauer, begleitet die Handlung – mal erläuternd, mal singend, mal explizierend und erweiternd, mal relativierend und auch kritisch auf die Haltung von Herrn Bock – und lässt die Zeit vergehen, wie es ihm passt. So z.B. lässt er einen 21 Monate langen Zeitraum überspringen (Waechter 1974: 60f.) oder gibt narrative Zusammenfassungen, die Informationen über nicht auf der Bühne dargestellte Vorgänge einbringen. Daneben hilft er auch den Figuren, wenn nötig, weiter (Waechter 1974: 74) und weiß als Einziger, wie die Geschichte ausgeht. Denn am Schluss geht ihm ein lockerer Spruch über die Lippen: „[...] Die Geschichte ist aus. / Der gehe nach Haus, / der sich nicht freut wie ein Schneider. / Ich freue mich, / ganz fürchterlich. / Und wer sich freut, macht weiter. / Es gibt Musik / und Tanz und Glück – / und lauter lustige Sachen. / Wir haben uns gern / und keinen Herrn. / Das ist ein Grund zum Lachen. [...]“ (Waechter 1974: 89f.) Waechter bedient sich dabei auch noch der seinerzeit im KJT entwickelten, neuen Darstellungsformen. Die Rede ist hier von der Form des „Mitmachtheaters“ (Schneider 1984: 8) und des „Mitspieltheaters“ (Bauer 1980: 101ff.; s. auch Kapitel 1, darin 1.3.7). Insofern sind ins Stück spezifische Elemente beider Theaterformen eingebaut. Zum Beispiel werden die zuschauenden Kinder während des Stückes sukzessive und auf verschiedenen Ebenen in das Spiel der Akteure aktiv einbezogen. Am Ende marschiert man gemeinsam zur Musik der Beinemacherkapelle „durch den Zuschauerraum ins Foyer, ins Treppenhaus, in andere Räume“ (Waechter 1974: 90). Und abschließend feiert man noch zusammen, d.h. Schauspieler und Kinder „unterhalten sich [...], spielen und tanzen, bis alle schlapp sind“ (Waechter 1974: 91). Das aktive Einbeziehen der Kinder wird während des Stückes unterschiedlich intensiv befördert: Einmal werden sie in die Bühnenhandlung durch Aufforderungen zum gemeinsamen Singen, Mitklatschen sowie durch spontane Zwischenrufe einbezogen, einmal ist ihnen eine aktive Rolle zugedacht, d.h. bei der Aufführung wird ein Mitmachen und Mitspielen der Kinder vorausgesetzt, womit wirklich ihr aktives Mittun auf der Bühne gemeint ist. Solche Aktionen werden durch die Bühnenanweisungen schriftlich festgelegt, so heißt es z.B. im dritten Akt: Darstellung und Analyse 243 „(Ein oder mehrere Kinder gehen auf die Bühne um SEBASTIAN zu befreien. Sie sind gerade die Leiter ein wenig hochgeklettert, als sich die Wirtshaustür öffnet. [...])“ (Waechter 1974: 83). Neben solchen Aufforderungen zum Handeln wird auch das Engagement der Kinder gefordert, indem sie z.B. mitbestimmen dürfen, was auf der Bühne geschehen soll. So lässt Waechter einen der Tischlergesellen den Kindern die Frage stellen, ob sie „einen dickeren Turm und Herrn Bock Geld dafür geben“ wollen oder nicht, und lädt damit zur Abstimmung ein (Waechter 1974: 81). Im Anschluss daran kommt es zu einem Tumult im Zuschauerraum und dazu gibt es noch Stimmen gegen den bösen Fabrikanten. Diese klassischen Formen der Publikumsbeteiligung im Kindertheater sind zwar dazu da, um die kindlichen Zuschauer zu aktivieren; z. T. sollen sie sogar entscheidende Auswirkungen auf das Bühnengeschehen haben, indem die Mithilfe und das Mitspielen der Kinder unerlässlich sind, um die Geschichte zu einem guten Ende zu führen. Aber von interaktivem „Mitmach“- oder „Mitspieltheater“ im engeren Sinne kann dabei nicht die Rede sein. Denn das Mitspiel selbst ist bei Waechter ein vorgeführtes und in den Dialogen und Regieanweisungen detailliert festgelegt. Außerdem zeichnen sich die Formen des „Mitmach“- und „Mitspieltheaters“ dadurch aus, dass es keine von Anfang an festgelegten Rollenfiguren gibt, sondern diese im Rollenspiel entstehen, wobei das Publikum den gesamten (Szenen-)Aufbau und die Entwicklung der Figuren beobachten kann. Das ist bei Die Beinemacher jedoch nicht der Fall. Im Hinblick auf die szenische Darstellungsform bedient sich das Stück vielmehr der Dramaturgie des so genannten „Vorführtheaters“ (Bauer 1980: 75ff). Die Interaktion mit den kindlichen Zuschauern beschränkt sich hierbei auf „die kommunikative Ebene von Perzeption und Apperzeption“ (Taube 1998: 38), d.h. die Zuschauerbeteiligung engt sich auf die scheinbar passive sinnliche Wahrnehmung ein, die sich vor allem durch Stille und Regungslosigkeit des Publikums zeigt, aber natürlich keineswegs geistige Passivität meint. Angeregt durch den antiautoritär-emanzipatorischen Impetus des KJTs der frühen 1970er Jahre, der vor allem auf soziale Aufklärung gerichtet war, richtete sich das Waechtersche Spielkonzept beim Erstlingswerk tatsächlich gegen eine bloß kontemplative und passive Rezeption der Zuschauer. Durch Mittel der Desillusionierung und spielerischen (und gleichzeitig geistigen) Aktivierung des Kindepublikums suchte der Autor der passiven Konsumhaltung im traditionellen Kinder- bzw. Märchentheater zu begegnen. Die Verbindung zu den üblichen Vertretern des „emanzipatorischen Kindertheaters“, etwa dem Grips-Theater oder der Rote Grütze, wird hier deutlich. In einem wichtigen Aspekt unterscheidet sich Waechter jedoch von ihnen: „Während das ‚realistisch‘ genannte Kindertheater die Phantasie der Zuschauer unmittelbar auf deren eigenen Erfahrungsbereich lenkt, will jenes, das auf märchenhafte Formen zurückgreift, darüberhinaus Konzeptionen entwickeln, die überhaupt die ‚Produktion‘ von Phantasie bei den Kindern befördern“ (Kayser 1985: 163). Darstellung und Analyse 244 In diesem Sinne ist Waechters Die Beinemacher folgende Regieanweisung vorangestellt: „Als Eintrittskarte gibt es einen Ausweis (als Tischler bei der Tischlerei Harald Bock eingestellt am ...... Name ...... Vorname ...... geb. am ...... in ...... etc.) und ein Heftchen“ (Waechter 1974: 4). Auf diesem sind die Erfindungen, die der Tischlergeselle Philip gezeichnet hat, sowie überwiegend leere Seiten für neue Erfindungen und die Liedertexte des Stückes. In der Anweisung steht auch beschrieben, wie der Eingang zum Zuschauerraum genau aussehen soll – und zwar „wie ein Fabriktor. Darüber steht: Tischlerei Harald Bock - und an der Tür: Unbefugten Zutritt verboten“ (Waechter 1974: 4). Im Laufe des Stückes werden Schauspieler und „Zuschauer-Mitspieler“ derart zu einer Spielgemeinschaft, sodass die Kinder zu Mitarbeitern der Arbeitsstätte bzw. der Werkstattabteilungen Leimerei und Sägerei werden und gemeinsam mit den Beinemacher-Schauspielern Neues erfinden sollen, wie sich im zweiten Aufzug des ersten Aktes deutlich sichtbar zeigt (Waechter 1974: 37ff.). Die Verbindungen zu parallelen Theaterarbeiten Waechters (z.B. Pustekuchen) liegen hier auf der Hand. Auch zu den ersten „Mitmach“-Bilder- und Kinderbüchern: Denn das kreative Spiel der Kinder war bereits in vielen seiner ersten Texte nicht nur Thema, sondern auch unverzichtbarer Bestandteil der Textpräsentation, so z.B. im Bilderbuch Wir können noch viel zusammen machen (1973). Charakteristisch für die Anfangsphase des Waechterschen Kindertheaterschaffens waren auch die beiden Märchenstücke Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (1975) und Die Bremer Stadtmusikanten (1977), also zwei weitere Stücke mit Stoffen aus den KHM der Brüder Grimm. Beide Märchendramatisierungen reihen sich durchaus in die Tradition des „emanzipatorischen Kindertheaters“ ein, womit die bereits von Waechter angefangene gesellschafts- und autoritätskritische Tenzenz bzw. Politisierung des zugrunde liegenden Märchenstoffs fortgesetzt wird. Besonders hervorgehoben wird z.B. der schon bei den Grimms eingeschriebene autoritätskritische Impetus der Bremer Stadtmusikanten-Geschichte durch der Dialog der Figuren am Anfangsteil. Hier ist es vor allem die Ausbeutung der Tiere, die thematisiert wird. So verlassen Esel, Hund, Katze, Hahn jeweils ihre undankbare Herrschaft, um sich gemeinsam eine bessere Zukunft zu schaffen (Waechter 1991a: 53ff.). Formal zeigen beide Bühnenbearbeitungen auch in vielerlei Hinsicht gemeinsame Züge mit Die Beinemacher, worauf die Forschung häufig hingewiesen hat: Einführung epischer Elemente, Ãœbernahme von Musik – nicht als Rahmen um das Stück, sondern als liedhafte Einlage dazwischen – usw. Nach Dolle-Weinkauff (1998: 145) ließen sich beim Vergleich der einzelnen Stücke untereinander allerdings auch Veränderungen und Entwicklungen im dramaturgischen Konzept ebenso wie in der Behandlung des Grimmschen Stoffes feststellen. Während dabei die sozial- und autoritätskritische Thematik zwar fortgesetzt werde, d.h. die Interpretation der Märchenhelden als gesellschaftliche Underdogs, die sich zur Wehr zu setzen haben, konstant bleibe, sei doch ein allmähliches Abrücken von der unmittelbaren Aktualisierung zu beobachten, wie sie z.B. bei Die Beinemacher vorgeführt wird. Beim Teufel- Darstellung und Analyse 245 Stück sei dann eine Tendenz zur Historisierung im Sinne eines Hineintragens der Kämpfe der Gegenwart in die Beschreibung und Deutung der Vergangenheit sichtbar. Im Interview mit Oswald/Bleiker (1992) berichtete Waechter: „Diese erste Bearbeitung hatte eigentlich ganz wenig vom Märchen. In diesen frühen 70ern wurden Märchen dazu benutzt, irgendwelche politischen Geschichten deutlich zu machen, als dass man die Märchenform in ihrer Qualität erkannte und beließ“. Im nächsten Abschnitt wird mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Entwicklung von Der Teufel mit den drei goldenen Haaren innerhalb der Gesamtheit von Waechters Märchentheater anhand der vier, in unserem Korpus vorliegenden Fassungen des Stückes eingegangen. Im Vorgriff darauf sei hier allerdings schon mit Dolle-Weinkauff (1998: 146) nahegelegt: Steht in der Version von 1975 der Gewinn an dramaturgischer Kohärenz sowohl durch ein ausgefeiltes Rollenkonzept, einen einheitlichen historisierenden Stil und die Einführung epischer Elemente im Vordergrund, so sind die letzteren in der Fassung von 1982 teilweise wieder zurückgenommen. Waechter verfolgt hier das Konzept einer in erster Linie auf Verstärkung der dramatischen Bewegung, szenische Wirkung und Bildlichkeit setzenden Spielweise [...]. Auch bei Die Bremer Stadtmusikanten sei nach Dolle-Weinkauff „eine Neureflexion und Intensivierung der dramaturgischen Gestaltung“ (1998: 146) feststellbar. Gerade in diesem Sinne ist die der Uraufführungsfassung von 1977 vorangestellte Vorbemerkung zur Figurendarstellung zu verstehen, in der Waechter Ãœberlegungen zur optischen Wahrnehmung anstellt (Waechter 1977: o.S.). Das neue Konzept fand dann auch Eingang in weitere Waechtersche Märchenstücke, wie z.B. das selbsterfundene Märchen Der Schweinehirtentraum und die Adaption Der Wind (veröffentlicht in: Victor 1998: 201ff.) nach dem Grimmschen Märchen Schneeweißchen und Rosenrot (KHM 161) zeigen. (Näheres zu Der Schweinehirtentraum und dessen Inszenierung 1991 am Jungen Theater Göttingen in: KJTZ 1992: 41ff.). Die zweite Phase (90er Jahre) In den Jahren 1990 bis 1997 entstand neben weiteren Stücken (u.a. dem Clownsstück Ixypsilonzett) eine Vielzahl an Märchentheaterstücken für einen einzigen Schauspieler, die 1997 als Sammelband in der Reihe »Theaterbibliothek« vom Frankfurter Verlag der Autoren herausgegeben wurden. Dabei entwickelte Waechter neue dramaturgische Formate nach einem von ihm selbst als „Erzähltheater“ bezeichneten Konzept, in dem das Erzählen zur wichtigsten Kategorie der Märchendramatisierung wurde. Dadurch hat Waechter jene Theaterform wieder neu entdeckt, „die von den Rhapsoden der Antike, den fahrenden Spielleuten des Mittelalters, Darstellung und Analyse 246 den Balladen- und Moritätensängern des letzten Jahrhunderts bis zum Mistero buffo des italienischen Spielmanns Dario Fo reicht“, wie es im Klappentext des Bandes steht, und führte damit also eine lange Tradition fort: die des spielenden Erzählens von Geschichten. Bei Der alberne Hans (Waechter 1997: 145ff.), das eine Bühnenfassung des Grimmschen Märchens Der arme Müllersbursch und das Kätzchen (KHM 106) darstellt, hat sich Waechter z.B. die Katze als Erzählerin vorgestellt, die unsichtbar in Hans‘ Schatten alle Abenteuer des Helden miterlebt (Waechter 1997: 164). Neben dem Zurückgreifen auf episch erzählende Strukturen galt es dabei auch, den Vorgang der Verwandlung – wie Waechter ihn bei Objekten und Fundstücken Ende der 1980er Jahre entdeckt hatte – zu intensivieren und ihn auf die Spitze zu treiben. Im Vorwort zum 1997 publizierten Sammelband schrieb der Autor entsprechend dazu: „Ein einziges Requisit, ein Stuhl, ein Stock, ein Hut kann zum entscheidenden Mittel werden, mit dem der Erzähler spielend seine Geschichte anschaulich macht, ohne die Phantasie des Zuschauers durch eine allzu naturalistische Darstellung zu beengen“, wobei in „jeder neuen Geschichte eine andere Erzählweise und Erzählhaltung zu entwickeln versucht“ wurde (Waechter 1997: 10f.). Tatsächlich versuchte Waechter in den zehn Stücken der Sammlung, die Wahrnehmungsgewohnheiten der jungen Zuschauer immer wieder neu herauszufordern, sie gleichzeitig zu schärfen, und dabei ihre Fantasie mit einem minimalen Aufwand anzuregen. So zeichnet sich z.B. Der singende Knochen (Waechter 1997: 165ff.) besonders durch die Reduktion auf das Allernötigste aus. Als wesentliche Requisiten bemüht Waechter dabei „eine Pfeffermühle, ein Glas, zwei unterschiedliche Rotweinfläschchen, eine Kerze, eine Streichholzschachtel aus der drei Streichhölzer schaun, ein[en] Würfelbecher mit drei Würfeln und ein[en] Salzstreuer“, die wie Figuren auf einem Schachbrett von dem Darsteller hin und her geschoben werden sollen (Waechter 1997: 167ff.), um damit die Geschichte des singenden Knochens lebendig werden zu lassen. Dabei hat der Darsteller „den Erzähler zu spielen, und als solcher kann er auf souveräne Weise alle Figuren seiner Geschichte“ (Waechter 1997: 9) in Szene setzen. Insofern schlüpft er während des Erzählens fließend in alle Rollen. Diese werden nur durch Mimik, Gestik und Bewegung ausgedrückt, um so ganz unmittelbar und individuell Bilder in die Köpfe des Publikums zu bringen (Waechter 1997: 10). Dabei geht es also vor allem darum, das Märchen erzählend zu spielen (s. 3.4.2.2.4). Basierend auf dem Konzept des „Erzähltheaters“, das eine Rückbesinnung auf das Wesentliche, also auf das ursprüngliche Erzählmedium des Märchens bedeutete und Waechter aus diesem Grund als die der Gattung gemäße Darstellungsform erschien, wurden dann weitere Stücke entwickelt. Es ist in diesem Sinne Waechters Verdienst, nicht nur die Form des „Erzähltheaters“ in dem größten Teil seiner Märchenstücke ab den 1990er Jahren konsequent umgesetzt, sondern diese zugleich im modernen deutschen Kindertheater bzw. Märchentheater etabliert zu haben. Darstellung und Analyse 247 Das späte Schaffen Von Anfang der 2000er Jahre an bis zu seinem Tod 2005 hat Waechter aus teils überlieferten, teils erfundenen Motiven weitere Märchenstücke geschaffen. So sind in dem posthum erschienenen Sammelband Der singende Knochen und andere Theatermärchen (2006) drei der elf Texte Eigenschöpfungen, angelegt in verschiedenen dramaturgischen Formen. Dazu gehören Das Streichholz (UA: Theater der Jungen Welt, Leipzig, 7.6.2008; Regie: Dirk Baum), Die Krokodile und Der schwarze Stern, geschrieben 2004 (UA: Theater Oberhausen, 18.3.2007; Regie: Franz Xaver Zach). Andere Texte sind Varianten von Stoffen, die Waechter vorher bereits verwendet hatte, z.B. Der Narr des Königs (2003; UA: Theater Heidelberg, 21.2.2003. Regie: Michael Quast/F.K. Waechter) oder Der alberne Hans (UA: Düsseldorfer Kinder- und Jugendtheater, 4.11.2004; R: Gerald Gluth). Und anderen Stoffen hat er sich erstmals zugewandt, etwa dem Märchen Der Bärenhäuter (KHM 101) in Der Höllenhund (2005). Dazu gehören auch die nicht so bekannten Grimmschen Geschichten Von dem Machandelboom (KHM 47), aus dem sich das Stück Von dem Machandelbaum (2003) entwickelte, sowie Der Eisenofen (KHM 127), aus dem 2005 das gleichnamige Märchenstück entstand. Darin fehlt allerdings „der Handlungsstrang mit den Itschen (Kröten), die der Königstochter helfen, ihren Geliebten wieder zu finden und zurückzuerobern. Im Gegenzug dazu hat Waechter in seiner Fassung [...] einen kleinen Vogelschwarm hinzuerfunden, der zwitschernd die Handlung begleitet, sie aus der Höhe beschreibt und dabei die Funktion eines Erzählers übernimmt. Die Dramaturgie des Märchens erinnert damit an eine Ballade“, wie es in der Beschreibung zum Stück durch den Verlag heißt. Die Kunst des Ãœberarbeitens Während seines gesamten Kindertheaterschaffens kam es immer wieder vor, dass Waechter den verschiedenen Bedingungen verschiedener Produktionen dadurch Rechnung trug, dass er im Laufe der Zeit seine eigenen Bearbeitungen weiterentwickelte oder umgestaltete. Daher liegen oft verschiedene überarbeitete Fassungen von einigen seiner Märchenstücke vor. So hat Waechter z.B. seine Bremer Stadtmusikanten-Bühnenbearbeitung aus dem Jahr 1977 mehrfach an andere Bühnenformen und Ensemblestrukturen angepasst. 1994 hat er den berühmten Märchenstoff neu erfunden und ihn zu einem Singspiel verarbeitet: Die elenden Vier (UA: Niedersächsiches Staatstheater, Hannover, 15.10.1994). Dem folgte 1995 Bremer Wind, das nun als Musikstück konzipiert wurde (UA: Schauburg, München, 17.6.1995; Regie: R: Peer Boysen; Musik von Raymund Huber und Toni Matheis).151 151 Nähere Angaben zur Aufnahme von Waechters Stück durch das Ensemble der Schauburg unter: Darstellung und Analyse 248 Ähnliches gilt auch für Der Teufel mit den drei goldenen Haaren, Waechters wohl bekanntestes Märchenstück. Insgesamt sind vor allem vier Fassungen davon zu unterscheiden. Die erste Fassung wurde 1975 geschrieben. Dieser folgte 1982 eine überarbeitete Fassung. 1988 wurde dann eine Ãœberarbeitung dieser Ausgabe verlegt. Schließlich erstellte Waechter 1991 für das Junge Theater Göttingen eine Fassung, die für nur einen Schauspieler ausgelegt wurde. Eine spätere stark abgewandelte Adaption des Teufel-Stückes stammt aus dem Jahr 2003 (veröffentlicht in: Waechter 2006). Diese Fassung trägt allerdings einen geänderten Titel (Der Narr des Königs), entstand in Koproduktion mit dem Theater Heidelberg und wurde für den Schauspieler und Kabarettisten Michael Quast (geb. 1959) maßgeschneidert geschrieben. Von Der alberne Hans liegen auch unterschiedliche Varianten vor. So gibt es neben der erwähnten Erzähltheater-Fassung (gedruckt in: Waechter 1997: 145ff.) auch eine musikalische Fassung für sechs Schauspieler, die am 4.11.2004 vom Düsseldorfer Kinder- und Jugendtheater (Regie: Gerald Gluth) uraufgeführt wurde. Einige Jahre davor, im Jahr 2000, hatte Waechter bereits ein Bilderbuch zum Stück verfasst. Damit hatte er einen eher ungewöhnlichen Schritt in der literarischen Produktion durchgeführt, indem sein Stück als Grundlage für ein Kinderbuch diente und sich nicht auf ein bereits verlegtes (Kinder)Buch stützte. An den hier angeführten Beispielen wird offensichtlich, wie lange und intensiv sich Waechter mit einem bestimmten Märchenstoff auseinandersetzte und die jeweils ideale Form suchte. Insofern ist zu Recht von der Forschung (Dolle-Weinkauff z.B.) darauf hingewiesen worden, dass Waechters Märchenstücke keine bloßen Paraphrasierungen der epischen Vorlagen darstellen, sondern eigenständige und eigenwillige Adaptionen sind. Mit seinen Bühnenmärchen hat Waechter tatsächlich den sonst sentimentalen Märcheninterpretationen, also den auf den städtischen und privaten Bühnen als „Weihnachtsmärchen“ aufgeführten Märchenbearbeitungen, eine ganz neue Alternative entgegengesetzt. Im Vergleich zur traditionellen und konventionellen Bearbeitungspraxis, die Märchenspiele mit viel Klamauk und Spektakel (Prügelszenen, Verfolgungen, Verwechslungen, Verkleidungen) sowie zahlreichen typischen Elementen des Barocktheaters, vor allem der „Féerie“ (u.a. karikaturhafte Figuren, großer Requisiten- oder Bühnenbildaufwand) lieferte (s. 1.3.2), versuchte Waechter, eine neue Zugangsweise zu den Grimmschen Märchenvorlagen zu finden. Er hat nicht nur die seinen Stücken zugrunde liegenden Märchen inhaltlich abgewandelt und diese in gradueller Weise im Laufe der Zeit verändert, sodass es, wie oben dargelegt, von einigen seiner Märchenstücke unterschiedliche Varianten gibt. Er hat sich auch methodisch den altbekannten Geschichten völlig neu genähert, damit seine Dramatisierungen dem Wesen des Märchens gerecht wurden. Dabei hat Waechter, insbesondere in den späten Jahren seines Wirkens ab 1990, das Ineinander und Miteinander von Spielen und Erzählen auf der Bühne ausprobiert: Beim http://www.schauburg.net/php/artikel.php?code=77 (abgerufen am: 24.04.2015). Darstellung und Analyse 249 Bearbeitungsprozess blieb einerseits die Besonderheit des Märchens bewahrt, sodass die Figuren und Schauplätze erst in der individuellen Fantasie der jungen Zuschauer ihre eigentliche Gestalt angenommen haben. Andererseits wurden nicht nur die dramatischen Konventionen allmählich aufgelöst, sondern auch zwei wesentliche Spezifika des Theaterspiels bewahrt: die Schauspieler und das Publikum. Dabei wurden überhaupt die konventionellen Gattungsgrenzen gesprengt, weil Waechter als Autor nicht in Gattungen bzw. Formen gedacht hat, sondern die Formen aus dem Darzustellenden bzw. Dargestellten, also aus dem Inhalt bezogen hat. Im Laufe seines Kindertheaterschaffens hat Waechter insofern eine eigene Dramaturgie entwickelt, die nicht nur dem Märchentheater, aber auch dem deutschen Kindertheater im Allgemeinen neue Horizonte eröffnet hat. Die verschiedenen Fassungen des „Teufel“ Kein Märchenstoff hat Waechter so lange und immer neu beschäftigt wie Der Teufel mit den drei goldenen Haaren (KHM 29). Schon früh begeisterte er sich für die Grimmsche Geschichte von dem jungen Mann, der nicht, als er zum Königshof kommt, hingerichtet wird, wie es der König in einem Brief verlangt hat, sondern die Prinzessin zur Frau bekommt. 1974 hat Waechter sich erstmals diesem bekannten Stoff der Brüder Grimm zugewandt und daraus die erste frühe Version für die Bühne erarbeitet. So entstand 1975 Der Teufel mit den drei goldenen Haaren in einer ersten Fassung mit 33 verschiedenen Figuren. Die Ausgabe übernahm im gleichen Jahr der Münchner Verlag Ellermann. Seine Premiere feierte das Stück allerdings erst Jahre später: Es wurde am 28.2.1981 im Münchner Theater der Jugend unter der Regie von Udo Schön urauffgeführt (Lukasz-Aden 1993: 121). Nach der Uraufführung unternahm Waechter den Versuch, das Stück umzuschreiben, und seither sind, wie weiter oben vermerkt, mehrere Neufassungen entstanden. Unter anderen auch diejenige, die eine stark abgewandelte Version des Stückes ausmacht: Der Narr des Königs (2003). 1982 erfolgte die erste Ãœberarbeitung des Teufel-Stückes für den Buchhandel, die nun vom Verlag der Autoren in Frankfurt herausgegeben wurde. Sechs Jahre später, also im Jahr 1988, wurde dann eine zweite überarbeitete Fassung des Stückes auch vom gleichen Verlag verlegt. Der Text wurde in dem Sammelband »Spielplatz 1« (Victor 1988: 97ff.) abgedruckt und stellte eine riesige, in die Länge gezogene Variante mit etwa 50 Rollen dar. Die Premiere fand am 3.12.1988 im Straßenbahndepot von den Städtischen Bühnen in Frankfurt in einer Inszenierung durch Winni Victor (geb. 1951) statt. Das Bühnenbild und die Kostüme für die Inszenierung entwarf Waechter selbst. Diese erweiterte Neufassung wurde auch in Stuttgart unter Regie und Bühnenbildgestaltung von Waechter uraufgeführt. Das Stück war dann am 8.12.1989 auch noch in Freiburg als erste Nachaufführung (Regie: Dieter Kümmel) zu der in Stuttgart bereits gegebenen Aufführung zu sehen. Damit wurde das Freiburger Kinder- und Jugendtheater bzw. Darstellung und Analyse 250 Theater im Marienbad eröffnet.152 Anfang der 1990er Jahre sah Waechter eine weitere, grundlegende Ãœberarbeitung des Teufel-Stückes vor, nun mit einem etwas veränderten Titel: Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Diese sollte im Geist des „Erzähltheaters“ entwickelt und geschrieben werden, d.h. „für nur einen einzigen Darsteller“, der auf eine Rolle reduziert werden sollte: die des Märchenerzählers (Waechter 1997: 9). Als solcher und bei der Aufführung nur mit einem Kostüm ausgestattet und auf einem Fußbänkchen sitzend, sollte er spielend die altbekannte Teufel-Geschichte der Brüder Grimm erzählen. Dabei hatte er jede einzelne im ursprünglichen Märchen auftretende Figur zu spielen, und zwar durch vielfältige schauspielerische Mittel, vor allem Mienen- und Stimmenspiel unterstüzt. So entstand die überarbeitete Fassung des Textes (gedruckt im Sammelband: Waechter 1997: 13ff.),153 die Waechter gemeinsam mit der hannoverschen Schauspielerin Verena Reichhardt (geb. 1953) erarbeitet hatte und erstmals am 30. Juni 1991 am Jungen Theater Göttingen aufgeführt wurde. Zur Göttinger Inszenierung durch Reichhardt überarbeitete Waechter nicht nur den Text, sondern führte auch die Regie, was die Bedeutung der von ihm gewählten Erzähltheaterform unterstreicht. Durch das „Erzähltheater“ und seine spezifische Art der Darstellung ist es Waechter gelungen, den Aufführungsstil bis ins Detail hinein dem Wesen des Märchens gerecht werden zu lassen. Er kam auch zur Erkenntnis, dass die Erzählung als Einpersonenstück bzw. episch- dramatische Kleinform die der Gattung gemäße theatrale Darstellungsform war (Waechter 1997: 9). In seiner Vorrede zum Erzähltheater-Band 1997 stellte Waechter sehr allgemeine Ãœberlegungen über die Besonderheit der Erzähltheaterform an und wies insofern darauf hin, dass es eine Form sei, „in der, [...], höchste Schauspielkunst mit dem zusammenkommt, was wir kennen, wenn einer am Kneipentisch oder an der Straßenecke hingerissen von dem, was er erlebt hat oder gerne erlebt hätte, losgeht und Talent, Glück, Gnade, manchmal sogar Alkohol ihm dabei die Flügel leihen, sodass er das, was er sagen will, auf eine wunderbar stimmige Weise tut“ (Waechter 1997: 10). Als Grenzgänger zwischen epischer und dramatischer Dichtung bot die Form des „Erzähltheaters“ für Waechter auch Raum für das Experimentieren und das Einbringen eigener Ideen seitens der Schauspieler (Waechter 1997: 10f.). Gleichzeitig führte sie als theatrale Darbietungsform an die Grenzen der dramatischen Gattung, ja sogar zu ihrer Ãœberschreitung, so wie es sich am Text Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren gut erkennen lässt. Gerade die episch erzählende Form verleiht diese Teufel-Fassung eine besondere Stellung in der langen Reihe von Waechters Märchenstücken. 152 Zur Freiburger Inszenierung s. die zahlreich erschienene Presse, v.a. die Rezension durch Manfred Jahnke in der Stuttgarter Zeitung vom 20. Dezember 1989; auch Andrea Köhlers Kritik in der Badischen Zeitung (11.12.1989) sowie die Rezension durch Claudia Michels in der Frankfurter Rundschau (15.12.1989). Ferner s. Schneider (1992: 190f.). 153 S. auch die Uraufführungsfassung mit dem Titel Verena Reichardt erzählt vom Teufel mit den 3 goldenen Haaren in dem vom Jungen Theater Göttingen herausgegebenen Heft. Darstellung und Analyse 251 Mit der grundlegenden Neubearbeitung des Teufel-Stückes als Einpersonenstück schloss sich der Kreis der Teufel-Bearbeitungen. Das war allerdings noch nicht die endgültige Fassung: 2003 bearbeitete Waechter noch einmal seine Göttinger Ein-Personen-Fassung, diesmal aber mit einem komplett neuen Titel: Der Narr des Königs. Das Stück, das auch als Erzähltheaterstück vorgeführt wurde, wurde am 21.2.2003 am Theater Heidelberg uraufgeführt. Dabei übernahm Waechter wieder die Regie. Als Spiel im Spiel konzipiert wurde diese Variante anders als in der Version von 1991 nicht mehr aus der Perspektive der Teufelsgroßmutter erzählt, sondern aus der Sichtweise des Hofnarren Kwast. Dieser, der wie Scheherazade gegen seine Vernichtung anerzählen muss, erzählt dem gelangweilten und bösen König die Geschichte vom Teufel mit den drei goldenen Haaren, die auch die Geschichte von einem armen Fischerjungen ist, der eine Königstochter begehrt. Und wieder – genauso wie die Teufelsgroßmutter bei der Fassung von 1991 – muss Kwast beim Erzählen in die Rollen der fünfzig unterschiedlichen Figuren seiner Geschichte schlüpfen.154 Der hier dargelegte Wandel vom Ensemblespiel zum „Erzähltheater“ dargestellt am Beispiel vom Teufel-Stück ist eigentlich kennzeichnend für Waechters gesamtes Kindertheaterschaffen und lässt sich auch sonst im deutschen KJT der 1990er und Anfang der 2000er Jahre beobachten (vgl. Schneider 1998b: 41ff; auch Jahnke 1999: 188ff.; 2002a: 28f. u. 2002b: 195ff.). Der Wechsel von der einen theatralen Darbietungsform zur anderen fand allerdings nicht plötzlich, sondern in mehreren Etappen statt. Die einzelnen Stufen sollen im Folgenden anhand der Analyse der verschiedenen im Korpus vorhandenen Fassungen des Teufel-Stückes dargestellt werden. 3.4.2.2 Analyse und Deutung des Stückes Der Teufel mit den drei goldenen Haaren Besonders mit den unterschiedlichen Fassungen von Waechters Teufel-Stück, die uns heute vorliegen, kann die bühnenmäßige Ausdehnung eines Grimmschen Volksmärchens exemplarisch begriffen werden. Die Fassungen, von denen hier die Rede sein soll, sind die bereits erwähnte Urfassung von 1975 sowie die zwei überarbeiteten Fassungen von 1982 und 1988 (alle drei mit immer dem selben Titel: Der Teufel mit den drei goldenen Haaren), daneben auch die 1991 geschriebene, für einen einzigen Schauspieler konzipierte Version mit dem veränderten Titel Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren. Unberücksichtigt bleibt die 2003 entstandene Neufassung unter dem Titel Der Narr des Königs, da sie eine stark abgewandelte Version bildet und damit zu einem neuen Stück geworden ist. Die Schwerpunkte der Analyse liegen auf Inhalt und Dramaturgie, also auf der Gestaltung von Handlung und Figuren. Die verschiedenen Fassungen des Teufel-Stückes sind alle einander 154 Dazu die Rezension von Eva-Maria Magel in der FAZ (13.11.2003) zur Frankfurter Inszenierung im Mousonturm. Darstellung und Analyse 252 nach Inhalt sehr ähnlich. Dennoch existieren bedeutende Unterschiede in der Form. Bei der Analyse sollen die Veränderungen am dramaturgischen Aufbau und am Figurenbestand der vier Versionen hinsichtlich dessen ausgewertet werden, ob sie neue Erkenntnisse zur Umwandlung von Märchen in Theaterspiel liefern. 3.4.2.2.1 Die Grimmsche Märchenvorlage als Quelle Grundlage für alle Teufel–Bühnenbearbeitungen durch Waechter ist das altbekannte und weitverbreitete Märchen (KHM 29), das uns heute aus der Sammlung der Brüder Grimm vertraut ist (Scherf 1995: 1182ff.). Das Märchen erzählt von einer armen Frau, die einen Sohn mit Glückshaut zur Welt bringt, dem geweissagt wird, er werde die Tochter des Königs heiraten. Der König erfährt davon und will unter allen Umständen verhindern, dass sich die Weissagung erfüllt. Deshalb wirft er das Neugeborene in einer Schachtel ins Wasser. Diese aber geht nicht unter, sondern schwimmt den Fluss hinab zu einem kinderlosen Müllerpaar, das das Kind wie einen eigenen Sohn großziehen. Als der König vierzehn Jahre später in die Mühle kommt und davon hört, dass sein Mordanschlag misslungen ist, schickt er den Jungen mit einem Brief an die Königin zu seinem Schloss. In dem Brief aber steht, dass der Ãœberbringer sofort getötet und begraben werden soll. Doch auf dem Weg zum Königshof verirrt sich der Junge im Wald und übernachtet bei Räubern, die aus Mitleid den Brief vertauschen, sodass er mit der Tochter des Königs vermählt wird und die Weissagung sich erfüllt. Als der König zurückkehrt, kann er kaum fassen, dass all seine Ränke wieder nicht genutzt haben. So stellt er seinem Schwiegersohn eine schwierige Aufgabe, in der Hoffnung, ihn endgültig loszuwerden: Er soll drei goldene Haare vom Kopf des Teufels besorgen, dann könne er seine Tochter behalten. Unterwegs zur Hölle erhält er drei Aufträge: zu erkunden, warum ein Brunnen austrocknet, der sonst Wein gab; warum ein Baum verdorrt, der sonst Goldäpfel trug; und ein Fährmann will auch noch wissen, warum er sein Leben lang hin- und herfahren muss. Mit dem Versprechen, darauf eine Antwort zu geben, wird der Junge über den großen Fluss gesetzt, hinter dem der Teufel wohnt. In der Hölle trifft er zunächst auf die Ellermutter des Teufels, die, nachdem er ihr von seinem Auftrag berichtet hat, die drei Goldhaare zu bringen, Mitleid mit ihm hat und ihn als Ameise in ihrem Rock verbirgt. Sie verspricht auch, ihr Bestes bei den drei zusätzlich aufgetragenen Fragen zu tun. Dem heimkehrenden Teufel, der Menschenfleisch wittert, gibt sie dann zu essen, laust ihn und bringt ihn zum Einschlafen. Dreimal rupft sie dem schlafenden Teufel ein Goldhaar aus, wobei dieser jedesmal halb erwacht. Im Halbschlaf vermittelt er die drei Geheimnisse: vom Brunnen, dem Baum und dem Fährmann. Auf dem Brunnenloch sitzt eine Kröte, die Baumwurzel wird von einer Maus genagt und der Fährmann müsse einfach nur dem nächsten Fahrgast die Ruderstange geben, dann wäre er abgelöst. Als der Junge die Ellermutter verlässt, gibt er dem Fährmann den Rat des Teufels Darstellung und Analyse 253 weiter, und lässt die Kröte im Brunnen und die Maus in der Baumwurzel töten, wofür er je zwei Esel mit Gold bekommt. Wegen der goldenen Haare kann der König ihm seine Tochter nun nicht länger verweigern, doch das viele Gold weckt seinen Neid. Und so sagt der Junge dem habgierigen König, das Gold liege wie Sand am anderen Ufer des Flusses. Der König macht sich auf den Weg und dort gibt ihm der Fährmann die Stange, sodass er von nun an an die Fähre bedienen muss. 3.4.2.2.2 Erste Bühnenbearbeitung Ganz genau hat es Waechter nicht genommen, als er 1975 aus der klassisch gewordenen Grimmschen Erzählung den Stoff für die Bühne zum ersten Mal entwickelte. So enthält Waechters erstmalige Bühnenbearbeitung des Teufel-Märchens bemerkenswerte inhaltliche Abweichungen von ihrem erzählerischen Vorbild. Auch wenn es wie eine Wiederholung vorkommen kann, wird nun an den Inhalt der Handlung erinnert, um Waechters Abweichungen zu bezeichnen. Inhaltsübersicht Das Stück erzählt die Geschichte eines jungen Bauernknechts, der ebenfalls wie schon beim Grimmschen Märchen auch mit einer Glückshaut auf die Welt gekommen ist und dazu bestimmt ist, die Königstochter zu heiraten. In der Bearbeitung durch Waechter hat dieser junge Knecht allerdings nichts zu geben, nicht einmal das eigene nackte Leben: Zu Beginn der Handlung hängt er tot gemeinsam mit zwei Mitknechten an einem Baum, weil er die vom König geforderte Abgabe nicht zahlen konnte. Doch das Leben wird ihm wunderbarerweise wieder eingehaucht. Da fürchtet er nicht nur den Teufel nicht, sondern hat auch vor dem König und dem Tod keine Ehrfurcht mehr. Kaum auferweckt gerät er schon in die Fänge einer kleinen Schar königstreuer Soldaten, die ihn aufgreifen und sogleich zu einem Söldner ausbilden möchten. Er soll des Königs Uniform tragen. Da kommt der Herrscher persönlich vorbei, begleitet von seinen beiden Ratgebern, einem mäusegesichtigen Minister und einem krötenhaft aussehenden Prälaten. Als der Knecht Anspruch auf die Königstochter als Frau erhebt, nehmen diese an, der Junge sei vom Teufel besessen. Deshalb nehmen sie es zum Anlass, ihm nach dem Leben zu trachten. Und so wird der Knecht, nunmehr Königssoldat mit einer tödlichen Botschaft durch den Wald zum Schloss ausgeschickt: Erschlagen ihn die schwer gefürchteten Räuber im Wald nicht, so soll er im Beisein des Hofkaplans vor dem Schloss verbrannt werden. Die Räuber aber haben Mitleid mit dem völlig ahnungslosen Knecht – auch handeln sie aus eigenem Interesse – und ändern über Nacht den Inhalt des Briefes: Statt verbrannt soll er mit der Königstochter vermählt werden. Bei einer dreitägigen Hochzeit, zu der auch die Räuber Darstellung und Analyse 254 erscheinen und dabei reiche Beute machen können, steht dann der ganze Hofstaat Kopf. Doch als der zurückkehrende König alle glücklich und zufrieden vorfindet und von dem Betrug erfährt, wird er wütend und will sich des unerwünschten Schwiegersohnes endgültig entledigen. So stellt er dem Knecht die Aufgabe, ihm aus der Hölle die drei goldenen Haare vom Kopf des Teufels zu holen, um sich damit der Einheirat würdig zu erweisen. Aber der Knecht fürchtet selbst den Teufel nicht und um die Königswürde verliehen zu bekommen, macht er sich auf den Weg zur Hölle. Soweit der erste Teil der Geschichte. Auf seiner Wanderschaft kommt der Knecht dann durch ein Tal, in dem ein Baum verdorrt, der sonst die herrlichsten Früchte trug. Und in einer Stadt ist ein Marktbrunnen, aus dem sonst Wein quoll, ausgetrocknet. Mit dem Auftrag herauszufinden, warum der Brunnen versiegt und der Baum verdorrt ist, kommt er schließlich an einen Fluss. Auch hier klagt der Fährmann ihm sein Leid und möchte wissen, wie lange er noch diese Arbeit verrichten müsse und wann er endlich abgelöst werde. Auch ihm verspricht der Knecht, Antwort auf seine Frage zu bringen, wenn er wiederkommt. Und damit steht er vor dem Eingang zur Hölle, dort sitzt die Großmutter des Teufels. Mit ihrer Hilfe gelingt ihm, nicht nur die drei Goldhaare, sondern auch die Antworten für die drei Rätsel zu erhalten. Auf dem Weg von der Hölle zurück zum Königsschloss gibt der Knecht dann den drei unglücklichen Menschen (Fährmann, Magd und Bauer) Antwort auf ihre Fragen und verspricht, allen zu helfen. Als er zuhause ankommt, ist die Freude groß und die Gier des Königs ist geweckt. Der Heimgekehrte erklärt, dass am anderen Ufer des Flusses Gold in Hülle und Fülle liege. Da macht sich der König, für den Gold das einzig erstrebenswerte Glück ist, unverzüglich auf den Weg. Mit Hilfe von den Räubern befreit der Knecht den drei unglücklichen Menschen aus den ärgsten Nöten, indem der Minister und der Prälat als korrupt entlarvt werden. Sein vorbestimmtes Schicksal erfüllend, behält er schließlich die Königstochter zur Frau. Der habgierige König aber wird dazu verdammt, das Amt des Fährmanns zu übernehmen. Wie aus der angeführten Zusammenfassung ersichtlich, steht Waechters Bearbeitung der zugrunde liegenden Geschichte der Brüder Grimm in ihrem Inhalt und ihrer Motivik sehr nahe, bringt allerdings auch einige bedeutsame Züge ins Spiel. Bei detailliertem Vergleich der Inhalte werden folgende bemerkenswerte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Märchenvorlage und Waechters bearbeiteter Bühnenfassung erkennbar: • Märchen- und Stückvorlage stimmen zwar darin überein, dass einem niedrig geborenen Helden mehrmals nach dem Leben getrachtet wird, um eine ehrenrührige bzw. von dem König nicht gewünschte Ehe zu verhindern, und dass schließlich die Ehe durch Briefvertauschung allen Nachstellungen zum Trotz dennoch zustande kommt. Allerdings weicht das Stück dabei in einem wesentlichen Punkt vom Grimmschen Märchen ab. Während es sich bei Letzterem um eine vom Schicksal vorausbestimmte Darstellung und Analyse 255 Heirat handelt (Grimm 1997: 167), lenkt im Stück der Held selbst sein Schicksal zu dem gewünschten Ziel: „Ich weiß alles, ich kann alles. Wenn das so weitergeht, wird mir die Königstochter noch Frau, juchhu“, verkündet der Knecht prahlerisch, als er den Schlägen der Soldaten auszuweichen versucht (Waechter 1975: 56). • Darin erschließt sich ein weiterer Abweichungspunkt zwischen Märchenstoff und Waechters Bühnenfassung. Nämlich bei der Darstellung der Hauptfigur: Aus dem Grimmschen Märchenhelden, also dem durch den König ausgesetzten Kleinkind, das von kinderlosen Müllersleuten gerettet und aufgezogen wird (Grimm 1997: 167f.), wird bei Waechter ein junger, in bescheidenen Verhältnissen lebender Bauernknecht, der wegen der extremen sozialen Missstände und des schlechten Zustandes des Landes von den Soldaten des Königs gefangen genommen und hingerichtet wurde, und nun zu Beginn des Stückes an einem Baum hängt (Waechter 1975: 52f.). • Insofern lässt das Stück im ersten Teil der Geschichte die Motive der außerordentlichen Geburt, Weissagung und Aussetzung des Helden und damit wichtige Motive des ursprünglichen Märchens fallen – zumindest teilweise: Denn dem jungen Knecht, der Hauptfigur und Held ist, wird bei Waechter auch eine Glück bringende Eigenschaft zugesprochen, indem er, wie es in der Grimmschen Erzählung geschieht (Grimm 1997: 167), mit einer „Glückshaut“155 zur Welt gekommen ist (Waechter 1975: 55), die ihm ermöglicht in seinem Leben alles zum Guten zu wenden und einmal die Tochter des Königs zu heiraten. • Ähnlich wie wir es auch aus dem Grimmschen Märchen kennen, wird dieser Held niedrigster Herkunft vom sicheren Tod errettet, womit der erste Beweis dafür erbracht wird, dass der Knecht tatsächlich von besonderem Glück beseelt ist (Waechter 1975: 53). In der Bearbeitung durch Waechter allerdings, indem ihm ein neues Leben gegeben wird, um sich gegen die ungerechten und unzumutbaren Zustände im Königreich zu wehren. Insofern ist bei Waechter die Errettung gleichbedeutend mit Sterben und Wiedergeborenwerden. • Der Errettung folgt – wie auch im zugrunde liegenden Märchen – der Aufstieg des Helden, der trotz aller Ränkespiele und heimtückischen Pläne des Königs die Durchreise „durchs Gebiet der Räuber“ (Waechter 1975: 58) wunderbarerweise 155 Der Begriff führt in Zusammenhänge der Religions- und Mythengeschichte mit Ausläufern in abergläubischen Vorstellungen. So war z.B. im Mittelalter davon die Rede, Kindern, die mit Resten der Embryonalhaut zur Welt kamen, sei ein glückliches Leben vorausgesagt worden Darstellung und Analyse 256 überlebt und verschont bleibt. Mit dem Minister und dem Prälaten bekommt der König im Stück allerdings im Vergleich zum Grimmschen Märchen zwecks Mordabsichten zwei Mithelfer zur Seite gestellt (Waechter 1975: 57f.). • Das bereits in der Vorlage vorhandene Motiv des vertauschten Briefes, der statt dem Tod die Hochzeit mit der Königstochter bringt (Grimm 1997: 169), findet sich auch in Waechters Stückvorlage, wird aber im Vergleich zum Märchen anders angegeben (Waechter 1975: 67f.), d.h.: Zwar verstauschen die Räuber das heimtückische Schreiben des Königs in sein Gegenteil und ändern damit den Mordauftrag in den Befehl, den Ãœberbringer mit der Königstochter zu verheiraten. Aber im Gegensatz zur Grimmschen Vorlage handeln die Räuber nicht nur aus Mitleid. Deren Handeln motiviert sich auch aus eigenen Zielen zum eigenen Nutzen. Denn „bei einer Hochzeit ist noch mehr los als beim Kopfabschlagen, da wird noch besser was zu holen sein“ (Waechter 1975: 68). • Gerade bei der Darstellung der Hochzeitsfeier am königlichen Hof erlaubt sich Waechter eine starke Abweichung von der Märchenvorlage, indem er turbulent amüsante Szenen, wie etwa die lustigen Akrobatik-, Jonglier- und Zaubernummern durch die Räuber, neu einführt (Waechter 1975: 78ff.). • Der zweite Teil der Bühnengeschichte, also die Szenen von der Wanderschaft des Knechts und dessen Höllenreise, hält sich ziemlich genau an die Märchenvorlage. Ebenso wie bei der Grimmschen Erzählung (Grimm 1997: 170) – und wie sonst im Märchen üblich (Lüthi 1990a: 26) – trifft insoweit auch bei Waechter der Held auf seiner Reise zur Hölle auf drei zu lösende Aufgaben in Form von Rätseln: vom versiegten Brunnen, dem wunderbaren Baum und dem nie abgelösten Fährmann, von denen er selbst nicht die Lösung weiß, aber eine Antwort darauf auf dem Rückweg verspricht (Waechter 1975: 86ff.). • Verzichtet Waechter im ersten Teil des Stückes teilweise auf den mythischen Hintergrund der ursprünglichen Erzählung, indem er wichtige Märchenmotive fallen lässt, so bedient er sich bei der Darstellung der Jenseitsfahrt völlig dem mythisch- märchenhaften Element. Dabei wird nun, wie bekanntermaßen auch bei den Grimms (Grimm 1997: 170), auf das Motiv des Fährmannes zurückgegriffen (Waechter 1975: 87f.). Mit dem Ãœbersetzen des Fährmanns zur Hölle wird der alte Topos aus der griechischen Mythologie beschworen: Die Ãœberfahrt in die Unterwelt mit dem Nachen über den Totenfluss Styx. Darstellung und Analyse 257 • Besonders ähnlich sind die Vorgänge in der Hölle, d.h. die Szenen vom Beschaffen der drei goldenen Haare und der Lösung der Rätsel. Diese bleiben nicht nur im Szenenaufbau, sondern auch im allgemeinen Inhalt erhalten, an einigen Stellen sogar mit einer zum Teil wortgetreuen Ãœbernahme des Märchentextes (Waechter 1975: 88ff.). • Was aber den Ausgang betrifft, so hält sich Waechters Stückvorlage nicht ganz an das Grimmsche erzählerische Vorbild. Nach dem Besuch des Helden in der Hölle weicht die Bühnenhandlung von der Märchenvorlage ab, vor allem beim Loswerden der Kröte im Brunnen und der Maus in der Baumwurzel. Dies geschieht bei Waechter durch eine gemeinsame Initiative zwischen Räubern, Knecht, Königstochter, Magd und Bauern, die bei der Problemlösung als Solidargemeinschaft fungieren (WAECHTER 1975: 94ff.). Bei der Besprechung der Relevanz formeller Lösungen müssen der dramaturgische Aufbau und die Struktur der Stückhandlung sowie die Konstellation und Charakteristik der Figuren berücksichtigt werden und zwar auf folgende Fragen hin: 1) Wie ist das Stück dramaturgisch konzipiert? Folgt Waechters Bühnenfassung der Grimmschen Vorlage in deren dramaturgischen Aufbau? 2) Wie entfaltet sich die Handlung? Wann und an welchen Orten spielt sie? Wie beginnt die Geschichte, wie endet sie? Wie wird die dramatische Spannung aufgebaut? Wo sind die dramatischen Höhepunkte? 3) Wer spielt in der Geschichte mit? Welche Eigenschaften haben die Figuren? Aufbau und Struktur der Handlung Formal wird das Stück in fünf Bilder aufgegliedert, die jeweils mit einem kleinen Titel versehen sind. Die Titel geben schon einen Hinweis darauf, wo das Geschehen spielt. So trägt das erste Bild die Ãœberschrift „Auf dem Lande“, das zweite „Im Räuberhaus“, das dritte heißt „Im Schloss“, das vierte „In der Hölle“ und das fünfte Bild ist mit „Zurück“ überschrieben. Eine solche Gliederung des Stückes deutet auf den von Freytag konzipierten pyramidalen Aufbau des klassischen fünfaktigen Dramas, der sich in steigender Handlung von der Einleitung über die Steigerung bis zum Höhepunkt, und von dort in fallender Handlung vom Akt der Umkehr zur Katastrophe entwickelt (s. Kapitel 2, darin 2.1.1.1). Das erste Bild führt das Publikum im Sinne einer Exposition in das Bühnengeschehen ein. Dabei erfolgt die stufenweise Einführung der Zuschauer in den zeitlichen und örtlichen Handlungsrahmen sowie der wichtigsten Handlungsträger (mit Ausnahme des Teufels und der Darstellung und Analyse 258 Teufelsgroßmutter) durch einen Erzähler auf der Bühne. Außerdem wird es einen Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse gegeben. Das Wissen um die in der Vergangenheit liegenden und die Gegenwart bestimmten Gegebenheiten, aus denen sich der dramatische Konflikt entwickeln wird, werden auch durch den Bericht des Erzählers vermittelt. In den ersten Szenen nach dem Auftritt der Hauptfigur, also des jungen Bauernknechts, wird dann der handlungsbestimmende Konflikt des Stückes eingeleitet. Dieser öffnet sich mit der Verwegenheit des Knechts, die Königstochter zur Frau nehmen zu wollen, womit dadurch das erregende Moment ausgelöst wird. Durch den Plan des Königs, die unselige Heirat seiner Tochter mit einem Mann niederer Herkunft zu verhindern, wird dann die Verwicklung in Gang gesetzt. Die von dem König und seinem Beraterstab (Minister und Prälat) gemeinsam ausgeheckte Intrige wird aufgebaut auf dem Motiv des Briefes zur Königin mit dem geheimen Befehl, den Ãœberbringer unmittelbar nach dessen Ankunft auf dem Schloss hinzurichten. Damit wird die Handlung nicht nur dramatisch zugespitzt, sondern darüber hinaus Spannung beim Zuschauer hervorgerufen. Im zweiten Bild wird die steigende Handlung durch den Umstand in Bewegung gehalten, dass die gegen den Knecht schlau eingefädelte Intrige durch eine Gegenintrige der Räuberbande durchkreuzt und zunichte gemacht wird: Von dem Vergnügen getrieben, dem König eins auszuwischen, vertauschen die Räuber den Todesbrief, den der Knecht überbringen muss, in sein Gegenteil und schicken ihn wieder unwissend mit dem gefälschten Brief weiter. Statt des Todes soll nun der von den Räubern aufgesetzte Brief die Hochzeit mit der Königstochter bringen. Hiermit greift Waechter das in der dramatischen Literatur häufig verwendete Motiv der Briefvertauschung auf. Das Motiv findet man beispielsweise in den Stücken von Shakespeare, etwa in Hamlet (1603). Auch in der Moderne seit Goethe und Schiller finden sich zahlreiche Beispiele dafür: Bei Schillers Die Räuber (1781), Kabale und Liebe (1783) und Don Karlos, Infant von Spanien (1787/88) wird bekanntlich das ganze Geschehen durch Intrigen bestimmt, die von gefälschten Briefen ausgehen. Die von den Räubern angezettelte Gegenintrige führt nicht nur zu einer neuen Zuspitzung des Konfliktes. Deren Schilderung bereitet auch den jungen Zuschauern Vergnügen und erhöht auch die schon zu Beginn angelegte Spannung durch die Intrige der beiden Königsberater. Dabei sind die Zuschauer nicht allein auf den Ausgang des Geflechtes aus Intrige und Gegenintrige gespannt, sondern ihr Interesse richtet sich ebenso auf die unwissenden Figuren: Wie lange werden sie im Dunkeln tappen? Wie werden sie sich verhalten, wenn sie plötzlich aus ihrer Ahnungslosigkeit erwachen? Eine solche Konstellation von Intrige und Gegenintrige setzt daneben verschiedene Bewusstseinsebenen voraus. Während die jungen Zuschauer aufgrund des Briefs mit dem Todesurteil die tragische Zukunft des Knechts schon früh erkennen (1. Bild), ahnt dieser nicht, dass er mit der Annahme des Auftrags Opfer einer mörderischen Intrige wird. Eigentlich bleibt Darstellung und Analyse 259 er bis zur Ankunft des Königs auf dem Schloss verblendet (3. Bild). Das Gleiche gilt auch für das Motiv des von den Räubern gefälschten königlichen Schreibens, d.h.: Werden die Zuschauer in die geheimen Pläne der Räuber eingeweiht (2. Bild), so weiß der König nicht, dass darin die Vermählung des Knechts mit seiner Tochter geschrieben steht. Erst als er in die Hochzeitsfeierlichkeiten am Hof gestürzt kommt, wird der Schwindel aufgedeckt (3. Bild). Im dritten Bild erreicht der Konflikt seinen dramatischen Höhepunkt. Dabei erhält die Spannung ihre vorläufige Lösung in der feierlichen Hochzeit des ungleichen Paares. Die Bühnenhandlung weicht hier stark von der Märchenvorlage ab. Neu eingeführt werden in die Handlung z.B. zahlreiche turbulent-amüsante Szenen, die vor allem durch die Figuren der Räuber als vermeintliche Gaukler- und Komödiantentruppe zusammengehalten werden. Solche Szenen ermöglichen eine volle Entfaltung anmutiger und lustiger Einlagen sowie zirzensischer Darbietungen (Akrobatik, Zauberei), bei denen Schloss und Hochzeitsgäste von der Räuberbande ganzlich ausgeplündert werden (Waechter 1975: 75ff.). Dabei knüpft das Stück an die Form der Clownerie und der Slapstick-Komik. Die Verbindung zu den Waechterschen Clownsstücken wird hier deutlich. Das Bild endet wiederum mit einem neuen Konflikt, der dann im 4. Bild ausgetragen wird. Der zurückgekehrte, jetzt wütende König kann den Vollzug der Ehe nicht rückgängig machen, aber er stellt die Bedingung, dass der Knecht die drei Goldhaaren vom Kopf des Teufels herbeischafft. Im vierten Bild, ausgerechnet mit dem Titel „In der Hölle“, erfolgt die Austragung des neuen Konflikts. Hier wird die Spannung noch einmal gesteigert, indem die Entwicklung der Handlung im so genannten „retardierenden Moment“ verzögert wird: Auf seinem Weg zur Hölle trifft der Knecht noch auf die verzweifelten Menschen (Bauern, Magd, Fährmann), denen er verspricht, beim Teufel die Antworten für ihre große Not einzuholen. Daneben erfolgen hier auch die Anstöße, die für das Erreichen des Zieles der Hauptfigur sprechen: Die Teufelsgroßmutter sagt dem Knecht ihre Hilfe zu und so erhält er Unterstützung bei der Lösung der Fragen und dem Beschaffen der drei goldenen Haare. Im letzten und fünften Bild wird schließlich der Konflikt zwischen Knecht und König gelöst, d.h. der Knecht darf die Königstochter als Frau behalten (Waechter 1975: 94). Auch wenn bei der Lösung des Gegensatzes Knecht-König der junge Knecht ganz nach dem Muster des Grimmschen Märchens durch List und übernatürliche Kräfte siegt, werden bei Waechter im Verhältnis zum Märchen wieder neue Szenen hinzugefügt, um die glückliche Lösung des zugrunde liegenden Konflikts zu verstärken. Dabei funktionieren die „Guten“, also Knecht, Königstochter, Räuber, Magd und Bauer wie eine Solidargemeinschaft, die in der Auseinandersetzung mit den beiden fiesen Bösewichtern der Geschichte, also dem Minister (das ist die Maus in der Baumwurzel) und dem Prälaten (und das ist die Kröte, die am Grund alles wegsäuft), durch taktische Klugheit siegt: Beide werden in ihrem eigenen Betrug gefangen und finden dabei ein klägliches Ende (Waechter 1975: 96ff.). Dies alles führt die Geschichte zu Darstellung und Analyse 260 ihrem glücklichen Ende, das da heißt, der Bauer und die Magd werden aus ihren ärgsten Nöten befreit. Auch die Sorge des Fährmanns ist beseitigt. Das Stück endet nämlich mit dem Auftritt des alten Fährmannes, der über eine zeitlich verdeckte Handlung berichtet, also seine Ablösung von der ewigen Fahrt von Ufer zu Ufer durch den habgierigen König (Waechter 1975: 98). Abschließend feiern alle ein großes Fest. Entfaltung der Handlung Blickt man nun noch detaillierter, nämlich wie sich die Handlung innerhalb der einzelnen Bilder entfaltet, so lassen sich folgende Aspekte festhalten: Die Handlung spielt, wie im Grimmschen Märchen, in einem nicht genannten Ort in einer undefinierten Zeit. Allerdings: Auch wenn der Zeitraum nicht explizit genannt wird, bzw. ungewiss bleibt, entspricht der zeitliche Rahmen der Handlung dem des deutschen Bauernkrieges im 16. Jahrhundert. Im Interview mit Oswald/Bleiker (1992) spricht Waechter ausdrücklich davon, dass „die erste Teufel-Bearbeitung [...] viel vom Bauernkrieg drin [hatte], Geschichten von den Herren, die die Armen verderben machen“. Eine Rolle gespielt haben dürfte bei der Konzeption des Stückes ein zeitgenössisches Theaterereignis: die Inszenierung 1973 der Bauernoper: Szenen aus dem deutschen Bauernkrieg (UA: Landestheater Tübingen, 19.4.1973; Regie: Roland Gall) von Yaak Karsunke (geb. 1934) und Peter Janssens (1943-1998) am Frankfurter Theater am Turm (TAT), die eine Zeit lang das anerkannte Vorbild für die Darstellung plebejischer Traditionen auf dem Theater lieferte (Dolle-Weinkauff 1998: 145). Diesem Muster folgend reicherte Waechter das Grimmsche Märchen mit einer historisch- politischen Dimension an und wandelte den altbekannten Stoff vom Glückskind, das die grausamsten Verfolgungen des Königs durchsteht und hoch geehrt und reich begabt von der Reise in die andere, jenseitige Welt zurückkehrt, in eine eigene Geschichte für die Bühne um, in deren Mittelpunkt der Kampf gegen die Unterdrückung und Ausbeutung der Armen durch die Reichen und Mächtigen steht. Damit wurde Waechters Märchenstück nicht nur zum Ausdruck des jämmerlichen Zustands des Bauernvolkes unter adeliger Herrschaft in der damaligen mittelalterlichen Gesellschaft, sondern karikierte auch politische Zusammenhänge (KJTZ 1994: 332). Zwar findet die Handlung des Stückes in einem anderen Jahrhundert, d.h. mit anderen Voraussetzungen statt, aber wie aus der zuvor zitierten Stelle zu entnehmen ist, so ist es sinnvoll anzunehmen, dass im Stück Probleme (z.B. die Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen) angesprochen werden, die in gewisser Weise auf die Situation zur Zeit der Entstehung des Stückes übertragbar seien, wobei sich damit eine historisierende Betrachtungsweise ergibt. Durch den Bauernkrieg-Hintergrund ist es nämlich besonders deutlich zu erkennen, dass Waechter mit direktem Bezug auf die damalige politische und Darstellung und Analyse 261 gesellschaftliche Situation in Westdeutschland geschrieben hat, zwar unter dem Einfluss der erwachenden Kritik am Autoritarismus durch die emanzipatorische Protestbewegung der späten 1960er Jahre einerseits und der Ansätze aus der progressiven Pädagogik der frühen 1970er Jahre andererseits, sodass die Adaption vom Teufel-Stoff unter solchen Gesichtspunkten vorgenommen wurde. Waechter selbst erklärte zur Entstehung des Stückes, dass er sich im Geiste der damaligen Zeit davor gehütet habe, das Märchenhafte zu betonen, „versuchte statt dessen, den historischen und sozialen Realitäten der Bauern, Räuber, Soldaten und der Gesellschaft bei Hofe gerecht zu werden“ (Waechter 1997: 9). Das Stück entstand insofern ganz im Zeichen des damals noch recht neuen Konzepts des modernen KJTs mit sozialkritischem Hintergrund nach Gripscher Art. Dazu noch der Hinweis von Jürgen Flügge (geb. 1944), dem künstlerischen Leiter am Münchner Theater der Jugend, anlässlich der dortigen stattgefundenen erstmaligen Aufführung des Stückes: „[...] wir erzählten eine politische Geschichte, erzählten von der Ausbeutung. Waechter hatte das Märchen auf seinen sozialen Hintergrund zurückgeführt“ (Lukasz-Aden 1993: 62). Damit wurde die bei Die Beinemacher schon angefangene Darstellung der „kleinen Leute“ als Opfer des (Gesellschafts-)Systems weitergeführt, wenn auch jetzt im sozialhistorischen Gewand. Da setzen gleich die ersten Szenen des Stückes die Akzente. Es beginnt bei geschlossenem Vorhang. Auf der Bühne steht ein einziger Darsteller, der als Erzähler agierend praktische Anweisungen darüber erteilt, was zu tun sei: „He, macht den Vorhang auf“ (Waechter 1975: 51). Mit diesen Worten eröffnet er im ersten Bild das Bühnengeschehen und spricht dabei das Publikum direkt an, um dieses anschließend durch die noch vorzuführende Geschichte zu führen. Vor der Darstellung der eigentlichen Handlung werden die Zuschauer allerdings kurz über den historischen Hintergrund unterrichtet, vor dem sich das Bühnengeschehen abspielen wird. Dargestellt wird dies, indem die als Erzähler fungierende Figur einige der in der Handlung aufzutretenden Figuren (König, Soldaten und Bauern) im gesellschaftlich-historischen Kontext des 16. Jahrhunderts (Bauernkrieg-Zeit) vorstellt. Dabei wird besonders auf die Stellung verwiesen, die die einzelnen Figuren in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft einnehmen. So bekommen die Zuschauer mitgeteilt, dass die Figuren zu zwei klar voneinander abgetrennten Ständen gehören, d.h. entweder der herrschenden Schicht oder der bäuerlichen Bevölkerung: ERZÄHLER: [...] Zur Bühne: Zeigt zuerst den König. Fangt mit dem König an. [...] Das ist der König. Dem König gehört das Land. Die Felder, die Wiesen, der Wald, die Brunnen, die Häuser und die Bauern, die in den Häusern leben. [...] Zur Bühne: Zeigt die Bauern! [...] Nach hinten: Zeigt die Soldaten! [...] Das sind die Soldaten des Königs. Die sorgen dafür, dass Ruhe und Ordnung herrschen im Land. Ordnung heißt: pünktliche Abgaben zahlen, und Ruhe heißt: alles ruhig ertragen. (Waechter 1975: 51f.) Darstellung und Analyse 262 In seinen einleitenden Worten berichtet der Erzähler auch besonders ausführlich, zugleich mit Fakten untermauerte Äußerungen über die Bauern, die die „Sklaven des Königs“ (Waechter 1975: 51) sind, und darüber, dass sie die Hauptlast zur Aufrechterhaltung der Feudalgesellschaft tragen. Dabei sind die Verweise auf die Unfreiheit und Unterdrückung der armen bäuerlich- ländlichen Bevölkerung durch den Grundherren, also den König deutlich. Besonders hervorgehoben werden am Beispiel der drei Bauernfiguren – und damit wird ihre Vorgeschichte beleuchtet – die wirtschaftlichen und sozialen Ungerechtigkeiten sowie die elende Situation, die das Bauernvolk unter der Herrschaft des Königs zu leiden hat: Die Bauern sind als Leibeigene an den Grundbesitz ihrer Herrscher gebunden. Sie müssen für ihn Frondienste leisten und alles, was sie verdienen, abgeben. Der König lebt von deren Arbeitskraft und wenn sie ihm nicht zu dessen Zufriedenheit dienen können, werden sie festgenommen und hingerichtet, bzw. an den nächsten Baum gehängt (Waechter 1975: 51ff.). Die Einführung in das Milieu des armen Bauernvolks vor dem starren hierarchischen Hintergrund der mittelalterlichen Gesellschaft hat bei Waechter nicht nur eine sozialkritische Funktion, wie bereits oben darauf hingewiesen wurde. Sie erfüllt noch eine weitere Aufgabe. Damit ist es möglich, aus den handelnden Figuren glaubwürdige Menschen entstehen zu lassen, die als Identifikationsangebot für die jungen Zuschauer aufgebaut werden. Diese lernen die einzelnen Figuren, insbesondere den Helden, im eigenen Zusammenhang „intim“ kennen und sind auch dazu bereit, dessen Probleme, Ängste und Hoffnungen schon früh zu teilen. Allerdings dient die vom Erzähler angelegte Einführung nicht nur dazu, die Zuschauer in das Thema vorspielartig einzuführen bzw. ihnen die Umwelt der im Stück auftretenden Figuren eingehend zu schildern. Die Gestaltung des Erzählers auf der Bühne und dessen Hinwendung zum Publikum hebt auch die dramatische Handlung auf, wobei im Stück die Trennung von Erzähler und Erzählgegenstand betont wird. Dadurch wird das Spiel in seiner Ganzheit verfremdet, d.h. es wird deutlich gemacht, dass das auf der Bühne Gezeigte etwas Dargestelltes ist. Als ausdrücklich Vorgestelltes besitzt es insofern nicht mehr die Absolutheit des Dramas, so wie es Szondi (1963) für seine ideale Form formuliert hat, sondern es wird auf das nun aufgedeckte Moment der Vorstellung bezogen. Die einzelnen Figuren werden, indem sie von der Figur des Erzählers vorgestellt werden, auch verfremdet, also zu epischen Gegenständen. Im Anschluss an die Exposition führt der Erzähler die Zuschauer in die zu spielende Geschichte ein. Und zwar mit der Klarstellung, dass alles, was auf der Bühne zu sehen sein wird, eine Art sozialkritisches Märchen ist, d.h. eine Geschichte über die Wünsche und Träume der Bauern zur Verbesserung ihrer eigenen Lage: ERZÄHLER: Das Leben der Bauer war hart und grausam. Wer weiß, was aus ihnen geworden wäre, wenn es mich nicht gegeben hätte – den Märchenerzähler. Aber wie kann ich Märchen erzählen, wenn ihr tot seid. Er schneidet ihre Stricke durch, dass sie zu Boden fallen. Darstellung und Analyse 263 Zeigt, dass auch ein Bauer aus seinem Elend herauskommt, und wenn‘s nur im Märchen ist. (Waechter 1975: 53) Erst an dieser Stelle setzt dann die eigentliche Kernhandlung des Stückes ein: ERZÄHLER: Es war einmal Er stellt einen Bauern auf die Beine. ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst. Wer nichts zu verlieren hat als ein Leben voller Plackerei und Angst, der wird vom Elend erdrückt – oder sein Fell wird hart, dass er keinen König und keinen Tod mehr fürchtet. (Waechter 1975: 53) Damit verzichtet Waechters Stückvorlage, wie bereits an anderer Stelle erwähnt, auf das Mythisch-Märchenhafte der Grimmschen Vorlage, d.h.: Von der Vorgeschichte, also der Geburt und der Weissagung, der in einer „Glückshaut“ geborene Sohn einer armen Frau werde „im vierzehnten Jahr die Tochter des Königs zur Frau“ bekommen (grimm 1997: 167), sowie der Jugend des Helden und damit dem Märchenmotiv der Eltern-Kind-Beziehung, ist bei Waechter gar nicht die Rede. Diese für das ursprüngliche Grimm-Märchen charakteristischen Begebenheiten werden in der Bühnenbearbeitung durch Waechter durch nicht austauschbare, singularisierende Elemente, ja überraschende Mittel verschoben, etwa die Tatsache, dass der tote Bauernknecht mit dem Eingriff des Erzählers zu neuem Leben erweckt wird. Wie es sich auch an der vorstehend zitierten Textstelle ablesen lässt, wird der ins Leben zurückgeholte Knecht mit bestimmten Charaktereigenschaften ausgestattet. Nun ist er mutiger denn je, bei ihm handelt es sich um einen außergewöhnlich mutigen Knecht, der sich von niemand und nichts, auch nicht von der großen Macht, weder einschüchtern noch unterdrücken lässt. Im Gegenteil: Er zeigt Auswege der Abwehr und des Schutzes gegen Angriffe der Herrschenden auf. Von daher „emanzipiert“ er sich, wird aktiv und lässt das Bestimmtsein durch übernatürliche Kräfte hinter sich. Der Unterschied zum Märchenhelden wird deutlich. Bei Waechter trachtet der Knecht danach, sein Geschick selbst zu bestimmen, und so nimmt er mutig alle Gefahren an. Gleich nach seiner Wiedergeburt wird er zu einem listigen Einzelkämpfer, wobei er hiermit im Vergleich zur ursprünglichen Märchenfigur als handelnder Subjekt gezeichnet wird und nun als Bühnenfigur an Profil gewinnt. Zu seinem Charakter gehören neben Mut und List insofern weitere Eigenschaften, die für die Handlung bedeutsam sind, etwa eine „angeborene“ Widerstandskraft ebenso wie bodenlose Respektlosigkeit gegenüber den kirchlichen und staatlichen Autoritäten, denen er sich nicht gewaltsam, sondern friedlich und zugleich auf listige Weise widersetzt. Die Verbindung beider Charakterzüge (Widerstandskraft und Respektlosigkeit) ergibt einen weiteren Kontrast zwischen Märchen- und Stückvorlage, indem bei Letzterer die für die Grimmsche Erzählung impliziten Aufbegehren und Widerstand gegen die herrschende Ordnung Darstellung und Analyse 264 bzw. Ständegesellschaft besonders hervorgehoben werden – und zwar auf eine Weise, dass dadurch die moralische Festigkeit des Knechts als Helden gestärkt wird. Sein respektloses Verhalten gegenüber dem König und sein unbekümmerter Frohsinn gehen sogar soweit, dass er mit großer Sicherheit und Freude verkündet, dass er die Königstochter zur Frau nehmen will (Waechter 1975: 56). Gerade das Streben nach gesellschaftlicher Anerkennung macht Waechters Held zum Freiheitskämpfer, d.h. zu einer Identifikationsfigur im Kampf gegen die Ständegesellschaft und das ungerechte soziale System, das den König und die Adeligen verkörpern. Solche charakterliche Beschaffenheit des Helden, insbesondere sein vermessener Wunsch, die Tochter des Königs zu heiraten (der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Stückes überhaupt), löst eine abenteuerliche und zudem spannende Geschichte aus, die mehr als tragisch zu enden droht. Denn: Der König, der gemeinsam mit seinem Minister und dem Prälaten die Realisierung solcher Interessen, also die geplante Heirat mit seiner Tochter verhindern will, versucht alles, um den nicht standesgemäßen Freier loszuwerden. Dieser wird zuerst als Soldatenkönig mit seinem eigenen „Todesurteil“ in der Tasche durch das lebensgefährliche „Gebiet der Räuber“ zum Schloss geschickt – mit der Gewissheit, dass er von den schwer gefürchteten Räubern umgebracht wird (Waechter 1975: 58). Doch vergeblich, und damit erringt er seinen ersten Sieg. Durch wundersame Fügung vermag der völlig ahnungslose Knecht dem ihm zugedachten Schicksal zu entgehen. Die Räuber haben Mitleid mit ihm – auch wollen sie sich bei der Gelegenheit einen Spaß machen – und helfen ihm, indem sie das Todesurteil durch eine Fälschung ersetzen: Statt den Tod durch Verbrennen zu erfahren, soll der Knecht mit der Königstochter vermählt werden. Dies tun sie aber nicht nur aus Mitleid, sondern auch aus eigenem Interesse: denn der Trubel bei einer dreitägigen Hochzeit ist für sie die denkbar beste Voraussetzung ihrer „Arbeit“ (Waechter 1975: 66ff.). Neben dieser notwendigen Funktion der Räuberfiguren für die weitere Entwicklung der Handlung wird ihnen eine besondere Bedeutung zuerkannt. Im Vergleich zum ursprünglichen Grimm-Märchen werden sie bei Waechter nämlich nicht traditionell als böse Räubergestalten dargestellt, sondern als Aufständische, die sich zusammengetan haben, um gegen die Ausbeutung durch den König zu kämpfen: 2. RÄUBER: Hör zu, Bauer, wir alle hier warn Bauern und waren beinah so dumm wie du und konnten die Abgab nicht zahlen und sind vom Acker fort und in den Wald. Im Wald ist Zeit zum Denken. Davon sind wir klug. Davon kommt’s, dass wir jetzt können sagen: der König ist der größte Räuber. Da können Räuber kommen soviel als Mücken und könnten doch nicht soviel Schandtat vollbringen, weil‘s nämlich zuviel Dumme gibt in der Welt, die sehen nicht, sondern glauben. Die glauben, was die Pfaffen lügen, die glauben, was der König macht, [...]. (Waechter 1975: 64) Darstellung und Analyse 265 Auf ihre Weise räumen die Räuber dann mit der Korruption am Königshof auf, indem sie einen Kahlschlag in den Reihen des Königs durchführen (Waechter 1975: 75ff.). Schaut man sich die eben zitierte Szene genauer an, in der die in die Flucht geschlagenen Räuber einen zu ihnen gestoßenen Bauern unterweisen, so muss man feststellen, dass Waechter die Dramatisierung des Grimmschen Märchens mit deutlicher emanzipatorischer Absicht konzipiert hat. Besonders deutlich machte sich dies auch in den weiter oben beschriebenen einleitenden Ausführungen des Erzählers bemerkbar. Hier und dort lässt sich Waechters Bemühen erkennen, der Märchenvorlage eine emanzipatorische Prägung zu verleihen. In diesem Sinne verweist Kayser (1985: 135) darauf, dass „die Märchenfiguren (Räuber / Bauern) als Agenten der Sozialgeschichte vorgestellt werden. Dadurch wird ihnen das ausdrückliche Recht zuerkannt, mit ihrem Standpunkt und ihrer Handlung einen Beitrag gegen die Unterdrückung durch die Herrschenden zu leisten“. Solches emanzipatorische Anliegen wird im weiteren Handlungsverlauf des Stückes wieder aufgenommen und durch die drei Menschen, die dem Knecht auf dem Weg zur Hölle begegnen, neben der eigentlichen Handlung vermittelt. Zur Betonung schlechter gesellschaftlicher Zustände wird so die Haupthandlung zusätzlich durch parallel laufende Handlungen ergänzt, d.h. das Schicksal des Knechts wird verquickt mit dem des alten und hilflosen Bauern, dessen Baum verdorrt ist, mit dem der trauernden Magd, deren Brunnen versiegt ist und mit dem des gepeinigten Fährmanns, der sein Leben lang hin- und herrudern muss (Waechter 1975: 86ff.). Dabei wird nicht nur auf die soziale Situation der Figuren (z.B. Beruf) wieder einmal hingewiesen, sondern darüber hinaus auch ihre große Not besonders betont. Im Vergleich zur Grimmschen Märchenvorlage aber ist bei Waechter die Not existentiell: Der versiegte Brunnen z.B. ist ein Brunnen in einem Dorf und daher herrscht es in der Gegend große Not. So die klagenden Worte des Knechts bei seiner Ankunft auf dem Königsschloss nach seinem Besuch in der Hölle: „Ich bin durchs ganze Land gekommen und hab die Not der Bauern gesehen“ (Waechter 1975: 94). Das will der König aber gar nicht hören: KÖNIG: So? Was du nicht sagst. KNECHT: Hinterm Fluss liegt Gold. Es liegt dort statt des Sands am Ufer. Das holen sich die Bauern, und ihre Not hat ein End. KÖNIG: Geschwätz! Ein solcher Narr soll meiner Tochter Mann sein? Die Not der Bauern – Er lacht auf. In die Hand dieser Bauern gehört die Rübenhacke oder die Zitze von der Kuh! Und wenn die Hand sich fleißig rühret, werden sie keine Not haben [...]. (Waechter 1975: 94) Wie die kurze Textstelle zeigt, geht es also bei Waechter darum, das existentielle Moment der Figuren aus dem Märchen hervorzuheben. Bei aller Betonung des Existentiellen darf weiterhin die Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, in die manche Stellen des Stückes münden, nicht übersehen werden. Hierbei wird das emanzipatorische anzustrebende Ziel von Darstellung und Analyse 266 Waechters Märchenstück im Rahmen des Anspruchs vom „emanzipatorischen Kindertheater“ bzw. „Mutmachtheater“ wieder deutlich.156 Abzulesen ist dies beispielsweise am Motiv-Lied des Knechtes. Darin werden drei zentrale Themen zum Ausdruck gebracht: die Bauernausbeutung, die Hilflosigkeit des Menschen im göttlichen Plan sowie seine Nähe zum Teufel, der Mut und neue Hoffnung gibt: Wir verrecken für den König Der Herrgott hilft uns wenig Der Teufel bläst die Glut Davon kommt dem Bauern Mut. (Waechter 1975: 54) Das dahinter stehende Anliegen der Emanzipation gegenüber bedrückenden Verhältnissen und Autoritäten, in dem Fall der geistlichen und weltlichen Obrigkeit sowie der damit einhergehenden Forderungen, wird am Ende des Stückes nochmals aufgegriffen. Während sein Widersacher, also der habgierige König, zur Strafe lebenslang als Fährmann auf dem Fluss zwischen Dies- und Jenseits dienen muss (Waechter 1975: 98), tritt der Knecht am Schluss mit revolutionär-emanzipatorischem Gestus auf. Er spricht aus, was der Erzähler bereits zu Beginn seiner „Erzählung“ gesagt hat (Waechter 1975: 53), aber er ist auch ganz eindeutig emanzipatorisch, d.h. er gibt der Geschichte, die der Erzähler vorführen lassen hat, die Tendenz, die sie – als einmaliges historisches Vorbild, das überliefernswert ist – für die Zuschauer haben soll. So lautet das Ende: Ich will euch ein Märchen erzählen, das ist wahrer als manche Geschichte. [...] Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst. Wer nichts zu verlieren hat als ein Leben voller Plackerei und Angst, der wir vom Elend erdrückt – oder sein Fell wird hart, dass er keinen König und keinen Tod mehr fürchtet. (Waechter 1975: 98f.) Der Charakter des Stückes als „Mutmachtheater“ wird dabei besonders deutlich: Nicht nur die eigentliche und eindringliche Botschaft der gesamten Waechterschen Textvorlage kommt hier zum Tragen. Wenn Waechter diese Worte dem Knecht in den Mund legt, so deutet sich darin gleichsam auch eine durchaus in die Entstehungszeit des Stückes passende Utopie an: Die Schlussworte des Knechts lassen sich als sichtbares Zeichen emanzipatorischen Bestrebens verstehen, womit vermittelt wird, dass das, was auf der Bühne zu sehen war, nun „auch auf die eigene Situation zu übertragen“ (Kayser 1985: 135) sei. Dramaturgisch gesehen bleibt auch damit das eigentliche Ende der Geschichte offen. 156 So ist es also nicht verwunderlich, dass Waechters Textvorlage in dem als Mutmachbuch für listige Knechte und schlaue Mägde vom Münchner Theater der Jugend herausgegebenen Programmbüchlein auch abgedruckt wurde (Kayser 1985: 133). Auf dem Spielplan 1980/81 wurde das Stück daher im Untertitel als „Mutmachmärchen von Friedrich Karl Waechter nach den Brüdern Grimm“ bezeichnet (Kayser 1985: 206). Darstellung und Analyse 267 Darstellung der Handlung Was die Darstellung der dramatischen Handlung betrifft, so wird das Bühnengeschehen zum größten Teil über den gesamten Stückverlauf gezeigt, d.h. direkt durch den Dialog der Figuren dargeboten. Dadurch schildern die handelnden Figuren ihren Zustand selber. Neben der Figurenrede lassen sich allerdings innerhalb der Handlung auch starke episierende Elemente beobachten, welche die für das ideale, prototypische Drama konstitutive dialogische Handlungs- und Figurenkonzeption in Frage stellen. Dazu gehören das explizite Vorhandensein einer Erzählerfigur, die der Welt der handelnden Figuren nicht angehört, sowie der Einsatz von Liedern. Als besonders markantes Erzählelement stellt sich die bereits mehrmals erwähnte Figur des Erzählers heraus, der schon zu Beginn des Stückes auftaucht und das Spiel leitet. Als Spielleiter erinnert Waechters Erzähler stark an den Stage Manager aus Wilders Our Town (1938). In diesem Stück bedient sich Wilder bekanntlich dieser übergeordneten Instanz, die, außerhalb der Handlung, also „am archimedischen Punkt des Epikers“ (Szondi 1963: 142) stehend, den Ablauf und den Ausgang der Geschichte kennt und die darin auftretenden Figuren einführt.157 Unmittelbar ist bei Waechters Erzähler sogar der Einfluss des epischen Sängers, den Arkadi Tscheidse aus Brechts Theaterstück Der Kaukasische Kreidekreis (1944/45) auszumachen.158 Analog dazu übernimmt die von Waechter geschaffene Figur des Erzählers nicht nur die Funktion des Spielleiters und kündigt als solcher das Spiel an. Sie erfüllt dabei auch die Aufgabe, die Ereignisse der Märchengeschichte in Gang zu setzen, indem sie wie ein Gott die darin handelnden Figuren erschafft: Der tot geglaubte Bauernknecht wird durch die Hände des Erzählers zu neuem Leben erweckt. Dabei gewinnt der Knecht eine neue, alles verändernde Macht für sich (Waechter 1975: 53). Auf Grund ihrer „schöpferischen“ Position vermag die Erzählerfigur ihren Geschöpfen gegenüberzustehen und sie als epische Gegenstände von außen zu betrachten. Neben der Funktion als Auslöser der eigentlichen Handlung sorgt die Figur des Erzählers innerhalb der Handlungsstruktur für weitere episierende Momente, die das Stück in den Bereich der narrativen Ãœberlieferung verschieben. Als einziger Darsteller durchbricht er immer wieder die vierte Wand der klassischen Guckkastenbühne und nimmt so als eine Brechungsfigur ständig Kontakt mit den jungen Zuschauern auf. Dabei – und außerhalb der Handlung bzw. der Märchengeschichte stehend – gibt er in kurzen Abschnitten zu Beginn eines jeden Bildes das Bühnengeschehen bzw. die nicht im Spiel gezeigten Handlungen in berichtender Form wieder. Hier fällt das (fast) wörtliche Ãœbernehmen einzelner Sätze und Textpassagen aus dem Grimm- Märchen besonders auf. Im Vergleich zum traditionellen Geschichtenerzähler überliefert 157 S. die Ausführungen zur Deutung von Wilders epischer Gestalt durch Szondi (1963: 139ff.). 158 Zur Darstellung der Figur des Sängers bei Brecht s. Knopf (1980: 265). Darstellung und Analyse 268 Waechters Erzähler die vermittelte Darstellung allerdings nicht im Präteritum, sondern im Präsens: ERZÄHLER (als Soldat): Der Knecht macht sich auf den Weg zur Königin. Da kommt er in einen großen Wald und verirrt sich. Wie er schon fast nicht mehr kann vor lauter Müdigkeit, steigt er auf einen Baum und sieht ein Licht in der Ferne. Er geht darauf zu und gelangt an ein Häuschen. (Waechter 1975: 60) An die Stelle der dramatischen Handlung tritt so die szenische Erzählung, deren Anordnung die Figur des Erzählers bestimmt. Allerdings nicht nur in den zwischen den Bildern vorgelegten Zwischenberichten tritt er in dieser Funktion auf. Auch innerhalb der einzelnen Bilder greift er den Strang der Erzählung immer wieder auf, um damit die Märchengeschichte weiterzuführen (vgl. im 3. Bild). Insofern bringen die einzelnen Teile der Geschichte nicht einander hervor, so wie wir es von der überlieferten dramatischen Form kennen, sondern werden vom Erzähler zusammengestellt und zu einer Ganzheit verbunden. Aber die Figur des Erzählers übernimmt von der Handlung nicht nur die Aufgabe, diese zu einem Ganzen zu verbinden und damit die zu erwartende dramatische Einheit der Handlung zu gewähren. Die von ihm angelegten Zwischenberichte führen als episierende Handlungswiedergaben paradoxerweise auch zur Unterbrechung des Handlungsfortgangs und tragen dabei maßgeblich – wie schon bei der Exposition hingewiesen – zur Verfremdung der Handlung bei, indem den Zuschauern über die dramatische Darstellung hinaus eine andere Möglichkeit für die Handlungsentwicklung dargeboten wird. Diese hat nun nicht mehr die lineare und angespannte Zielstrebigkeit des Dramatischen. Vielmehr erlebt der Handlungsfaden, der das Stück durchzieht, zeitliche und räumliche Abbrüche. Die Unterbrechung der raumzeitlichen Kontinuität der Handlung ist z.B. mit jedem Bildwechsel auszumachen, hauptsächlich durch Vorhänge und Schauplatzwechsel, aber auch durch Zeitsprünge. Dies allerdings nicht nur nach jedem Bild, sondern auch innerhalb des Bilds, z.B.: Zu Beginn des dritten Bilds spricht der Erzähler mit diesen Worten: „Wie der Knecht am nächsten Morgen aufwacht, zeigen ihm die Räuber den Weg zum Königsschloss. Die Königin liest den Brief [...]. Sie lässt ein prächtiges Hochzeitsfest anstellen“ (Waechter 1975: 70). Dann macht er das Publikum aufmerksam, dass „das Hochzeitsfest einen Tag und eine Nacht und noch einen Tag [dauert]“ (Waechter 1975: 71). Hier zeigt sich also, dass der einsträngige Handlungsablauf wie im typischen Drama nicht vorhanden ist. Zur Figur des im Stück berichtenden, außenstehenden Erzählers gehört zudem auch, dass dieser als Spielfigur unter den anderen Handlungsfiguren in der Geschichte selbst vorkommt, d.h. er steigt plötzlich mitten in die Geschichte ein und wird so Teil der Bühnenhandlung, indem er in verschiedene (Neben-)Rollen des Märchens auftritt. Bereits kurz nach Beginn der Darstellung und Analyse 269 Geschichte schlüpft er in die Rolle eines Soldaten – „Und weil spielen noch besser ist als erzählen, will ich mitspielen, und wenn‘s auch als lumpiger Soldat ist“ (Waechter 1975: 55) – und greift in die Handlung ein, weil es die Situation unbedingt erfordert, d.h. er steigt direkt ins Bühnengeschehen ein, um den lebhaften Bauernknecht vom Kampf mit den Soldaten des Königs zu retten, „sonst ist das Märchen vorbei, eh es so recht begonnen hat“ (Waechter 1975: 55). Wie die zitierten Stellen verdeutlichen, dient der Erzähler damit als Helferfigur der positiven Entwicklung der Geschichte. Im Laufe der Geschichte greift er dann doch immer wieder als Spielfigur in die Bühnenhandlung ein. So mischt er sich unter die Räuber, die im Schloss erscheinen und als vermeintliche Gaukler ein hübsches Sümmchen beim Hochzeitsfest „verdienen“ wollen, dann verkörpert er einen zum Fest eingeladenen Fürsten und schließlich wird er zum Teufel selbst. Ein weiteres episches Merkmal stellen neben der Gestaltung des Erzählers auf der Bühne auch die in die Handlung eingebauten Lieder dar. Diese werden nicht so benutzt wie in anderen (nicht-Waechterschen) Märchenstücken, d.h. sie werden nicht eingesetzt, um die Handlung zu unterstützen; sie sind auch keine Entspannungspausen und dienen auch nicht zur guten Publikumsstimmung, wie z.B. bei Bürkner und Bortfeldt. Vielmehr sind sie Einlagen, aus denen Erkenntnisse gewonnen werden können (vgl. hierzu erläuternd mit den Ausführungen unter 3.4.1.3, Punkt 3). Zum Beispiel: Das bereits genannte Lied vom Knecht hat seine Motivation, Wirkung und Adressaten im Handlungszusammenhang. Es macht auf die Unterdrückung der Bauern durch den Herrscher aufmerksam, dabei verweist es anspielend auf die Hoffnungslosigkeit der Lage der Bauern, indem sie sich von Gott verlassen fühlen und so dem Teufel überlassen werden. Zugleich aber hilft es dem Bauernknecht mutig zu agieren (Waechter 1975: 54). Der letzte Vers des Lieds („Davon kommt dem Bauern Mut“) erhält für den jungen Knecht dann verweisenden Charakter, so wird die Melodie im Verlauf des gesamten Stückes stellenweise leitmotivisch verwendet (Waechter 1975: 59 u. 73f.). Bei den im Stück vorkommenden Liedern handelt es sich darüber hinaus nicht um rhythmische Kinder- und Volkslieder mit eingängigen Melodien und wohl bekannten Texten, die bei der szenischen Darbietung das (Kinder-)Publikum zum Mitsingen und Mitklatschen anhalten und dadurch auch zur Identifikation einladen, so wie sie die „Weihnachtsmärchen“- Dramatik kennt. Im Gegensatz dazu verwendet Waechter selbstgetextete Lieder, die in poetischer Form einzelne Teile der Handlung des ursprünglichen Märchens wiedergeben. So z.B. das Lied des alten Bauern im vierten Bild: BAUER: Da steht ein Baum in einem Tal, der hatte Früchte ohne Zahl, und als ein böser Wind an ihm gerüttelt hat, da ist der Baum verdorrt und Darstellung und Analyse 270 kahl und matt, da trägt er Früchte nicht, und nicht ein grünes Blatt. (Waechter 1975: 86) Weiterhin dienen die eingefügten Lieder der Spiegelung von vorgeführter Handlung. So fasst das Lied von dem Bauern (5. Bild) kurz die vorangegangene Handlung zusammen, d.h. es wiederholt sie als Zitat und dabei markiert sie als nicht mehr gegenwärtig: BAUER singt: Da stand ein Baum in einem Tal, der war verdorrt und nackt und kahl, da haben Räuber eine Teufelszang gemacht, da warn wir eisig eine lang Nacht, das hat dem Baume und auch uns die Kraft zurückgebracht. (Waechter 1975: 97) Das gilt auch für das Lied, die von der Magd gesungen wird (5. Bild). Es unterbricht die Handlung und zitiert das, was die Handlung bereits gezeigt hat (Waechter 1975: 98). Das bedeutet auch, dass beim Vortrag des Lieds beide Schauspieler die Haltung eines Erzählers annehmen. Bei Waechter sind die Lieder Elemente, die ebenso wie die bereits erwähnten Zwischenberichte des Erzählers dazu beitragen, die Handlung zu relativieren. Sie unterbrechen die einsträngige Handlung, sodass die dramatische Einheit auch gebrochen wird. Figurenkonstellation und Charakterisierung Auf der Ebene der Figurendarstellung lässt sich an Waechters Stückvorlage Folgendes zur Charakterisierung und Figurenkonstellation feststellen: • Das Figurenverzeichnis umfasst in dieser ersten Bühnenbearbeitung des Teufel- Märchens über dreißig Figuren, die von zehn Schauspielern gespielt werden. So spielt etwa ein Schauspieler nicht nur den Prälaten, sondern auch einen Bauern, einen Soldaten, einen Räuber und noch den Graf (Waechter 1975: 49). • Die im Stück auftretenden Figuren stammen zu einem großen Teil aus der Grimmschen Geschichte: der Glücksjunge (auch wenn in anderer Gestalt als im Märchen), der König und seine Familie, die alte Frau im Räuberhaus, die Räuber, der Fährmann, die Großmutter des Teufels und der Teufel. Allerdings kommen einige Figuren aus dem Märchen in der Bearbeitung durch Waechter gar nicht vor. Da fehlen z.B. die arme Darstellung und Analyse 271 Frau, die den Sohn mit der Glückshaut zur Welt bringt, der Mahlbursche und die Müllersleute. Dafür hat Waechter den Grimmschen Stoff mit zahlreichen bühnenwirksamen Figuren angereichert. So zählen zum Besetzungsstab des Stückes neben der Figur des Erzählers auch: die zwei mit dem Knecht gehängten Bauern; das Königsgefolge, zu dem die Soldaten, der Minister und der Prälat zählen; der zu den Räubern gestoßene Bauer; der Hofkaplan, der Diener und die zur Hochzeitsgesellschaft gehörenden Figuren (Gast, Graf, Herzog, Fürst und Hofdame). Besonders der Märchenheld, also der Glücksjunge aus armen Verhältnissen aus der Vorlage, wird bei Waechter zu einer anderen Figur: Anstatt in der Gestalt eines Müllersohns erscheint er nun aufgrund der genannten historisch-politischen Dimension des Stückes als (gehenkter) Bauernknecht. Weitere ursprüngliche Figuren werden auch teilweise anders als im Märchen dargestellt, d.h. nicht von den Lebensumständen, sondern von der Charakterisierung. So wird aus dem ersten Stadttorwächter der Vorlage ein alter Bauer und aus dem zweiten eine Magd. Auffällig dabei ist auch, dass Waechter die im Märchen vorkommende Maus in die Figur des intrigierenden Ministers umändert und die im Brunnen sitzende Kröte durch die Figur des Prälaten ersetzt. • Wie auch im ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm tragen die im Stück handelnden Figuren keine Eigennamen. • Innerhalb der Figurenkonstellation des Stückes können zwei Gruppen unterschieden werden. Zu der einen Gruppe zählen die Figuren des Hofes (König, Königin, Königstochter), Adels (Minister, Graf, Herzog, Fürst, Hofdame) und Klerus (Prälat, Hofkaplan). Die zweite besteht aus jenen, die zum Volk im Sinne von „einfachem Volk“ gezählt werden, darunter der Knecht, die Bauern, die Räuber und die Magd. Eine weitere kleine Gruppe umfasst die jenseitigen Figuren, also der Teufel und seine Großmutter. Bereits die klare Einteilung der Figuren in zwei verschiedene Gesellschaftsgruppen, nämlich in hohen und niederen sozialen Stand, lässt einen gewollten Kontrast zwischen ihnen erkennen. Die Konzeption dieser beiden Figurengruppen hat die Funktion, im Stück die gesellschaftlichen Klassenunterschiede zwischen Führungsschicht und einfachem Volk bzw. Bauernschaft, sowie die Spannungen zwischen ihnen aufzuzeigen. • Der Knecht ist die Hauptfigur des Stückes. Zu Beginn der Geschichte ist er ein Gehenkter, der am Galgen baumelt. Aufgrund nicht rechtzeitig bezahlter Abgabe wurde er von den Leuten des Königs am nächsten Baum gehängt (Waechter 1975: 52f). Als Opfer der Unterdrückung und Unduldsamkeit des Königs wird ihm dann neues Leben Darstellung und Analyse 272 eingehaucht, damit er die Schwächen besiegt und aus dem Elend herauskommt (Waechter 1975: 53). Bei ihm handelt es sich nach der Wiedergeburt um einen naiv- fröhlichen, immer gut gelaunten und gutmütigen Jungen, der wie auch der märchenhafte Held der Grimms weiß, dass er in einer Glückshaut geboren ist (Waechter 1975: 55). Diese verleiht ihm gutes Geschick und viel Glück, d.h. alles, was er beginnt, tut oder was ihm widerfährt, schlägt zu seinem Glück aus. Von daher geht er angstfrei, mutig und voller Vertrauen seinen Weg zu seinem Ziel (Waechter 1975: 59). Zu dieser besonderen, auch im Märchen zu findenden Individuationsform der Hauptfigur tritt aber bei Waechter im Vergleich zur epischen Vorlage noch eine weitere individualisierende Eigenschaft hinzu, die den Knecht gerade zum Einzelwesen macht und anderen Einzelwesen gegenüberstellt: Die Veranlagung, zunächst als mutiger Einzelkämpfer aufzutreten (Waechter 1975: 53f.) und dann als eine Art Freiheitskämpfer, der mit Geist, Willen und List alles in den Griff bekommt. Entsprechend ist sein Kampf gegen die mörderischen Angriffe durch den hasserfüllten König und seinen Beraterstab auch ein lebensbejahender Kampf um seine Selbstbehauptung, d.h. eine Bestätigung seiner eigenen Individualität. Anders als im Märchen wird also der Protagonist bei Waechter zu einer aktiven Figur, die ihr Schicksal selbst in der Hand nimmt und sich nicht mehr durch übernatürliche Kräfte bestimmen lässt. Er hat ein Ziel, nämlich die Hand der Königstochter zu erhalten, und das Verlangen danach, dieses Ziel zu erreichen bzw. diesen Wunsch erfüllt zu bekommen, ist treibender Impuls der Handlung. Und so erreicht er am Ende sein Ziel endgültig. Mit der Unterstützung der Teufelsgroßmutter gelingt es ihm tatsächlich, nicht nur die drei goldenen Haare zu bekommen und damit die Prinzessin zu behalten, sondern besonders auch als „Freiheitskämpfer“ den drei verzweifelten Menschen aus ihrer Sorge zu bringen (Waechter 1975: 95ff.). • Die von der Hauptfigur gezeigten Verhaltensweisen und Eigenschaften stehen im schärfsten Kontrast zu denen ihrer Gegenspieler, die als Feinde und Neider dargestellt werden. Als starke Kontrastfigur ist dem gutmütigen Bauernknecht der König zugeordnet. Dieser ist von bösartigem Charakter. Das zeigt sich bei den im Vergleich zur Märchenvorlage besonders ausgeprägten charakterlichen Merkmalen der Bühnenfigur, wodurch diese umso deutlicher und niederträchtiger zutage tritt: Im Stück wird der König als unterdrückend und ausbeutend dargestellt (Waechter 1975: 51f.), daneben auch als heimtückisch und hinterhältig. Mit ausgeprägtem Standesbewußtsein und besorgt um seine Macht im Königreich versucht er mit immer neuen Finessen, den nicht standesgemäßen Freier seiner Tochter, also den „grauslig stinkende[n] Bauernochs“ (Waechter 1975: 56) zu töten. Um seine mörderischen Absichten Darstellung und Analyse 273 durchführen zu können, intrigiert er gegen den vertrauensvollen und stets positiv denkenden Knecht mit seinem Minister und dem Prälaten, denen dies ganz recht kommt. In der Bearbeitung durch Waechter erlangt insofern der König volle Entfaltung durch sein höfisches Gefolge, sodass im Stück die Rolle des Gegenspielers im Märchen (Propp 1975: 79) mehrfach besetzt ist. Diese zwei dem ursprünglichen Grimm-Märchen fremden Figuren sind im Stück die eigentlichen Drahtzieher hinter all den „Missetaten“ des Königs. Auch als negativ bösartige Figuren dargestellt, die die schlimmen Pläne des Königs treiben und dabei als seine besten Ratgeber – oder besser gesagt „schlimme Helfer“ (Asmuth 1984: 123ff.) – agieren, greifen Minister und Prälat ausdrücklich in die Handlung ein und wirken dabei maßgeblich auf den zentralen Konflikt ein. Denn natürlich haben sie (wie auch der König) ihre eigenen Interessen, die sie mit aller Macht durchzusetzen versuchen. Alles, was dem Knecht im Laufe der Geschichte widerfährt, wird insofern von diesen beiden Figuren verursacht: Auf den Rat des skrupellosen Ministers hin schickt der König zuerst den ahnungslosen Jungen mit seinem eigenen Todesurteil durch den gefährlichen und von Räubern behausten Schreckenswald zur Königin (Waechter 1975: 58). Angespornt von dem verschlagenen Prälaten erteilt dann der König ihm einen neuen Auftrag: Der Prälat flüstert, was Gott ihm riet. Dann winkt der König den Knecht heran. KÖNIG: Komm her. Du sollst meine Tochter behalten, doch will ich eine Bedingung daran knüpfen. Wenn du mir aus der Hölle drei goldene Haar vom Kopf des Teufels holst, so ist die Königstochter Deine Frau. Drei goldene Haar vom Kopf des Teufels, willst Du‘s wagen? (Waechter 1975: 85) Damit erkennt Waechter beiden hinzuerfundenen Figuren neben ihrer Funktion als Gegenspieler noch eine weitere wichtige Aufgabe zu. Sie fungieren als Auftraggeber für ihr perfides Vorhaben: den Knecht loszuwerden. Anders als in der Märchenvorlage, in der der König als einziger Auftraggeber erscheint, lässt sich insofern in Waechters Adaption von einer Ergänzung der von Propp bestimmten Handlungsrolle des Auftraggebers bzw. Senders (Propp 1975: 79) sprechen. Als Auftraggeberfiguren haben Minister und Prälat allerdings nicht nur eine handlungsnotwendige Funktion für den weiteren Verlauf der Geschichte. Durch diese zwei Figuren tritt auch, wie bereits an anderer Stelle angedeutet, die Bühnenhandlung als Intrige und Täuschung in Erscheinung. • Die Charakterisierung der Räuberfiguren ist, wie die des Knechts, durch die emanzipatorische Konzeption des Stückes bedingt. Ihr Charakter und ihre Ansichten Darstellung und Analyse 274 sind unabänderlich durch ihr Milieu und ihre Biografie geprägt. Sie bilden eine Gruppe, die aus einfachen Leuten hervorgegangen ist, die die Abgabe nicht mehr zahlen konnten. Aber statt sich reuevoll zum König zu wenden und ihre Schuld zu bekennen, sind sie aus Angst vor grausamer Strafe vom Hof geflohen. Hierdurch sind sie so heruntergekommen, dass ihnen schließlich keine andere Laufbahn als die der Banditen übrig bleibt. Anders als in der Grimmschen Märchenvorlage werden die Räuber also als Aufständische charakterisiert: Sie erscheinen als Opfer des ungerechten gesellschaftlichen Systems, das der König repräsentiert (Waechter 1975: 62ff.). Daneben treten die Räuber auch als Träger der Gegenintrige auf. Im Vergleich zu den beiden bösen, intrigierenden Königsberatern allerdings erweisen sie sich als „gute“ Intriganten (Asmuth 1984: 125). Besonders durch echte Herzensgüte ausgezeichnet helfen sie als solche dem jungen Knecht aus der Not, indem sie durch ihre Manipulation ihm das Leben retten: Aus Mitleid ersetzen sie das Originalschreiben des Königs durch die Fälschung, mit dem erklärten Ziel, diesen zu übertölpeln (Waechter 1975: 67ff.). Ganz uneigennützig handeln die Räuber allerdings nicht, sondern auch zu seinem eigenen Vorteil. Denn sie hoffen bei Anlass der Hochzeitsfestlichkeiten einen guten Fang zu machen (Waechter 1975: 68). Mit Auftreten des Räuberpaars auf der Hochzeit halten dann Spaß, Slapstick und Situationskomik Einzug in die Geschichte. Damit wandelt sich die als spannende Abenteuer angelegte Handlung zur Clownerie (Waechter 1975: 77ff.). Darüber hinaus erfüllen die groben, derben Räuber – auch als Helferfiguren – eine zusätzliche Funktion im Stück. Sie bilden gemeinsam mit dem Knecht und der Königstochter ein vereinigtes Kollektiv, das sich solidarisch für die bäuerliche Bevölkerung einsetzt, indem sie den alten Bauern und die trauernde Magd aus der Not heraushelfen (Waechter 1975: 94ff.). Sie bauen zusammen eine Falle, um die zwei Intriganten und Verbrecher (Minister und Prälat) einzufangen. Ihre gemeinsame Tat führt zur erfolgreichen Bekämpfung des Elends in der Region: Mit Schimpf und Schande werden die beiden Usurpatoren aus dem Dorf gejagt (Waechter 1975: 97f.). • Wird die Königstochter im Grimmschen Märchen kaum erwähnt, so wird sie in der Bühnenfassung hingegen zu einer handelnden Figur. Als Bühnenfigur ist sie alles andere als eine passive Märchenprinzessin, die bereitwillig ihr vorbestimmtes Schicksal akzeptiert. Vielmehr entpuppt sie sich bei Waechter als verwöhntes und zickiges Mädchen, das seine eigene Meinung hat und diese deutlich ausspricht – manchmal auch mit spitzer Zunge: „Und wie die Bauern die Seezungen verschlingen, ist schon ein Graus“, lautet eine ihrer despektierlichen Äußerungen (Waechter 1975: 72). Darstellung und Analyse 275 Daneben ist die Figur der Königstochter dynamisch angelegt. Dies zeigt sich in ihre Fähigkeit zur Verhaltens- und Meinungsänderung. Zwar kommt sie einem anfangs eher oberflächlich, frech und unbekümmert-naiv vor, allerdings zeigt sie dann Verhaltens- und Reaktionsweisen, die diesem vorher etablierten Charakter zuwiderlaufen, d.h. im Laufe der Handlung wirkt sie anders, indem sie Kontur bekommt. Ihre ohne Umschweife respektlose Art den Bauern gegenüber verwandelt sich nach und nach und sie wird schließlich zu einem verantwortungsbewussten und fürsorglichen Mädchen. Vom Charakter und Charme des Knechts verzaubert (Waechter 1975: 74), jedoch auch nur dann und insoweit, als sie durch diesen auf die Boshaftigkeit ihres Vaters, des Königs, aufmerksam wird (Waechter 1975: 76), versucht sie sich von ihm loszusagen und sich auf die Seite des Knechts zu schlagen. Zuerst hilft sie persönlich beim Stehlen der Schätze vom Königshof (Waechter 1975: 77). Dann bricht sie aus Liebe eigenständig aus einer Welt aus, die ihr immer mehr als Gefängnis erscheint, und folgt dem Knecht. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg zu den Räubern, um die beiden korrupten Minister und Kleriker zu fangen (Waechter 1975: 94). • Wie auch im Grimmschen Märchen wird im Stück der Teufel zum Gegenspieler des Knechts aufgebaut. Dementsprechend wird er als bösartige Figur dargestellt, genauso wie der König und seine beiden Berater. Aber im Vergleich zu denen, die als menschliche Gegner auftreten, erscheint der Teufel als anthropomorphisierter Figur. Dabei erweckt er den Eindruck, dass er ausgesprochen menschlich denkt und handelt. Die Charakterisierung des Teufels ist eindeutig an die ursprüngliche Märchenfigur orientiert. Die Kombination von äußeren Merkmalen, Eigenschaften, Fähigkeiten und typischen Verhaltensweisen, die auch den Grimmschen Märchenteufel auszeichnen, wird insofern auch bei Waechter übernommen. So z.B. wird er durch den berühmten Spruch charakterisiert: „Ich rieche, rieche Menschenfleisch“ (Waechter 1975: 90f). Ãœberhaupt entwirft das Stück ein Bild eines dummen Teufels, der komische Züge trägt und vom schlauen Bauernknecht überlistet wird (Waechter 1975: 90f.). • Die Figur der Teufelsgroßmutter stellt das mildere Gegenstück zum Teufel dar. Sie wird als gutmütige Großmutter dargestellt und hat die Funktion der Helferin inne (Waechter 1975: 89). Als Helferfigur zeichnet sie sich durch übernatürliche Eigenschaften aus: Sie kann, wie beim ursprünglichen Märchen, magische Verwandlungen bewirken. Anders als in der Märchenvorlage allerdings, in der sie den Glücksjungen in eine Ameise verwandelt (Grimm 1997: 171), verwandelt sie sich jetzt im Stück selbst in eine schöne junge Frau (Waechter 1975: 88) und unterstützt den Knecht bei seinen Aufgaben. Da sie erkennt, dass er aus Liebe zur Prinzessin den Weg zum Teufel auf sich genommen hat, Darstellung und Analyse 276 hilft ihm gerne aus (Waechter 1975: 88f.). Mit ihrer listigen Hilfe gelingt es ihm, die drei goldenen Haare vom Kopf des Teufels sowie die Antworten auf die drei Fragen zu bekommen (Waechter 1975: 90ff.). Und als der Teufel kurz eingeschlafen ist, verhilft sie ihm dann auch noch zur Flucht (Waechter 1975: 92). • Die Teilnehmer der Hochzeitsfeier am königlichen Hof verkörpern eine Hofgesellschaft zwischen Etikette, Verlogenheit und Doppelmoral. Dazu gehören z.B. ein debiler Graf (Waechter 1975: 74) und eine exzentrische Hofdame (Waechter 1975: 75). Diese Hofgesellschaft, die sich während der Hochzeit des ungleichen Paares gern den zirzensischen Darbietungen hingibt, wird karikaturhaft überspitzt dargestellt, sodass die Darstellung der ganzen Hofwelt mit viel Witz, Ironie und Satire geführt wird (Waechter 1975: 82f.). • Kennzeichnend bei den auftretenden Figuren ist ihre Sprechweise. Durch die Rede werden sie dargestellt und genauer charakterisiert, ebenso wird ihr Verhältnis zueinander deutlich. So steht die Figurenrede der beiden Personengruppen (je nachdem, ob die Figuren dem hohen oder niederen Gesellschaftsstand angehören) in einem kontrastierenden Verhältnis zueinander: Das Königspaar und die Hofleute (Minister, Prälat, Hofkaplan, Fürst, Graf, Herzog und Hofdame) verfügen über dieselbe kunstvolle, gehobene Sprache; Soldaten, Knecht, Bauern und Räuber sprechen dagegen die Sprache des Volkes. Damit hat sich Waechters Bühnenfassung die Aufgabe gestellt, den sozialen Stand der Figuren auch sprachlich zu fassen. Besonderheiten der im höfischen Gesellschaftskreis verwendeten Ausdrucksweise sind u.a.: schwierig erscheinende, vornehm anmutende Konstruktionen und Wendungen, überlegte Wortwahl, häufige Verwendung des Genitivs sowie altertümlich vorkommende e-Einschübe in der 3. Person Singular: MINISTER deutet auf den Knecht: Ist jener Kerl da – PRÄLAT: so ein gemeiner Bauer, der den Tieren näherstehet, denn den Menschen, seines Herren Tochter frech begehret, ist er ein Ketzer oder ein Irrer. Gleichviel verstoßet er gegen die göttliche Ordnung, ist er ein Instrument des Höllenfürsten MINISTER: das ausposaunet und aller Welt frech erzählet, dass er alle könne, dass er alles wisse und ist dabei ein Bauernochs. PRÄLAT bekreuzigt sich: Die Sprache Satans. [...] MINISTER: Eia, ebendarum ist die Sach ja doch so delikat bestellt. Darum sitzt ihm der Kopf noch am Hals, alleweil wir zu fürchten reichen Anlass haben, dass, schlügen wir ihn ab, der Teufel aus ihm ausführe und – schwupp – in einen andern ein. Nichts wäre gewonnen. (Waechter 1975: 57f.) Darstellung und Analyse 277 Der gehobene Redestil der dem Hof Angehörenden zeigt sich daneben auch in der Art der Anrede. So sprechen sie in der 2. Person Plural, d.h. mit dem Pronomen „Ihr“ und den davon abgeleiteten Formen: „GRAF zum Herzog: [...] Ihr gestattet, dass ich mich an Euch festhalte, damit mich nicht mein eigener Lachanfall zu Boden wirft“ (Waechter 1975: 74), oder aber in der 3. Person Singular: Bei der Hochzeitsfeier am königlichen Hof spricht z.B. der Fürst den als Gaukler verkleideten Räuber mit „Er“ an (Waechter 1975: 80). Die von den Angehörigen des Hofes verwendete höfliche Anrede kennt aber auch stilistische Abtönungen. So redet der Minister den König, entsprechend seiner gesellschaftlichen Position, mit „Ihro Majestät“ (Waechter 1975: 56 u. 58) an. Und bei gepflegter Konversation mit dem Fürsten redet die Hofdame ihr Gegenüber, nämlich den Angehörigen eines hohen gesellschaftlichen Standes, dem folglich eine angemessen hohe Anrede gebührt, mit „Durchlauchtigster Hoheit“ (Waechter 1975: 75) an. Der elaborierte, also erhabene Sprachstil, wie er am Hof des Königs herrscht, unterscheidet sich stark von dem volkstümlichen Stil der Bauern, Soldaten und Räuber. Auch hier ist die Sprechweise der Situation und dem Stand der redenden Figuren angepasst. So verwenden die Bauernfiguren nach Art der Volkssprache eine wenig ausgeschmückte Redeweise. Darin tauchen immer wieder umgangssprachliche Ausdrücke auf: „Macht nicht lang Mist, [...]“ (Waechter 1975: 57), „Halt dein Maul, [...]“ (Waechter 1975: 61), ja sogar regional gefärbte Ausdrücke, die z.B. an die bayerische Mundart erinnern: „[...], das war kein Leben nicht“ (Waechter 1975: 53), „[...] ich will kein Räuber nicht sein. [...]“ (Waechter 1975: 63). Die Sprache der Räuber ist schlicht, rau und an die mündliche Rede angelehnt. Dies ist besonders im zweiten Bild der Fall, in dem die Vorgänge im Räuberhaus dargestellt werden. Da wäre z.B. die alte Frau, die eine einfache Sprache mit Ausdrücken der Umgangssprache verwendet: „Jessas, ein Soldat. Den bringen sie um, das ist so gewiss wie‘s Amen in der Kirch [...]“ (Waechter 1975: 60), sowie die Räuber mit ihrer saloppen und von Flüchen durchzogenen Redeweise. Zum Beispiel: „1. RÄUBER: Sie haben ihm‘s halbe Bein abgeschlagen, die blauröckichten Scheißkerl“ (Waechter 1975: 61); „2. RÄUBER: Potzangst, ‘s wird immer ärger mit den Blauen“ (Waechter 1975: 62). Ähnliches gilt auch für die Soldaten. Auch sie bedienen sich einer einfachen Sprache mit populären Wörtern, Sprüchen und Wendungen, z.B.: „3. SOLDAT: Stinkende Rotznas!“ (Waechter 1975: 54); „1. SOLDAT: Herr Jesus Christ, was haben wir uns da in die Supp gebrockt“ (Waechter 1975: 56). Die Fluchwörter spiegeln auch ihre kolloquiale Alltagssprache wider: „Potz Hagelwetter, ist der narrisch“ (Waechter 1975: 55), reagiert der 2. Soldat entsetzt auf die Worte des Knechts, als dieser von sich selbst behauptet, er sei in einer Glückshaut geboren. Darstellung und Analyse 278 Die umgangssprachliche Redeweise und die Sprache der dem Volk bzw. Bauernvolk angehörenden Figuren erlauben sich daneben allerlei Freiheiten und Ausnahmen. Mal wird das zum Verb gehörige Pronomen weggelassen: „Bin ein Bauer. Hab die Abgab dem König nicht zahlen können“ (Waechter 1975: 62). Mal verlässt das konjugierte Verb die gebildete zweite Satzposition: „Wann ich die Abgab könnt aufbringen, ich wollt‘s lieber heute tun als morgen“ (Waechter 1975: 62). Einfache umgangssprachliche Anklänge wie hab, könnt, wollt, Abgab sowie müd, ohn, heut, grad bewirken eine Einfärbung, die volkstümliche Signale setzt und lebhafte, atmosphärische Wirkung vermittelt. Und schließlich bedienen sich Waechters Bühnenfiguren sprachlich im Fundus der Komödie und verwenden insofern eine freche, ironische und an Wortwitz reiche Sprache. Hierbei gibt der Text zahlreiche Beispiele. So bricht der Knecht beim Hochzeitsessen die Unterhaltung des Hofkaplans über die ausgefallenen Delikatessen ab, während dieser Gottes Milde und seine Neigung zu vergeben, preist: HOFKAPLAN zum Knecht: [...] Ich rat Euch, mit den überkrusteten Seezungenröllchen den Anfang zu machen, ein hochgeschätzter zarter, leiser Auftakt von einem Reiz, der, möcht ich sagen, die Zunge geradezu wachkitzelt, dergestalt, dass ihr die nachfolgenden Genüsse noch lieblicher werden ankommen. KNECHT: Ach, Herr Hofkaplan, was Ihre Zunge schafft, da kommt die meine nicht so schnell mit. HOFKAPLAN: Sie muss nur aufgeweckt werden. Ist sie das erst, dann weiß sie auch zu schätzen, was Gott an wundersamen Leckereien den Menschenkindern mit milder Hand hat bescheret. KNECHT: Den Menschenkindern? Den Schloßkindern! (Waechter 1975: 71). 3.4.2.2.3 Die zweite und dritte Fassung des Teufel-Stückes Waechter hat am Teufel-Stoff weitergearbeitet und diesen zu einer zweiten Bühnenfassung verarbeitet. Die überarbeitete Fassung des Stückes wurde schließlich vom Verlag der Autoren in Frankfurt 1982 veröffentlicht. Ein Jahr davor, am 28. Februar 1981, hatte das Teufel-Stück noch in der Version von 1975 Premiere am Theater der Jugend in München gehabt (Kayser 1985: 136f.).159 Eine zweite, leicht überarbeitete Fassung des Stückes wurde dann 1988 fertiggestellt und in der von Marion Victor herausgegebenen Theaterbibliothek-Reihe »Spielplatz« des Verlags der Autoren publiziert. Die Uraufführung fand am Schauspiel Frankfurt statt. Für die Regie zeichneten Winni Victor und Waechter selbst verantwortlich. 159 Zur Münchner Inszenierung s. auch die Rezension von Elisabeth Bauschmid in der Süddeutschen Zeitung (3.3.1981). Darstellung und Analyse 279 Die Änderungen 2. Fassung Auf dem Figurenverzeichnis im Nebentext fällt zunächst die im Vergleich zur Urfassung komplett neue Anordnung der einzelnen Figuren auf. Die Reihenfolge entspricht hier dem sozialen Stand der Figuren nach der hierarchischen Rang einer mittelalterlich anmutenden Gesellschaft. Dementsprechend wird der König und seine Familie als erstes benannt. Ihnen folgt der ganze Hofstaat. Dazu gehören z.B. der hohe (Fürst, Herzog) und der niedere Adel (Hofdame), die hohe Geistlichkeit (Prälat, Hofkaplan) und das Beamtenapparat (Minister). Die unteren Stufen stellen die unfreien Schichten dar. Dazu zählen u.a. die Soldaten, die Bauern und die von der Gesellschaft abgeschriebenen Räuber (Waechter 1982: 7). Eine solche Zweiteilung gibt Aufschluss über die Figurenkonstellation, aber auch über die Zeit, in der das Stück spielt. Daneben zeichnet sich die Neufassung noch einmal durch eine vielfältige Besetzung der im Stück auftauchenden Rollen aus. Insgesamt treten 26 Figuren in Erscheinung, die nach Anweisung Waechters von acht Darstellenden gespielt werden können (Waechter 1982: 8). Im Vergleich zur ursprünglichen Fassung ist dabei also eine leichte Reduktion des Figurenarsenals festzustellen. Da sind vor allem Soldatenfiguren abgeschafft und auf zwei Figuren reduziert worden: den Hauptmann und einen Soldat. Was den dramaturgischen Aufbau betrifft, so hat Waechter in der Zweitfassung ein neues Bild hinzufügt. Anders als die erste Fassung besteht nun die zweite aus sechs Bildern, die jeweils auch mit einem eigenen Titel versehen sind: „Auf dem Lande“, „Im Räuberhaus“, „Im Schloß“, „In der Hölle“, „Zurück“ und „Das Ende des Märchens“. Das Szenengefüge reiht sich allerdings unverändert zu einem lockeren Bilderbogen, der wieder den Prinzipien einer Stationendramaturgie folgt. Dabei hält sich Waechter eng an den Handlungsgang der ursprünglichen Teufel-Bearbeitung. Unverändert liegen so die dramatischen Schwerpunkte zu Beginn des Stückes, als die drei erhängten Bauern entdeckt werden und dem toten Bauernknecht ein zweites Leben geschenkt wird (Bild 1). Und so konzentriert sich die Handlung in den folgenden Bildern auf den Knecht als Held der Geschichte und dessen Verfolgung durch den König und seine zwei Ratgeber (insgesamt zwei Angriffe), einschließlich der spannenden Mutprobe mit dem Teufel (Bilder 2-4). Unverändert bleibt auch, dass der Knecht hoch geehrt und reich begabt von der Hölle zurückkehrt und die Strafe auf seine Schädiger zurückfällt (Bild 5). Und am Ende verbündet sich noch die geschundene Bevölkerung, um durchaus mit Eigeninteresse gegen den von Machtmissbrauch und Intrigen durchsetzten Hof zu bekämpfen (Bild 6). Es gibt doch auch einige bedeutende Unterschiede im Inhalt. So glättet Waechter in der neuen Fassung Stellen, die ihm offenbar als zu lang erschienen. Zum Beispiel rafft und Darstellung und Analyse 280 verdichtet er den Text im ersten Bild. Da fehlen beispielsweise Szenen und Passagen, in denen die Konfrontation des Knechts mit den königstreuen Soldaten dargestellt wurde. Das gilt auch für das zweiten Bild. Einige Abschnitte sind darin ganz gestrichen worden, etwa die Szene mit den Räubern, in der sie zum Spaß den zu ihnen gestoßenen, als zu fromm geltenden Bauern aus dem Haus hinsauswerfen (Waechter 1975: 63f.). Dabei sind auch lange Dialoge gekürzt worden, wie dies z.B. bei den Gesprächen der Räuber miteinander der Fall ist. Verzichtet wurde auch auf einzelne zirzensische Darbietungen durch die als Gaukler verkleideten Räuber beim wilden Hochzeitsfest im dritten Bild, z.B. die Schwertnummer (Waechter 1975: 78f.) und das Gewichtheben (Waechter 1975: 81f.). Dafür werden dann allerdings auch kurze Abschnitte in der Neubearbeitung geschaffen, so z.B. die lustige Tanzszene auch im dritten Bild, in der mitten in der Trunkenheit den ganzen Festsaal durch das verwegene Räuberpaar ausgeplündert wird (Waechter 1982: 30f.). Anders als in der vorigen Teufel-Bearbeitung fügt hier Waechter, nachdem der Schwindel aufgedeckt wird und der Knecht im Gefängnis landet, eine Szene hinzu: Das heftige Wortgefecht zwischen König und Königstochter, das einen Wutanfall bei dem Mädchen auslöst (Waechter 1982: 34f.). Auch die sich anschließende Szene, als die beiden intriganten Drahtzieher (Minister und Prälat) sich auf den Weg zur Hölle machen, um dem Knecht auf den Fersen zu bleiben (Waechter 1982: 36), kennt keine Parallele in der Urfassung. Als letztes Beispiel hierfür ist noch die neu eingeführte Szene am Ende des vierten Bilds zu nennen, in der Minister und Prälat mit ihren eigenen Waffen geschlagen werden: Der Knecht nutzt ihre Gier nach Gold charmant aus, überlistet sie und schickt beide zusammen in die Hölle (Waechter 1982: 43f.). Es lassen sich aber auch Abweichungen in der Darstellung der Handlung beobachten. Die Unterschiede beginnen schon am Anfang des Stückes. Bereits im ersten Bild haben der Teufel und die Teufelsgroßmutter ihren ersten Auftritt Die Großmutter ist unterwegs, um ihren Enkel zum Essen zu rufen. Da sieht sie drei erhängte Bauern an einem Ast baumeln, und weil sie Mitleid mit ihnen hat, schneidet sie die Stricke durch, und die Körper plumpsen zu Boden, um gleich zu neuem Leben zu erwachen (Waechter 1982: 9f.). Mit dieser neu eingeführten Szene lässt Waechter die in der Urfassung vorhandene Einführung fallen. Nicht nur entfällt so die Vorstellung der an der Handlung beteiligten Figuren durch den Erzähler sowie dessen Bericht über die Ausbeutung der Bauern durch den König; gleichzeitig verzichtet Waechter auch auf die Einweisung der Zuschauer in die historische Situation, in der das Bühnenmärchen spielt. Dafür vermittelt Waechter die ganze Vorgeschichte, also die Gesamtheit der Verhältnisse, aus denen sich der dramatische Konflikt entwickelt, durch die Rede der beiden teuflischen Figuren. So wird z.B. das Motiv der Bauernausbeutung im Dialog zwischen dem Teufel und seiner Großmutter eingeführt. Dadurch erfahren die Zuschauer, dass die Bauern ihre Abgaben an den König nicht geleistet haben und deshalb hingerichtet wurden. Und zwar nicht deswegen, weil sie die Abgaben nicht leisten wollten, sondern weil sie sie nicht leisten konnten. So sagt Darstellung und Analyse 281 der Teufel: „Sie haben alle Tage Steine gekarrt für die Mauer vom Königsschloss bis in die Nächte hinein“ (Waechter 1982: 9). Mit der Auslassung der Vorstellung durch den Erzähler wird die Handlung nicht mehr so eindeutig wie bei der ersten Bearbeitung in den historischen Kontext des Deutschen Bauernkriegs gestellt, wobei sich damit eine Hinwendung zum Grimmschen Märchen ankündigt. Hatte Waechter beim Ur-Teufel durch die genannte Dimension versucht, die sozialen Ungerechtigkeiten des feudalistischen Systems Kindern vorzuführen, und dabei eine gezielte, auf Emanzipation und Sozialkritik ausgerichtete Bearbeitung des Teufel-Stoffes auszuführen, so wendet er sich in der Zweitfassung (und von jetzt an) entschieden gegen diese Praxis. Die Ablehnung des „emanzipatorischen“ Ausblicks des Stückes ist vermutlich Ausdruck der Einsicht, „dass Veränderungen, wie ich sie auch gemacht hatte, das Spezialisieren auf irgend einen gesellschaftlichen Aspekt, das Märchen immer nur verkleinern. Die Reichhaltigkeit, die reiche Interpretierbarkeit im Märchen wird dadurch nur eingeschränkt und kleiner“ (Waechter bei Oswald/Bleiker 1992: o.S.). Es bestehen daneben weitere Abweichungen in der Darstellung der Handlung. So wird das Geschehen zu Beginn des fünften Bilds anders dargeboten, d.h.: Wird in der ursprünglichen Fassung die Begegnung des Knechtes mit Fährmann, trauernder Magd und altem Bauern ausschließlich durch die Erzählerfigur wiedergegeben und damit nur indirekt vermittelt (Waechter 1975: 93), so wird es in der Neufasung gezeigt, also durch das Spiel der Figuren direkt dargeboten (Waechter 1982: 45). Zu Beginn des sechsten Bilds dann verzichtet Waechter dagegen auf die direkte und unmittelbare Darstellung der Figuren und gibt eine genaue Beschreibung der Bühne und des Geschehens. Die Regieanweisungen zu den Ereignissen sowie zu den Rollenfiguren und deren Handlungen stehen somit in einem langen Nebentext, der die Episode des Fangens von Maus und Kröte genau festlegt (Waechter 1982: 48). Und in der Schlussszene lässt Waechter – anders als in der ursprünglichen Fassung – dem Fährmann die berühmten Worte sagen: „Ich will euch ein Märchen erzählen, das ist wahrer als manche Geschichte. [...] Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst. [...]“ (Waechter 1982: 50). Beim Vergleich lassen sich in der Dramaturgie auch Unterschiede ausmachen. So streicht Waechter nun den eigentlichen Erzähler heraus und baut stattdessen die Rolle der Teufelsgroßmutter stärker aus. Und zwar als erzählende, handelnde und spielende Figur mit einer eigenen Stimme. Die Teufelsgroßmutter ist nun diejenige, die die ganze Geschichte in Gang bringt. Schon zu Anfang des Stückes kommt sie zum Einsatz, als sie die Stricke durchschneidet und den armen Bauernknecht Schritt für Schritt zum Leben erweckt, wobei hier im Vergleich zur Märchenvorlage und der ersten Bühnenbearbeitung eine „Verstärkung des Bösen“ (Waechter bei Oswald/Bleiker 1992: o.S.) stattfindet, insbesondere bei der Charakterisierung der Figur. Darstellung und Analyse 282 Flüsternd raunt die Alte nämlich dem wieder zu neuem Leben erwachenden Knecht ins Ohr: „Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst. Wer nichts zu verlieren hat als ein Leben voller Plackerei und Angst, der wird vom Elend erdrückt – oder sein Fell wird hart, dass er keinen König und keinen Tod mehr fürchtet“ (Waechter 1982: 10). Sobald sie die berühmten Worte ausgesprochen hat, küsst sie den toten Bauernknecht wach und schenkt ihm damit ein zweites und – wie wir ja wissen – gefahrenvolles Leben. Im zweiten Bild setzt Waechter dann die Teufelsgroßmutter in ihrem „Sorgenstuhl“ (Waechter 1982: 16) und teilt ihr als Erzählerin des Märchens die Schlüsselrolle zu. Von diesem Moment an wird die Geschichte von der Großmutter des Teufels erzählt, deren Figur somit einen nicht unerheblichen Teil der Geschichte einnimmt: Sie ist die weise, allgewaltige Urmutter und damit Arrangeuse des Schicksals des Knechts. Das heißt, sie wird zu derjenigen Instanz, die als Katalysator die Handlung vorantreibt, ergänzt und beendet. Andererseits erscheint die Teufelsgroßmutter als handelnde Figur im Stück, sie ist also Teil der Geschichte. Sie fungiert als Helfer des Knechts (Waechter 1982: 39) und leistet in dieser Funktion unterstützende Hilfe beim Herbeischaffen der drei goldenen Haare sowie beim Lösen der drei Rätsel (Waechter 1982: 40f.). Wie bei der ursprünglichen Textfassung zeichnet sie sich hier auch als übernatürlich-befähigte Helferin aus. Ihre übernatürlichen Kräfte befähigen sie, sich selbst in ein verführerisches Weib zu verwandeln, um den Knecht zu helfen. Durch die Figur der Teufelsgroßmutter als Erzählerin der Geschichte gelingt es Waechter, die epische Struktur im theatralischen Medium zu bewahren. Im Vergleich allerdings zu früheren Zwischenerzählern (man denke beispielsweise nur an Bürkners „Märchenpostillion“) verbindet sich bei Waechter Dramatisches in aller Selbstverständigkeit mit Epischem. Das ist nur dadurch möglich, da Waechter eine Rahmen-Erzählebene in der (Bühnen-)Gegenwart schafft, mit der er zum Wesen des vorgelesenen bzw. erzählten Märchens zurückkehren kann. Mit der Figur der Teufelsgroßmutter als Erzählerin greift Waechter nämlich das althergebrachte Bild von der märchenerzählenden Großmutter auf. Weiterhin ist die Zweitfassung des „Teufels“ um weitere Einzelheiten ergänzt worden, z.B. durch das Lied der Teufelsgroßmutter im vierten Bild. Die darin gezeigten Vorgänge werden mit Strophen des Lieds unterlegt, die innerhalb der Szenen verwendet werden; sie sind also dreimal zu hören. Immer wenn die Großmutter den Teufel auf dem Schoß zum Einschlafen lässt, hört man eine Strophe, in der das Mensch-Mensch-Verhältnis thematisiert wird. Dabei wird ausgeführt, dass Menschen Schafe wie Wölfe sind, oft auch die Wölfe ihrem eigenen Schaf (Waechter 1982: 40ff.). Hinsichtlich der Figuren müssen noch einzelne Momente unterstrichen werden. Besonders zu erwähnen ist, dass die Figur der Königstochter in der zweiten Fassung noch stärker ausgebaut wird. Waechter gibt ihr eine weitere Facette und auch ihre Beziehung mit dem König, ihrem Vater, wird konfliktreicher. Damit gewinnt sie deutlich an Kontur. Am Ende des dritten Darstellung und Analyse 283 Bilds kommt es zu der Konfrontation zwischen der Königstochter und dem König. Der Vater- Tochter-Konflikt bricht auf, als der König den Schwindel aufdeckt und der Knecht im Gefängnis landet (Waechter 1982: 34f.). Die Königstochter, die von ihrer Liebe zum Knecht geblendet ist, leidet sehr und bittet herzzerreißend den Vater um seine Freilassung. Das Bitten seiner Tochter lehnt der König aber aufgrund deren attestierter Irrationalität ab. Der König hält seine Tochter für töricht, unüberlegt und vom Teufel besessen. Den Auftritt seiner Tochter entwürdigt er als Narretei und gibt vor, dass ihn die tief emotionalen Liebesgeständnisse nicht rühren (Waechter 1982: 35). Dies führt unwiderruflich zum Bruch der beiden. In dieser Situation eröffnet sich ihr keine andere Handlungsoption als den Ausbruch aus dem Elternhaus. Sie lehnt den Vater und alles, was von ihm kommt, pauschal ab und folglich zieht sie mit dem Knecht und der Räuberbande, um gegen Korruption und Machtmissbrauch zu bekämpfen (Waechter: 47). Im Ãœbrigen sind die anderen im Stück auftretenden Figuren so, wie man von denen in Erinnerung hat. So zeigt die zweite Teufel-Fassung die Hauptfigur auch ganz positiv und die Gegenspieler bleiben auch als solche erhalten. Der Knecht ist Widerstandskämpfer, der gegen das als ungerecht empfundene Handeln der anerkannten Obrigkeit gerichtet ist, und zwar gegen die dominanten Interessen der Mächtigen – verkörpert durch den bösen König und seinen Beraterstab: den schmierigen Minister und den devoten Prälaten. Auch die wüsten, lauten und schreienden Räuber treten hier auf. Und auch diesmal gibt es die ausgelassene Hofgesellschaft, die sich bei der Hochzeit des ungleichen Paares dekadenten Spielchen hingibt, was wiederum eine Parodie auf das höfische Leben darstellt. 3. Fassung160 Die ersten Änderungen der dritten Teufel-Fassung beziehen sich auf die Besetzung. Im Vergleich zur Fassung von 1982 ist nun die Besetzung des Stückes um 21 neue Figuren erweitert worden. Das Personenverzeichnis enthält so über 50 Rollen, darunter viele kleinere Rollen. Neu hinzugefügt hat Waechter in die neue Fassung z.B. den Wind, den Hofnarren sowie Figuren aus dem Hofstaat des Königs (u.a. eine unglückliche Freifrau und einen verklemmten Baron). Die große Zahl der mitspielenden Figuren kann allerdings mit wesentlich weniger Schauspielern auf die Bühne gebracht werden. Insofern kann das Stück – so Waechters Hinweis (1988: 99) – von acht Schauspielern gespielt werden und erlaubt jederzeit Mehrfachbesetzungen, besonders bei den kleineren Rollen. 160 Diese Version gilt für einen Teil der Forschung als die 2. Fassung (vgl. dazu Schneider in KJTZ 1994: 334). Denn meist neigt sie dazu, das Teufel-Stück in seiner ursprünglichen Fassung von 1975 nicht zur Kenntnis zu nehmen. In anderen Fällen – bei Dolle-Weinkauff (1998: 146) z.B. – wird die 3. Fassung einfach übersehen. Darstellung und Analyse 284 Auffällig bei der dritten Fassung ist auch, dass sie die ursprüngliche Einteilung des Stückes wiederherstellt. So gliedert sich das Stück wieder in fünf Bilder: „Auf dem Lande“, „Im Räuberhaus“, „Auf dem Schloß“, „In der Hölle“ und „Zurück“. Es ist also insgesamt episodenhaft strukturiert, wobei sich die Grimmsche Vorlage einmal wieder bemerkbar macht. Die Einteilung des Stückes in Abschnitte erinnert noch einmal an das Stationendrama, da es die aus dem Märchen überlieferten Eregnisse vor der Hochzeit, während der Hochzeit und nach der Hochzeit von Königstochter und Bauernknecht darstellt. Im Mittelpunkt des Geschehens steht also der bereits aus den vorigen Teufel-Fassungen bekannte junge Knecht, der trotz aller Angriffe durch den König nicht aufgibt und letztendlich die Tochter des Königs zurückgewinnt. Als eines der Hauptkennzeichen der dritten Teufel-Fassung gilt aber das Verschwinden der Teufelsgroßmutter aus dem Stück als Erzählerin der Geschichte. Damit ist folglich auch die epische Erzählweise verschwunden. Allerdings bleibt die Figur der Großmutter Auslöser der Handlung. Zu Beginn des Stückes taucht sie im Zuschauerraum auf und sucht nach dem Teufel, den sie mit Kartoffelpuffern an den Tisch anzulocken versucht. Dabei sieht sie plötzlich den Schwanz des Teufels und entdeckt ihn auf der Bühne hinter dem herabgelassenen Vorhang. Gleich nachdem der Vorhang aufgezogen wird, sieht man das schon bekannte Bild von den drei erhängten Bauern. Allerdings erfahren die Zuschauer zunächst nicht, warum sie da hängen (Waechter 1988: 101). Da zückt die Teufelsgroßmutter ein Messer und macht einen der Erhängten vom Strick hinunter. „Das wär doch gelacht, wenn nicht auch mal ein armer Schlucker könnt das Glück beim Zipfel packen“, flucht sie im Zorn wegen der unerbittlichen Verhältnisse. Denn es sind schlimme Zeiten, aus dem Höllental faucht der Wind und pfeift von Hunger, Not und Elend (bzw. toten Bäumen und versiegten Quellen) in der Region (Waechter 1988: 101f.). Also redet die Alte beschwörend auf den toten Knecht ein, spricht dabei die berühmten Worte aus: „Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst [...]“, küsst ihn lebendig und huscht davon (Waechter 1988: 102). Dem Tode nur knapp entkommen, trifft der Knecht auf die Nachhut des sich zurückziehenden Königs. Die Soldaten machen nicht viel Federlesens mit ihm. Und weil er jung und stark und deshalb gut für den Kriegsdienst ist, wird er zwangsweise in den Soldatenrock gesteckt (Waechter 1988: 103f.). Das freut den Jungen sehr: „Ich bin in einer Glückshaut geboren. Wenn das so weitergeht, wird noch die Königstochter meine Frau“ (Waechter 1988: 105). Das aber ärgert den König, der sich von dem heuchlerischen und intriganten Spiel seiner zwei engsten Berater (Minister und Prälat) täuschen lässt und ihm mit der selbstvernichtenden Botschaft zum Königshof schickt (Waechter 1988: 106f.). Soweit das erste Bild. Ab hier beginnt, wie bekanntlich, die Darstellung der Abenteuer und Proben, welche der Knecht als der Held der Geschichte zu bestehen hat, bis er die Tochter des Königs als Frau endgültig behalten kann. Allerdings überarbeitet Waechter dabei den Text, ergänzt ihn mit allerlei Einfällen, streicht manchmal ganze Szenen oder schreibt die Bilder neu. Darstellung und Analyse 285 Das ist besonders gut beim dritten Bild zu beobachten (Waechter 1988: 113ff.). Hier werden die Vorgänge beim Hochzeitsfest ganz anders als die früheren Fassungen dargestellt: Die erste Szene zu Beginn des Bilds zeigt ein Hochzeitszug mit segnendem Hofkaplan an der Spitze. Ihm folgen die geladenen Gäste, die in Zweierreihe durch die Bühne vorbeiziehen und dabei einen feierlichen Choral singen. Besonders auffällig bei dem Gesang ist, dass die Figuren nach Waechters Bühnenanweisung die gleiche Melodie singen, aber einen anderen Text, der beim Singen ständig wiederholt wird (Waechter 1988: 113ff.). Während des leeren und steifen Hofzeremoniells wechseln dann witzige Dialoge zwischen dem Knecht und der verliebten Königstochter mit turbulenten Versteckszenen ab, bei denen besonders die dramatische Bewegung des Stückes verstärkt wird (Waechter 1988: 115ff.). Das gilt auch für die lustigen Streiche und witzigen Verkleidungsszenen von den Räubern, die daneben für kurzweilige Situationen sowie zusätzliche Komik bei der Hochzeitsfeierlichkeit sorgen (Waechter 1988: 118ff.). Dort wird lustig gezecht und getanzt. Das fröhliche Fest wird erst von dem eben heimgekehrten König unterbrochen. Als der Betrug aufgedeckt wird, lässt er den Knecht in rasender Wut im Gefängnis einsperren. Die Prinzessin jedoch leidet sehr (Waechter 1988: 121). Besorgt um seine Tochter und um seine Macht im Königreich lässt sich der König noch einmal von seinem Minister und dem Prälaten beraten – im Laufe des Dialogs wechseln sie sich gegenseitig ab und tragen dabei ihre Argumente vor (Waechter 1988: 122f.) – und so wird der Knecht nun zur Hölle geschickt, um die drei goldenen Haare vom Kopf des Teufels zu stehlen (Waechter 1988: 124). Ãœberzeugt von der Unlösbarkeit der Aufgabe freut sich der König darüber und sieht sich bereits als tröstender Vater: Mit „väterlicher Anteilnahme“ versucht er seine Tochter gefügig zu machen, während der Knecht in Hölle wandert (Waechter 1988: 124f.). Weitere Änderungen am Text ergeben sich im vierten Bild. Hier bilden die Erlebnisse des Knechts während seiner Reise in die Hölle eine alptraumhafte Szene: Im Traum begegnet er den zwei verzweifelten Menschen, die nicht wissen, warum „der Baum keine Früchte mehr trägt [...] [und] der Brunnen nicht mehr fließt“ (Waechter 1988: 127). Daneben erscheint auch das Schlaflied, mit dem die Großmutter ihren satanischen Enkelsprössling in Schlaf versenkt, um ihn seine Geheimnisse und die drei goldenen Haare zu entreißen, mit ein wenig Textänderung. Im Lied ist nämlich das Mensch-Mensch-Verhältnis als Thema verschwunden zu Gunsten naiver und zugleich grausamer Strophen über durch die Sonne brennende Schafe (Waechter 1988: 130f.). Während das vierte Bild mit Ausnahme der eben besprochenen Änderungen weitgehend unverändert bleibt, hat Waechter für das fünfte und letzte Bild eine Neufassung erarbeitet. So neigt sich die Waage gleich am Anfang des Bildes eindeutig zur Seite ökonomischer Textraffung hin: Der Knecht kehrt als reicher Mann zur Prinzessin zurück – mit den geforderten drei Haaren und der Lösung für die drei Rätsel (Waechter 1988: 134ff.) – und der habgierige Darstellung und Analyse 286 König möchte nur eines: Sich ebenfalls einen goldenen Anteil in der Hölle verschaffen (Waechter 1988: 136f.). Im Vergleich zu den früheren Fassungen wird die Sorge des alten Bauern und der trauernden Magd dennoch gleich nach der Lösung der einzelnen Rätsel beseitigt, d.h. die Rettung von Brunnen und Baum wird ohne die Hilfe der Räuber und der Königstochter vollzogen, wobei eine signifikante Änderung des Textes durchgeführt wird. Was allerdings den Schluss betrifft, so endet das Stück wie bekanntlich mit dem goldgierigen König auf dem Strom am Weltende (Waechter 1988: 139). Und in der Abschlussszene behält auch der Fährmann das letzte Wort: „Ich will euch ein Märchen erzählen, das ist wahrer als manche Geschichte. [...] Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst. [...]“ (Waechter 1988: 140). Abgesehen von Textkürzungen, Textauslassungen und Änderungen hat sich Waechter inhaltlich sehr genau an die vorherigen Teufel-Fassungen orientiert hat. So wird das Stück auch auf zwei Polen aufgebaut: das Fantastische und das Soziale. Allerdings ist der soziale Aspekt zurückgedrängt zu Gunsten der Fantasie, wobei eher versucht wird, näher an der Vorlage der Brüder Grimm zu bleiben. Wie auch bei den Fassungen von 1975 und 1982 hat Waechter sich hier an die Doppelstruktur von Erringung der Königstochter und anschließenden Bewährung der vorherigen Teufel-Fassungen gehalten. Allerdings ist diese Struktur durch weitere kleine Figuren mit je eigener Sprechweise angereichert worden. Das gilt vor allem für die dem Hofstaat angehörenden Adligen, aber auch für den Wind, den Waechter einige Handlungspartien raunen lässt (Waechter 1988: 101f.), sowie für die neu hinzuerfundene Figur des Hofnarren. Der Hofnarr spielt im Stück eine wichtige Rolle und sorgt für Humor. Seine Funktion ist die des Hofbegleiters. Er taucht hin und wieder in der Umgebung des Königs und scheut nicht davor zurück, unangenehme Wahrheiten auf spaßhafte Weise auszusprechen. Allerdings ist der Narr keineswegs eine Figur, die nur Späße macht. Im Gegenteil. Im Laufe des Stückes entwickelt er sich auch zum Mahner und Warner, ruft Gefahren (Waechter 1988: 107) aus und deutet rätselhafte Zeichen (Waechter 1988: 123). Als weiteres Kennzeichen der dritten Teufel-Fassung gilt der zusätzliche Einsatz von Sprach- und Situationskomik. Dadurch verstärkt Waechter den satirisch-humorvollen Blick auf die Mächtigen der früheren Fassungen. Schon am Anfang der Geschichte werden die Soldaten durch ihre ungewohnte Sprechart und harte Aussprache: „Pauernlump mach Wietz üper Ssoldat tes Könnix. Büffel: Treip Wietz aus. Merk: Pauernlump stark wie Pferd. Büffel: Gut für Könnix Ssoldat“ (Waechter 1988: 104)161 zu albernen Karikaturen überzeichnet, wie eben auch alle anderen Figuren rund um den königlichen Hofstaat. So wird im zweiten Bild der Adel in der Person des „Grafen vun Brischnja Purka“ durch den Witz des 4. Räubers zum Spottobjekt 161 Die Sprache der Soldaten erinnert sehr deutlich an die unverkennbare Sprechweise von Dr. Sinn und seinen Clownsschülern (Wiesel, Quaste, Schmaltz und Karfunkel) bei Waechters frühem Stück Schule mit Clowns (1975). Darstellung und Analyse 287 (Waechter 1988: 109f.). Und so wird bei der wilden Party nach der Vermählung des Knechts mit der Königstochter im dritten Bild auch die ganze Hofgesellschaft der Komik ausgesetzt. Die dazugehörigen Figuren werden teils ins Lächerliche gezogen, teils sind deren Eigenschaften karikiert und überzogen dargestellt: Die alberne Königstochter, die den Knecht vor allem sexuell interessant findet (Waechter 1988: 114, 115 u. 119); der gläubige Herzog: „Alles ist gottgewollt, alles ist Rätsel, wir unterliegen alle höherem Prinzip“ (Waechter 1988: 118); die unglückliche Baronesse: „Ich bin so unglücklich, liebe das Leben, hasse das Hofgeschwätz, bin so allein“ (Waechter 1988: 118); der tanzende und träumerische Marquis: „Ich segle schon, ich schwebe als wie der Vogel Greif, verfinstere die Sonne mit meinem breiten Schweif [...]. Dort oben blinkt das Leben, da unten gähnt das Grab“ (Waechter 1988: 118f.). Waechter profitiert hier wieder von seiner im Cartoon lang erprobten Fähigkeit zur karikaturistischen Anlage von Figuren und zum Ersinnen komisch-grotesker Späße. Zu erwähnen im Zusammenhang der Komik ist auch das schwer verständlich klingende Kauderwelsch aus verslawischtem Deutsch, das in der Sprechweise der wüsten Räuber zum Ausdruck kommt: ALTE: Än wass wärr, jitsch dosch tschriejewsk an nuje Briejew? 1. RÄUBER: An nuje Briejew? – Woss furr an nuje Briejew, Babutschka? ALTE schaut in den Brief Än jitsch dosch tschriejewsk: Därr Ibermittler dieses Schreibens ist für meine Tochter bestimmt. […] Jitsch dosch tschriejewsk, woss passierrat da? Nu, woss da? 1. RÄUBER begeistert Babutschka! ALTE Dej suffet tri Tagga än tri Nuschnja än Soldatti Künniecki – wejt wejt huntrim Hulz! (Waechter 1988: 112) Mit solchen Fantasie-Dialogen voller Dialektfärbungen und nonchalanter Verballhornungen sorgen die Räuberfiguren für eine lustige auffällige Aussprache und ziehen dabei die Aufmerksamkeit des Kinderpublikums an. Dass die Räuberfiguren in einer eigens für das Stück geschaffenen Dialekt-Kunstsprache sprechen, stellt allerdings nicht nur ein rein ästhetisches Element dar, das Waechter hier einsetzt, um so die Aufmerksamkeit und die Neugier des Zuschauers anzuregen. Es stellt auch ein Versuch zur Individualisierung der Figuren dar. Dadurch wird deutlich, dass Dialekt zur Unterscheidung einzelner Rollen benutzt wird. Schließlich sind in der dritten Fassung des Stückes auch Änderungen in der Figurenzeichnung vorgenommen worden. Besonders interessant beim Vergleich der einzelnen Teufel-Fassungen erscheint die Charakterisierung der Königstochter-Figur. Die neue Version macht aus der protestierenden Prinzessin der früheren Fassungen eine gehorsame. Die vor allem in der Fassung von 1982 aktive Figur, die gegen die väterlichen Anordnungen rebelliert und sich auf eigene Faust auch noch mit den aus dem Leben der höheren Gesellschaft Ausgestoßenen solidarisiert, gerät nun vielmehr in eine weitgehend passive Rolle. In der neuen Darstellung und Analyse 288 Fassung ist sie tatsächlich nicht mehr rebellisch und besonders impulsiv. Sie konfrontiert den Vater auch nicht mit der Verabschiedung, sie würde ausgehen (WAECHTER 1982: 35), sondern zeigt sich selbst verletzlich, hilflos und aufrichtig wegen der Tragik ihrer Situation: „Mein Vater lässt dich in den Turm einsperrn. Du bist mir so nah und mein Vater so fern. Was ist das?“ (Waechter 1988: 121), und wirkt verliebter denn je: Mein Vater schickt meinen Liebsten fort, meine Mutter schickt mich zu Bette, ach, wohnte der Teufel doch hier am Ort! Ach, wenn ich den Liebsten doch hätte. (Waechter 1988: 124f.). 3.4.2.2.4 Entstehung der vierten Fassung Im Laufe seiner Beschäftigung mit Märchen konnte Waechter herausfinden, dass die gemäßere Form, Märchen auf der Bühne zu erzählen, beim Erzählen selbst lag (Waechter 1997: 9). Nach den Versuchen der 1980er Jahre, Märchenstücke jenseits des überlieferten Märchentheaters zu schreiben, entwickelte er somit in den 90er Jahren ein eigenes Konzept im Kindertheater, und zwar durch die Form des „Erzähltheaters“‚ das gerade mit kleinen Kindern und mit einfachen Mitteln ausgeführt werden sollte. Darauf wies 1997 Waechter selber hin, als er speziell auf seine eigenen Erfahrungen in der Theaterarbeit mit Kindern einging. Bei der eigenen Regiearbeit wurde ihm nämlich zunehmend bewusst, dass die Darstellung in konventionellen Theaterformen – d.h. mit fester Bühne, einer Gruppe von Schauspielern, Musik und Effekten – bei den Kindern nicht jene „Kraft der Bilder“ entwickelt, „die sich beim Lesen oder Erzählen des Textes einstellen“ (Waechter 1997: 9). Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er sein „eigenes“ Erzähltheater. Als Hauptmerkmal galt dabei die permanente Anwesenheit eines einzigen Darstellers auf der Bühne, der als Organisationsinstanz eine recht wichtige Rolle einnehmen sollte, und zwar im folgendem Sinne: Der Einzeldarsteller, der zugleich als Erzähler agiert, steht vor einem Publikum, dem er eine Geschichte mit einfachsten Mitteln vorträgt. Dabei schlüpft er nahtlos in die Rolle der darzustellenden Figuren und erfüllt sie mit Leben, vor allem durch Ton, Mimikspiel und Gestik, sodass jede einzelne Figur eine unverwechselbare Art erhält, sich zu bewegen und zu reden (Waechter 1997: 9f.). Da für die Entwicklung der vierten Fassung des Teufel-Stückes das Konzept des „Erzähltheaters“ eine wichtige Rolle gespielt hat, soll nun auf diese Theaterform eingegangen werden, wenn auch recht summarisch. Wie die Bezeichnung bereits verrät, bewegt sich das „Erzähltheater“ zwischen zwei Polen. Auf der einen Seite steht das Erzählen, auf der anderen Seite das Theater. Wenn hier von Theater die Rede ist, ist zunächst die traditionelle Theaterauffassung des Dramas gemeint, d.h. die Verkörperung einer Rolle durch einen Darstellung und Analyse 289 Menschen, die Darstellung einer (Bühnen-) Handlung in der (Bühnen-)Gegenwart, wie es in Kapitel 2 (s. 2.1.1) eingehend dargestellt wurde. Exkurs: „Erzähltheater“ Das „Erzähltheater“ hat sich als Darstellungsform in der gesamten deutschen Theaterszene seit dem Ende des 20. Jahrhunderts sehr rasch entwickelt. Besonders das Erwachsenentheater experimentierte in den 90er Jahren zunehmend mit Formen des „Erzähltheaters“ und schickte sich an, den ästhetischen Reiz geschlossener Geschichten und poetischer Sprache wiederzuentdecken und damit die alten Geschichten neu zu erzählen. „Das Theater wird zum Ort eines Erzählakts“, behauptet Lehmann (2008: 196) und fügt hinzu: „Oft glaubt man nicht einer szenischen Darstellung, sondern einer Erzählung über das gebotene Stück beizuwohnen“. Vor allem mit den Arbeiten von international bekannten Regisseuren wie Peter Brook (geb. 1925), Ariane Mnouchkine (geb. 1939) und Robert Wilson (geb. 1941), die im deutschen Sprachraum kaum ein Äquivalent hatten, setzte sich die Entwicklung hin zum Narrativen immer stärker durch – und damit andere Möglichkeiten der theatralen Kommunikation (Kurzenberger 1998: 212). Allerdings wurde das Erzählen auf der Bühne mit innovativer Funktion ausgestattet. So begann das Theater immer mehr, die Grenzen narrativer Anteile im Drama (Botenbericht, Mauerschau, Diegesis, Monologe) aufzulösen, Mischformen zwischen Dramatischem und Epischem zu entwickeln und im Oszillieren zwischen Realität und Fiktion, Präsenz und (Re- )Präsentation, Bericht und Handlung die über Jahrhunderte gültigen Grundkonstanten der Gattung über Bord zu werfen (Lehmann 2008: 196f.). Das gleiche gilt für zahlreiche mit dem Etikett des „Erzähltheaters“ versehene Texte von deutschsprachigen Autorinnen und Autoren wie Heiner Müller (1929-1995), Herbert Achternbusch (geb. 1938), Peter Handke (geb. 1942) und Elfriede Jelinek (geb. 1946). Auch dabei wurden tradierte Formen dramatischer Darstellung ausgehebelt (Kurzenberger 1998: 212). Die Tendenz zum Erzählen ließ sich auch im Bereich des professionellen KJTs seit Anfang der 1990er Jahre beobachten. Erzähltheater-Inszenierungen hatten einen festen Platz im Spielplan vieler Bühnen und wurden als Repertoirevorstellungen wiederholt aufgeführt (Schneider 1998b: 47f.; Jahnke 1999: 188ff.). Insofern war in der Theaterpraxis und -kritik von „Renaissance des Erzählens“ (Wardetzky 2007: 42), von „Hochkonjunktur des Erzähltheaters“ (Schneider 1998b: 47), ja sogar vom „Triumph des narrativen Theaters“ (Jahnke 2002a: 28) die Rede. F.K. Waechter gilt als einer der ersten namhaften deutschsprachigen Kindertheaterautoren, dessen Stücke seit Ende der 80er Jahre eine Entwicklung hin zum Narrativen zeigen. Aber die wichtigsten Impulse hierfür kamen vor allem von außen, und zwar von Autoren aus den Nachbarländern wie Belgien und Holland, gefolgt von Italien, Skandinavien und der Schweiz. Darstellung und Analyse 290 Darunter ragt besonders der Flämische Stückeschreiber Ignace Cornelissen (geb. 1960) heraus. Seine Stücke, z.B. die beiden Shakespeare-Bearbeitungen Wintermärchen (1992) und Heinrich der Fünfte (1996), wurden in Deutschland rasch rezipiert (Schneider 1998b: 48f.).162 Auch die niederländische Autorin Pauline Mol (geb. 1953) mit ihrer Medea-Adaption Erzähl, Medea, erzähl (1994; DE: Schauburg München, Juni 1997; Regie: Kirsten Dehlholm) ist hier besonders zu erwähnen. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang noch der Italiener Bruno Stori (geb. 1955), dessen Odyssee-Adaption „Die große Erzählung“ (1991; DE: Städtische Bühnen Osnabrück, 01.12.94; Regie: J. Pallas) in Deutschland mit großer Begeisterung aufgenommen wurde und lange Zeit hindurch als Vorbild galt (Jahnke 2002b: 202f.),163 ferner der aus der Schweiz stammende Autor Guy Krneta (geb. 1964), der Verfasser des Stückes Ursel (1995; DE: Schnawwl Mannheim, 25.1.1997; Regie: Antonia Brix),164 und ebenfalls der Schwede Nils Gredeby (geb. 1954). Seine Stoffe entnahm Gredeby der Mythologie, so entstand z.B. Metamorphosen (1986) nach Episoden aus Ovids gleichnamigem Werk (DE: Kinder- und Jugendtheater Essen, 20.4.1988).165 Vor allem dieses Stück zeugt von der Vernetzung des Figuren- oder Objekttheaters mit Formen des „Erzähltheaters“: Hier werden Erzählung, Spiel und Materialien bzw. Gegenstände zu einem Gesamtwerk zusammengefügt.166 Das Phänomen des „Erzähltheaters“ nahm in der Tat eine so große Bedeutung innerhalb der deutschen KJT-Szene im Laufe der 1990er Jahre ein, dass seitens der Theaterkritik – von Schneider (1998b: 56) z.B. – gefordert wurde: „Es ist also höchste Zeit, das Erzähltheater als eigenständige Gattung anzuerkennen“. Diese Ansicht vertrat auch Baesecke (2002: 42), als er bemerkte: „Angesichts vieler Produktionen, die sich so [,Erzähltheater‘] bezeichnen, kann man sich schon fragen, ob da wirklich eine neue Theatergattung entsteht.“ Was aber zeichnet das „Erzähltheater“ aus? Welche dramaturgischen Eigenarten machen diese neue Gattung aus? Was birgt das „Erzähltheater“ Neues? 162 Cornelissens Stücke wurden durch das Ensemble TheaterGrueneSosse (Frankfurt am Main) uraufgeführt: Die Premiere von Heinrich der Fünfte fand am 13. April 1996 im Theaterhaus Frankfurt unter der Regie von Inèz Derksen statt. Wintermärchen wurde am 13.11.1997 in der Regie von Silvia Andringa inszeniert. 163 Darin lässt Stori einen Schauspieler in die Rolle eines Kinds (Rico) schlüpfen, das Mittler und Bindeglied zwischen dem Publikum und Homers Heldensage wird. Rico sucht seinen Weg nach Hause, verpasst auf dem Bahnhof seinen Zug und hört hier von einem alten Mann die Geschichte des Odysseus, die er weiter erzählen möchte. Er erzählt und spielt die Irrfahrten des Odysseus. Nebenher erfahren die Zuschauer Weiteres von Rico: seinen Befürchtungen, seiner Liebe zu seinem Freund Pinela und den guten Ratschlägen seiner Mutter. 164 Eine kurze Besprechung von Krnetas Stück findet sich in: Schneider 1998b: 51f. 165 Eine ausführliche Beschreibung von Gredebys Stück gibt Jahnke in: KJTZ 1994: 106ff.. Das Stück wurde dann 1991 vom Autor selbst überarbeitet und noch in der Spielzeit 1990/91 am damaligen Kinder- und Jugendtheater theater-spielplatz des Staatstheaters Braunschweig von Enno Podehl inszeniert (Kurzenberger 1998: 225). 166 Nähere Angaben zur Aufnahme des Stückes durch das Ensemble des theater-spielplatzes (Braunschweig) in: Kurzenberger 1998: 225ff. Zur Aufnahme an der Württembergischen Landesbühne Esslingen in der Inszenierung von Brigitte Dethier s. Schneider (1998b: 42f.). Darstellung und Analyse 291 Im „Erzähltheater“ wird das Erzählen von einer Funktion des Theaters zum zentralen Mittel der Darstellung. Somit setzt die Erzähltheaterform wieder ein, was Aristoteles (1994: 59), aber vor allem die Tradition, die sich auf ihn beruft, von der dramatischen Gattung hatte abtrennen wollen, nämlich jeder Bruch der Einheitlichkeit der Handlung durch verschiedene Handlungen bzw. Sprünge der Zeit oder Raumwechsel; durch Episches also. Insofern setzt die Erzählteaterform durch, „was das epische Theater einmal offensiv gegen eine herrschende Theaterform und Spielweise propagiert und offenbar durchgesetzt hat“ (Kurzenberger 1998: 212). Das Theater hat sich gleichwohl des Erzählens seit jeher bedient, solange es mit der Einheit der Handlung kompatibel ist. Narrative Momente haben zwar in der Geschichte des Dramas ihren angestammten Platz. Im antiken Drama stellten der Botenbericht und die Mauerschau (Teichoskopie), das dramaturgische Element dar, das erlaubte, epische Handlungsstränge in die dialogische Form des Dramas einzubinden. Auch im Drama der deutschen Klassik (bei Schiller z.B.) gab es solche narrative Elemente. Dabei ist allerdings die Einbindung von narrativen Anteilen der Gesamtkomposition des Stückes untergeordnet. So z.B. sind Botenbericht und Mauerschau „Rollenerzählungen, in denen die Narration im Aggregatzustand des Dramatischen erscheint“ (Wardetzky 2003: 90). Als solche sind sie Teil des Stückes und finden eingebettet in der Handlung statt, haben insofern eine konkrete Funktion in deren Vollzug (Wardetzky 2007: 42). Dabei handelt es sich, soweit die Forschung dies feststellt, um ein „gespieltes Erzählen“ (Jahnke 2002b: 212), das eine Figur adressiert, niemals jedoch das Publikum direkt, und deshalb nicht dem „Erzähltheater“ zuzurechnen. „Erzähltheater“ meint demgegenüber jene Theaterform, bei der ein Adressieren oder gar Kommunizieren im Sinne des Erzählens stattfindet. Dabei spielt ein Erzähler bzw. Bühnenerzähler die Hauptrolle, d.h.: Der Hauptteil der Geschichte wird von einem oder mehreren Schauspielern in der Rolle eines Erzählers erzählt und dargestellt. Manchmal haben zusätzliche Schauspieler die Aufgabe, das Erzählte weiterzuspielen. Meistens ist aber ein einziger Darsteller auf der Bühne, der in die Rolle des Erzählers schlüpft und die Geschichte „erzählt“. Besonders zu betonen dabei ist, dass dieser erzählende Darsteller mit ähnlichen Mitteln wie der traditionelle Geschichtenerzähler arbeitet. So wendet er sich auch direkt ans Publikum und erzählt ihm eine Geschichte: etwas bereits Geschehenes wird (nach-)erzählt. Dabei spielt er mit Worten, Figuren und Ereignissen, d.h.: Er spielt verschiedene Figuren, skizziert sie, deutet sie an; er spielt eine Situation und tritt im nächsten Moment wieder heraus, um die Geschichte als Erzähler weiter voran zu treiben. Dadurch, dass der Erzähler – und sei es in Nuancen – seine Stimme, seine Haltung, seine Mimik verändert und eine Rolle anzudeuten beginnt, mit der Darstellung also, tritt das Geschehene in die (Bühnen-)Gegenwart ein (Baesecke 2002: 43). Erzählung und Darstellung werden also miteinander verknüpft. Erzählung und spielerische Darstellung einzelner Szenen wechseln sich ab. An diesem Punkt besteht eine augenscheinliche Parallelität zum Spiel der Kinder, da ihnen von ihrem Spielen her das Darstellung und Analyse 292 Wechselspiel zwischen Erzählen (bzw. Erzähler) und Darstellen (bzw. Darsteller) vertraut ist. Beim Spielen werden gleich alle Rollen übernommen, Stimme und Gestus wechseln oft in Sekundenschnelle, kleine Zeichen genügen als Hinweis. Wie der Geschichtenerzähler reduziert auch der erzählende Darsteller einen Teil der Geschichte auf die wesentlichen Informationen, ihn erzählend oder stilisiert andeutend, um andere Stellen dramatisch auszuspielen. Dabei lassen Tonfall, Gesten, Mimik und Haltungen die Figuren der Erzählung aufscheinen, um sie wieder in den Erzählfluss einzureihen. Mal nimmt der Darsteller auch die individuelle Fantasie des Zuschauers zur Hilfe, mal benutzt er den Raum, Requisiten und nicht zuletzt Geräusche und Musik. Mit wenigen akustischen Signalen entsteht in der Fantasie des Zuschauers ein Wald, wird der Tag zur Nacht und aus einer gemütlichen Hütte ein bedrohliches Hexenhaus. Manchmal werden auch Materialien, Figuren und Objekte genutzt, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers für die Erzählung zu fesseln (Israel 2005: 15). Das „Erzähltheater“ definiert sich auch und insbesondere durch den Wechsel der Perspektiven. Dies betrifft auch den Erzähl-Darsteller selbst. Einmal ist er allwissender Erzähler und zum anderen spricht er in der Rolle der einzelnen Figuren der Handlung. Die Ãœbergänge in den Spielszenen stellen einen blitzartigen Wechsel von der Außenperspektive des erzählenden Darstellers in die Binnenperspektive seiner Figuren dar (Wardetzky 2003: 90). Als Bestandteile eines jeden Erzähltheatertextes gelten also Erzählerbericht und Figurenrede. Diese tritt nun aber im „Erzähltheater“ selbst dort, wo mehrere erzählende Darsteller agieren, hinter dem Bericht des Bühnenerzählers zurück (Jahnke 2002b: 210). Auch wenn Dialog innerhalb des Erzählkontextes benutzt wird, ist er der Erzählfunktion und nicht einer solchen dramatischen unterstellt. Im eigentlichen Sinne des Wortes gibt es also keinen Dialog. Denn hier konstituiert sich der Dialog nicht als Ausdruck eines „zwischenmenschlichen Bezuges“ (Szondi 1963: 15), sondern „hier werden nur Textblöcke strukturiert, d.h. steht die Gliederung des Inhalts der zu erzählenden Geschichte im Vordergrund“ (Jahnke 2002b: 210). Wenn der Dialog als Gestaltungsmittel des Dramatischen im „Erzähltheater“ ausfällt, so wird diese Gattung doch entscheidend geprägt durch den Dialog mit dem Publikum. Hier entsteht eine ähnliche Beziehung, wie sie Szondi fur das Epische Theater Brechts definiert hat: Alle ästhetischen Mittel sind darauf ausgerichtet, das Publikum als direkten Partner anzusprechen (Szondi 1963: 117ff.). Unterschiede lassen sich nur im Grad der Ansprache erkennen. Brecht versucht in seiner Ästhetik alle theatralen Mittel dahin zu bündeln, „Distanz“ herzustellen, damit der Zuschauer sich aktiv zur vorgeführten Handlung verhalten kann. Der Zuschauer soll zum Betrachter werden, der über die Handlung zum eigenen Erkennen aktiviert wird. Das lässt sich aber im „Erzähltheater“ nicht erkennen. Zwar behält das „Erzähltheater“ einen gewissen Abstand zum Geschehen, was sich deutlich durch den Gebrauch der 3. Person oder der Vergangenheitsform seitens des erzählenden Darstellers äußert (Baesecke 2002). Aber Darstellung und Analyse 293 seine Mittel richten sich darauf, die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu erreichen, um ihn dann in die Geschichte hinein zu ziehen. Er wird also für die zu erzählende Geschichte aktiviert. Beim Spiel wird die individuelle Fantasie des Zuschauers mit einfachen, oft abstrakten Mitteln angeregt, die durch die Erzählung mit Bedeutung aufgeladen werden. Dadurch wird Raum für Fantasie und Assoziationen des Zuschauers gelassen (Schneider 1998b: 45). Dieser wird dadurch zur aktiven Teilnahme animiert: Er vervollständigt in seiner Fantasie, was die Bühne nur andeutet. Er wird hierbei selbst zum Spieler, der je individuell, der eigenen Lebenserfahrung entsprechend, das Gesehene mit Bedeutung auflädt (Jahnke 2002b: 212). Somit ist der Zuschauer durch seine Rezeptionsleistung konstitutiv am künstlerischen Prozess beteiligt. Im „Erzähltheater“ gilt also ganz besonders, was für das Theater überhaupt gilt, nämlich, dass es sich erst im Gegenüber mit dem Zuschauer realisiert. Damit trägt die Form des „Erzähltheaters“ nicht nur zu einer neuen Schauspielkunst bei, sondern auch zu einem neuen Verhältnis zum Publikum, das als eine besondere Form direkter Kommunikation beschrieben werden könnte. Rein theoretisch betrachtet unterscheidet sich diese Form wie dargelegt nicht von der des Geschichtenerzählens, denn auch hier tritt ein sich direkt an das Publikum wendender Erzähler in Erscheinung. Sie unterscheidet sich aber doch davon deutlich dadurch, dass hier der Erzähler nicht als Erzähler auftritt. Vielmehr übernimmt er die Rolle eines Erzählers, der als Kunstfigur das Erzählte in mimetischen Handlungen veranschaulicht. In dieser Rolle wendet er sich erzählend unmittelbar an das Publikum und adressiert es als seine Zuhörer. Hierzu gehört nicht nur, dass der Erzähler zur Rolle wird, sondern ebenso, dass die raum-zeitlichen Bedingungen der Bühne gelten, d.h.: „Erzähltheater“ kommt ganz im Gegensatz zum Erzählen nicht ohne Bühnenbild, Spielrequisiten und Scheinwerfer aus. Indem das Erzählen nun den Regeln des Theaters unterworfen ist, wird es zum „gespielten Erzählen“ (Jahnke 2002b: 211f.). Vierte Bearbeitung: Der „Teufel“ als Erzähltheaterstück Unter dieser Vorstellung entstand also die vierte Bearbeitung des Teufel-Stoffes, diesmal als Einpersonenstück, das nach dem Konzept des „Erzähltheaters“ aufgeführt werden sollte. Dabei wurde zunächst versucht, eine andere Erzählweise für den Grimmschen Stoff zu finden. Diese sollte nun auf die Mittel theatralischer Erzählkunst konzentriert sowie auf einen bestimmten Schauspieler abgestimmt werden. Mit der Schauspielerin Verena Reichhardt fand Waechter die Wunschbesetzung dafür. Und so war die umgearbeitete Fassung des Stückes unter dem Titel Verena Reichhardt erzählt vom Teufel mit den drei goldenen Haaren erstmalig am 27. Juni 1991 im Jungen Theater Göttingen zu sehen.167 Waechter inszenierte sein Werk als Eine-Frau- 167 S. dazu Anne Malburgs Presseankündigung der Uraufführung, in: Göttinger Tageblatt, 28.6.1991. Darstellung und Analyse 294 Erzähltheater selbst und wich dabei kaum von den früheren Textfassungen für die große Bühne ab. Bei der Premiere zeigte Reichhardt als einzige Darstellerin auf der Bühne eine schauspielerische Meisterleistung, wie man aus den ersten Pressestimmen nach der Vorstellung – etwa von Markus Pauly im Göttinger Tageblatt (2.7.1991) – entnehmen kann. Auffällig dabei war, dass im Laufe der Geschichte sich dem Publikum über 40 verschiedene, zum Figurenarsenal des Märchens gehörende Rollen darstellten, sämtliche von ein und derselben erzählenden Schauspielerin in andauerndem fliegendem Wechsel gespielt. Alle Situationen und Stimmungen wurden durch Dialog und Körpersprache ausgedrückt. Besondere Bedeutung erlangten insofern vor allem die Gesichter der Schauspielerin bei der Charakterisierung der einzelnen Figuren, durch Mimik und Gestik dargestellt. Indem das Stück allein von den schauspielerischen Fähigkeiten der Darstellerin leben sollte, wurde völlig auf große technische Effekte und Requisiten verzichtet – die kahle Bühne war fast nur mit einer Fußbank ausgestattet.168 Die erfolgreiche Göttinger Erzähltheater-Fassung führte 1997 dann zur Veröffentlichung des Stückes durch den Frankfurter Verlag der Autoren mit dem Titel Vom Teufel mit den drei goldenen Haaren (abgedruckt in: Waechter 1997: 13ff.). Das Stück gibt es auch als Hörspiel, gelesen vom Schauspieler Stefan Drücke (geb. 1966). Die Hörspielfassung (Regie: Kerstin Müller) erschien 2000 bei meta records in Nürnberg unter dem gleichen Namen. Im Vergleich zur Stückfassung schlüpft der einzelne Darsteller als Erzähler in 17 Rollen unterstützt von einem Musiker (Ralf Altrieth) mit Miniklangorchester. Stückanalyse Das Rollenverzeichnis des Stückes umfasst in der Erzähltheaterfassung noch gut vierzig Figuren und die Geschichte berührt viele Orte. Die Unterschiede zum Stücktext von 1988 sind im Großen und Ganzen unbeträchtlich. Waechter hält sich eng an den Handlungsgang von der früheren Fassung: Ein einfacher, zu neuem Leben erweckter Bauernknecht wird aus Versehen Soldat des Königs und benimmt sich im Waffenrock derart daneben, dass der König und seine Berater annehmen, er sei vom Teufel besessen. Deshalb wird er mit einer Botschaft ausgeschickt mit dem Inhalt, man solle den Knecht verbrennen, „wie es sich für einen Satansbruder gehört“ (Waechter 1997: 16f.). Der arglose Knecht gerät indes in die Hände von Räubern, die dem König einen Streich spielen: Sie fälschen den Brief ab, statt verbrannt soll der Knecht mit der Königstochter vermählt werden (Waechter 1997: 18ff.). Das trifft sich ganz gut, denn die Königstochter sollte den mächtigen und reichen Prinz von Lothringen zum Mann 168 Vgl. weiterführend die Kritiken zu den nachfolgenden Aufführungen im September 1991 im Freien Theaterhaus in Frankfurt durch Christine Thalmann, in: Frankfurter Neue Presse (1.10.1991) und durch Eckhardt Mittelstädt, in: Frankfurter Rundschau (4.10.1991). Darstellung und Analyse 295 nehmen, den sie eigentlich gar nicht leiden kann. Der Coup gelingt: Der Knecht heiratet die Prinzessin, indes die Räuber als Zauberer aus dem Morgenland getarnt Mist in Gold verwandeln wollen, statt dessen aber Gold in Luft umzaubern, die Hochzeitsgesellschaft ausrauben und das Königsschloss ein bisschen in Brand stecken (Waechter 1997: 22ff.). Beim ganzen Wirrwarr kehrt der König zurück und deckt den Schwindel auf, und gar nicht erfreut über die Liebe seiner Tochter mit dem „Bauernschwengel“ will er sich des ungewollten Schwiegersohnes entledigen, indem er ihn zum Teufel schickt. Von dessen Kopf soll der Knecht drei goldene Haare rupfen, um sich der Ehe würdig zu erweisen (Waechter 1997: 29ff.). Und das tut er freilich zu diesem Zweck. Durch charmante Ãœberredung gewinnt er die Großmutter des Teufels für sich, die ihm zu den drei goldenen Haaren und somit zur Königstochter verhilft (Waechter 1997: 35ff.). Auch wenn der Handlungsausgang der Textfassung von 1988 gegenüber bis zu einem gewissen Grad gleich ausfällt, sind kleine Änderungen und Veränderungen an einigen Stellen der Handlung und im Figuren-Bereich vorgenommen worden. Neu führt Waechter beispielsweise die Szene des Wurzel-Zerschlagens ein: Um sich für die Hochzeit mit der Königstochter zu qualifizieren, muss der Knecht sich einer Stärke-Probe, hier einem Wurzel- Zerschlagen-Wettkampf mit einem Riesen und dem Prinzen von Lothringen, stellen. Die Prinzessin hat nämlich geträumt, dass sie „den zum Manne haben soll, der eine Eichenwurzel zerschlägt“. Natürlich besteht der Knecht diese Prüfung und gewinnt auch gleichzeitig das Herz des Mädchens (Waechter 1997: 22ff.). Doch Waechter hat die Handlung nicht nur an dieser Stelle umgearbeitet, er hat sie auch um eine weitere Facette bereichert. Mit großem szenischen Einfallsreichtum geht er nämlich die Szenen der Vermählung des Knechts mit der Prinzessin an, insbesondere die Szene der wilden Party. Er schreibt die Szene so um, dass die Räuber den Thron anzünden und die betrunkenen Gäste überreden, sich wegen der Hitze auszuziehen. Und in diese Orgie platzt der heimkehrende König, der daraufhin im Kampf mit dem Knecht auf einem Misthaufen landet (Waechter 1997: 28ff.). Mit diesem Bild verschärft sich der satirisch-humorvolle Blick deutlich und gilt vor allem dem König. Dass Waechter bestimmte Situationen ausgebaut hat, zeigt sich auch an den gegen Ende der Handlung neu eingebauten Liedern, die von den zwei verzweifelten Menschen gesungen werden (Waechter 1997: 42f.). Darin singen der Bauer und die trauernde Magd von Not und Tod, wobei hier anders als bei den vorhergehenden Fassungen eine zunehmende Betonung des Existenziellen nahe liegt. Die letzte bedeutsame Änderung betrifft schließlich den Schluss. So steht als Schlusstext „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann feiern sie noch heute“ (Waechter 1997: 45). Dabei geht Waechter hier etwas anders als sonst üblich vor. Im Vergleich zu den früheren Teufel-Fassungen nimmt er die bekannte Schlussformel des Märchens in das Stück auf. Dadurch lässt er, wie sonst im Märchen, „das Geschehen nach vorwärts ins durative Grenzenlose verlaufen“ (Klotz 1985: 16). Darstellung und Analyse 296 Die vierte Teufel-Fassung ist Waechters am deutlichsten epische Version des Stückes. Es ist die Gestalt des Bühnenerzählers (bzw. des Märchenerzählers in der Uraufführungsfassung), die auf ganz andere Weise als in den früheren Fassungen für das Epische verantwortlich ist: Als erzählerisches (also undramatisches) Element und außerhalb der Handlung stehend, spricht er (der Rhapsode auf der Bühne) seine Erzählung spielend, geschult an der Tradition klassischer Epik, wobei die Tradition der antiken Rhapsoden, die von den Bänkel- und Moritatensängern des Mittelalters bis in die Neuzeit gepflegt wurde und auch mit dem Mistero buffo (1969) von Dario Fo (geb. 1926) assoziiert wird, Vorbild gewesen sein dürfte. Zugleich ist die vierte Teufel-Fassung eines der epischen Musterstücke Waechters, in dem die neuen Mittel und Formen des „Erzähltheaters“ gehäuft auftreten: Erzählung: Die Geschichte des Bauernknechts wird vom Bühnenerzähler erzählt und zugleich inszeniert: Er ist Erzähler und Schauspieler zugleich. Dabei liegt die Macht des Erzählers weniger im Verfügen über die Geschichte – als absoluter, also „auktorialer“ bzw. allwissender Erzähler – als vielmehr in seiner Funktion als Spieler, der als einzelner Darsteller die Grimmsche Teufel-Geschichte mit einfachsten Mitteln darstellt; z.B. mit einer bildhaften Sprache, die durch Stimme, Mimikspiel und Grimassen bereichert wird. Die Sprache ist allerdings mehr als bildhaft. Es ist eine poetische Sprache – und zwar im doppelten Sinne. Einmal nämlich, indem Waechter auf alte Sprach- und Redeweisen zurückgreift, und andererseits, indem er diese mit Hilfe von Fragmentarisierungen und metrischen Verschiebungen zu einer neuen Textebene zusammenfügt. Eine solche Sprachbehandlung, insbesondere die künstliche Archaisierung der Sprache, steht dem Grimmschen Märchen sehr nahe. Als Dialogpartner steht dem Bühnenerzähler das Publikum gegenüber, vor dessen Augen (und Ohren) allein durch schauspielerische Mittel die verschiedenen Figuren zum Leben erweckt werden. Mimik und Gestik werden eigentlich zu entscheidenden Mitteln, vor allem zur Charakterisierung der einzelnen Figuren der Handlung. Kombination von Erzähl- und Spielebene: Das Stück ist insofern gekennzeichnet durch die Verschränkung von Erzählrede, Figurenrede und szenischer Darstellung (Wardetzky 2003: 90), wobei es „zwischen Erzählen und Spielen keine hierarchischen Unterschiede macht“ (Kurzenberger 1998: 213). Zu Beginn des Stückes sagt der Bühnenerzähler in eindeutig auktorialer Weise: „Es ist schon ein paar Tage her, drei, vier, vielleicht auch sieben, da schlurfte des Teufels Großmutter über die Erde und suchte den Teufel“ (Waechter 1997: 15). Er verstellt dann seine Stimme und sagt als Teufels Großmutter: „He, Enkelchen! Wo steckst all wieder? Das Essen steht auf dem Tisch, und wer nicht da ist, ist der Teufel [...]“ (Waechter 1997: 15). Daraufhin schneller Rollentausch. Er nimmt eine andere Haltung ein, bekommt eine neue Stimme und die Erzählung geht weiter: „Da tanzte ihr plötzlich einer auf dem Kopfe herum mit Darstellung und Analyse 297 Schuhen aus dreckigen Lappen. Das war ein Bauernknecht, der über ihr an einem Baume hing und seine Beine tanzen ließ im Wind“ (Waechter 1997: 15). Nach einem kurzen Dialog zwischen dem Teufel und seiner Großmutter wechselt auf einmal die Stimme – und nun schildert der Bühnenerzähler plastisch, wie die Großmutter den gehenkten Knecht mit ihrem Schlachtermesser vom Baum schneidet. Flüsternd raunt dann die Alte dem wieder zu neuem Leben erwachenden Knecht ins Ohr: „Es war einmal ein Bauernknecht, der war so frisch und mutig wie der Teufel selbst. [...]“ (Waechter 1997: 15f.). Und so weiter und so fort. Der Vorgang wiederholt sich im Laufe des Stückes: Der Bühnenerzähler führt in der jeweiligen Szene die Handlungen aus und spielt dabei verschiedene Figuren: Mal schlüpft er in die Rolle des Teufels, der Großmutter oder auch des zu neuem Leben erweckten Bauernknechts; mal spielt er die anderen zum Figurenarsenal des Märchens gehörenden Rollen. Er spielt eine Situation und tritt im nächsten Moment wieder heraus, um die Geschichte in der Rolle des Erzählenden weiter voran zu treiben. Die rasanten Wechsel bringen viel Dynamik in das Stück ein. Damit werden Erzählung und Spiel miteinander verknüpft, d.h. im Laufe des Stückes geht die Erzählung des Bühnenerzählers in die Darstellung über, sie folgen aufeinander. Beim Erzählen lassen sich durch die besondere Erzählweise des Schauspielers in dem Kopf der Zuschauer Bilder entstehen, die das Grimm-Märchen frei nach den Eingebungen der Fantasie illustrieren. Beim Spielen werden alle in der Geschichte vorkommenden Figuren plastisch, d.h. sie werden in Gestik, Mimik und Sprache, sowie Tierstimmen und Geräusche aufgeführt, ohne aber auf das bindende Moment der traditionellen Bühenzwänge auf Einheitlichkeit der Handlung achten zu müssen. Insofern fällt auf den erzählenden Schauspieler eine größere Verantwortung bzw. Chancenraum zu: Durch springende Einfühlungskraft bei jeder Nachahmung muss er die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich ablenken. Mit einem Minimum an Aufwand, aber doch nach gewissenhafter Auswahl, werden also Eigenschaften der Rollen sowie Gefühle angedeutet, angespielt, reduziert oder karikiert, um Märchenbilder, - landschaften und -szenerien imaginär entstehen zu lassen. Um nur ein Beispiel von vielen anzuführen: Nach dem Verlassen des Knechts aus dem Räuberhaus, erleben die Zuschauer mit, wie er zum Königsschloss kommt; dabei wechseln sich in fast bruchlosen Ãœbergängen Erzähl- und Figurenperspektive miteinander ab: SINGT ALS WANDERNDER KNECHT. Ich bin in einer Glückshaut geboren. Jaha Jihi Juhu. Wenn das so weitergeht, wird noch die Königstochter meine Frau. Jaha Jihi Juhu. Da sah er überm Laub der Bäume den höchsten Turm des Schlosses funkeln. An seinem Fenster saß die Königstochter und ihre Tränen fielen in den Schlosshof, denn bei ihr stand der mächtige und reiche Prinz von Lothringen. Den sollte sie zum Manne nehmen und mochte ihn doch gar nicht leiden. ALS PRINZ VON LOTHRINGEN. Sie weinen, meine Teuerste, vertrauen Sie mir Ihren Darstellung und Analyse 298 Kummer. Warum weinen Sie? ALS KÖNIGSTOCHTER. Ich habe geträumt, dass ich den zum Mann haben soll, der eine Eichenwurzel zerschlägt, aber ich will den Riesen nicht. ALS PRINZ VON LOTHRINGEN. Den Riesen? Da sah der Prinz im Schlosshof einen Riesen, der schrie und wetterte, weil eine Eichenwurzel sich nicht spalten wollte von seiner Axt. (Waechter 1991b: 8) Wechsel von Erzählerbericht und Figurenrede: Als wichtiges Merkmal des Stückes gilt also, wie dies im obigen Beispiel deutlich wird, dass es zwischen ausgedehnten Berichten und eingestreuten dialogischen Episoden hin und her gewechselt wird, d.h. der Darsteller wechselt aus der Mittelbarkeit der epischen Darstellung in die Unmittelbarkeit der dramatischen Darstellung. So setzt sich der „Erzählfluss“ des Stückes grundsätzlich aus zwei Reden, nämlich aus Erzähl- und Figurenrede zusammen, die miteinander abwechseln: Mal liefert der einzelne Darsteller als Erzähler lange, beschreibende Erzählprosa ab, dann wieder wechselt er in Figurenrede. Hier führt der erzählende Schauspieler als Alleindarsteller nicht nur Zweierdialoge, sondern er lässt auch ein Gruppengelächter voller Charakteristik imaginär entstehen (Waechter 1997: 28f.), an anderer Stelle höfisches Tanzpalaver (Waechter 1997: 26f.), auch krachendes Räubergesindel (Waechter 1997: 20f.) und Soldatenschnarren (Waechter 1997: 16). Die Figurenrede umfasst also alle Selbstaussagen der Figuren der Geschichte, während die Erzählrede alle Äußerungen des Bühnenerzählers wiedergibt. Dabei wird die Handlung beschrieben, kommentiert oder erzählt. Der Dialog gewinnt hier keinen dramatischen Eigenwert, da er quasi dem Erzählen unterstellt ist. Beim Erzählen liegt die Handlung ganz im Gegensatz zum Drama, bei dem sich die Handlung als gegenwärtiges Geschehen vor den Augen der Zuschauer vollzieht, in der Vergangenheit. Im Sprechtext wird das deutlich dadurch, dass Waechters Bühnenerzähler ebenso wie der traditionelle Geschichtenerzähler die vermittelte Darstellung in der 3. Person Singular oder Plural und im epischen Präteritum überliefert. Der häufige Wechsel von Erzählerbericht und Figurenrede, also die Abwechslung der Erzählerstimme mit den Stimmen der einzelnen Figuren der Handlung, macht den besonderen Reiz des Stückes aus und öffnet dabei eine theatrale Dimension, die sich bei einer Lektüre allerdings gar nicht erahnen lässt. Erst innerhalb einer Aufführung kann sie ihr volles Wirkungspotential entfalten. Auflösung der Guckkastenbühne: Die vierte Fassung des Teufel-Stückes zeichnet sich weiterhin dadurch aus, dass die Guckkastenbühne völlig aufgelöst wird. Besonders deutlich, dass hier die Hermetik der Bühne durchbrochen wird, zeigt sich durch den Bühnenerzähler: Im Laufe des Stückes ist der Bühnenerzähler und somit das Erzählte näher am Zuschauer, als wenn die Handlung unabhängig und abgeschlossen in einer vom Zuschauerraum getrennten Bühne stattfindet. Wie der traditionelle Märchenerzähler erzählt er auch „auf Augenhöhe“ mit dem Publikum, welches als Adressat wahrgenommen wird. Eine wirklich direkte Ansprache an das Darstellung und Analyse 299 Publikum kommt allerdings in dem Stück nicht vor. Vielmehr erfolgt die Hinwendung an das Publikum durch die verschiedenen „Erzähltheater“-Elemente, von denen die Erzählung selbst eines der wichtigsten darstellt. Mit der Teufel-Solofassung und der mündlichen und performativen Dimension des Märchens zielt Waechter insofern darauf ab, über starke Emotionen beim Zuschauer und eine durchaus identifikationsfördernde Wirkung hinaus kunterbunte Bilder in der Vorstellungskraft des Publikums entstehen zu lassen. Im Vergleich zu den früheren Fassungen geht es ihm hier vor allem darum, mittels des gesprochenen Wortes bzw. des schauspielerisch durchlebten Erzählens eine bestimmte Haltung bei den Zuschauern gegenüber dem Theater zu fördern und ihre Kreativität anzuregen. Durch die Reduktion auf die traditionsreiche Kunst des Märchenerzählens kombiniert mit einer gehörigen Portion Schauspielkunst soll die schöpferische Fantasie des Zuschauers herausgefordert werden und zwar im Sinne, dass in seinem Kopf eigene Bilder entstehen und die Märchenfiguren plastisch werden. Die Fantasie des Zuschauers wird somit zum „Mittäter“, d.h. sie erschafft, was nicht zu sehen ist. Damit soll das Publikum nicht auf eine Perspektive des Wahrnehmens festgelegt werden, sondern seine Wahrnehmungsfähigkeit erweitern. Waechter interessiert sich nämlich für das verborgene Element des Theaters, das in erster Linie auf Visualität setzt, die typisch für die außereuropäischen Theatertraditionen ist – man denke zum Beispiel an die orientalische Dramatik, etwa das japanische Theater. 3.4.2.2.5 Schlussfolgerungen Aus den durchgeführten Einzelvergleichen der vier verschiedenen Teufel-Fassungen untereinander können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden: 1) Die von Waechter für die Bühne bearbeitete Geschichte vom Teufel mit den drei goldenen Haaren ist in allen Fassungen an das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm (KHM 29) angelehnt. Allerdings weicht sie in einigen inhaltlichen Elementen von der Märchenvorlage ab. Da fehlt zunächst die ganze Vorgeschichte, also die im ersten Märchenteil vorkommenden Motive der Geburt, Weissagung und spätere Aussetzung des Glückskinds auf dem Fluss durch den König. Damit verzichtet Waechter im ersten, die Exposition bildenden Teil auf den mythischen Hintergrund der ursprünglichen Erzählung und arbeitet stattdessen den Anfang des zugrunde liegenden Märchens um, indem dem Märchenhelden neues Leben eingehaucht wird. Daneben hat Waechter einige dem Grimm-Märchen fremde Teile in die Handlung eingesetzt, z.B. die durch die Räuber als vermeintliche Gaukler- und Komödiantentruppe herbeigeführten turbulenten Szenen, die bei der Vermählung des ungleichen Paares zum Darstellung und Analyse 300 Auslöser nicht nur für komische Situationen und Verwicklungen werden, sondern auch viel Dynamik in die Handlung bringen. Weitere bemerkenswerte inhaltliche Abweichungen der Bühnenhandlung vom Grimmschen Vorbild betreffen den Ausgang. Zwar findet, wie auch im ursprünglichen Märchen, die Geschichte ein glückliches Ende, nämlich das Liebesglück von Knecht und Königstochter. Und auch der Bauer und die Magd werden aus ihren ärgsten Nöten befreit, indem Maus (Minister) und Kröte (Prälat) mit Hilfe der Räuber gefangen werden, und der Fährmann wird in der Fähre vom geldgierigen König abgelöst. Aber bei Waechter wird das Ende von einem Schlusssatz begleitet, der auf den Beginn der dargestellten Geschichte verweist, nämlich: „Es war einmal ein Bauernknecht, der war so mutig wie der Teufel selbst“. Die einzige Ausnahme hierin bildet die 4. Teufel-Fassung. Dabei wird die berühmte Schlussformel vieler Geschichten in das Stück aufgenommen: „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann [...].“ Durch vorsichtige Vergleichung der verschiedenen Fassungen untereinander sind neben solchen Eingriffen in das Grimmsche Märchen auch inhaltliche Änderungen am ursprünglichen Teufel-Bühnentext erkennbar. So werden in den späteren überarbeiteten Fassungen beispielsweise Veränderungen durch Hinzufügung und Auslassung ganzer Textpassagen oder auch durch neue Anordnung verschiedener Teile der „Erzählung“ kenntlich. Durch Hinzufügen neuer Figuren werden auch weitere Änderungen vorgenommen. Das gilt vor allem für die Fassung von 1988. Hier wird die Besetzung um 21 neue Figuren erweitert, sodass das Personenverzeichnis bei der überarbeiteten Fassung im Vergleich zur Urfassung der 70er Jahre mit 33 verschiedenen Figuren jetzt über 50 Rollen enthält. 2) Was den Aufbau angeht, so hält sich Waechter in seinen unterschiedlichen Bühnenfassungen des Teufel-Stoffes eng an die für das Grimmsche Märchen charakteristische Zweifachstruktur von Erringung der Königstochter und anschließenden Bewährung. Allerdings wird diese Struktur durch weitere Figuren mit ihren entsprechenden Handlungen angereichert. So kommen neben den aus dem Original bekannten Figuren weitere Figuren dazu, z.B. diejenigen rund um den königlichen Hofstaat, die für allerlei komische Situationen sorgen, was wiederum eine Parodie auf das höfische Leben darstellt. 3) Bereits in der ursprünglichen Bühnenfassung löst sich Waechter von der üblichen Darstellungsform des Dramas und erweitert dabei die Grimmsche Vorlage zu einem Stationenstück, in dessen Anfangsteil die Ausbeutung der Bauern den Bericht des Erzählers und die Dialoge der Figuren bestimmen (Bild 1) und in dessen weiteren Verlauf Gefahren des Weges deutlich werden lassen, wie schwierig es für den armen, zu neuem Leben erweckten Bauernknecht ist, das von ihm gewünschte Ziel zu erreichen (Bilder 2-5). Auch wenn die 1. Teufel-Fassung in diesem Sinne deutliche Bezüge zur Bauform eines Stationendramas Darstellung und Analyse 301 aufweist,169 lässt sich dabei allerdings von den einzelnen Bildern nicht als Stationen, sondern treffender von Ausschnitten oder Episoden sprechen, da die für das Stationendrama zentrale Idee des Weges (vgl. Stefanek 1976: 387) – wir streben nicht danach, die schrittweise Wanderung des Knechts „durchs Gebiet der Räuber“ (2. Bild) und durch die Hölle (4. Bild) interpretatorisch überzustrapazieren – nicht aktualisiert wird. In der 2. und 3. Teufel-Fassung bleibt auch die Handlung episodenhaft strukturiert, allerdings ist der erste Auftritt der Figur der Teufelsgroßmutter vorbehalten, d.h. sie erscheint und beginnt den Lauf der Geschichte mit dem Durchschneiden des Strickes und dem Wiedererwecken des armen Bauernknechts. 4) Insgesamt verläuft die dramatische Bewegung des Stückes in seinen vier Fassungen in der Darstellung der Abenteuer und Hindernisse, die der Knecht zu bestehen hat, bis er schließlich die Prinzessin als Frau behalten darf. Als eine von mehreren unlösbaren Aufgaben soll der Knecht in die Hölle gehen und dem Teufel drei Goldhaare ausreißen. Ebenso wie in der von Waechter herangezogenen Grimmschen Märchenvorlage führt auch der Mut des Helden am Ende des Stückes zur Erfüllung des eigenen Glücks. Zusammengehalten wird das Stück also von der Geschichte des Knechts als Held, der eigentlich mehr ein Antiheld ist. Denn diesem Knecht, der mit einer Glückshaut auf die Welt gekommen ist und deshalb Anspruch auf die Königstochter als Frau macht und vom König mit mörderischen Aufgaben auf den Weg geschickt wird, um den Fall zu erledigen, kann bei aller Gefahr nie wirklich etwas passieren. Weil die jungen Zuschauer schnell begreifen, dass der Knecht immer der Sieger bleiben wird, verbraucht sich das Spannungspotential des Märchens schnell. So wird Spannung durch ganz andere Mittel erzeugt. Waechter entscheidet sich dafür, den Knecht zum Spielball des Königs zu machen und ihn als Opfer der Intrigen der beiden königlichen Berater (Minister und Prälat) darzustellen. So ist er im Laufe der Handlung einem Geflecht aus Lügen, Intrigen und Verwirrungen ausgesetzt, welches immer wieder, ohne dass er es bemerkt, um ihn herum entsteht. 5) Die ursprüngliche Geschichte der Brüder Grimm wird bei Waechter in eine bestimmte Darstellung, also den geschichtlichen und sozialpolitischen Kontext des deutschen Bauernkriegs eingebunden und zur Geltung gebracht. Das ist besonders bei der Urfassung von 1975 gut zu beobachten. Dabei gestaltet der Autor die scheinbar ausweglose Situation der verarmten Kleinbauern exemplarisch an einem Einzelfall (dem des Bauernknechts) und verweist dabei auf ihre historische Perspektive. Das Stück zeigt Waechters Bestreben, die dramatische Gestaltung 169 In seiner Begriffsbestimmung notiert Spörl das Vorhandensein einer zentralen durchgehenden Figur als charakteristisches Merkmal des Stationendramas (Spörl 2006: 230). Dazu auch Szondis Ausführungen zu Strindbergs Stationentechnik (Szondi 1963: 46f.). Darstellung und Analyse 302 eines individuellen Schicksals mit einer Darstellung gesellschaftlicher Verhältnisse zu verbinden, eine Absicht, die Waechter durch die Stationentechnik verwirklicht. Ursache, Weg und Ausweg sind als Entwicklungsgang der Hauptfigur angelegt, d.h. als Prozess, in dem die Auflösung der Konfliktsituation zwischen dem Knecht und seinen Gegenspielern (König, Minister, Prälat) nicht in eine tragische Katastrophe führt, sondern zum „revolutionären“ Bündnis der aus dem Leben der höfischen Gesellschaft Ausgestoßenen. Am Ende triumphiert das Volk. Im Geiste der 1960/70er Jahre wird also die soziale Geschichte Deutschlands eher oportunistisch ausgearbeitet, um willkürliche Machtstrukturen bloßzulegen. Insofern dient der Bauernkrieg-Hintergrund beim Ur-Teufel zur Dramatisierung des Konflikts: Das Motiv der Bauernausbeutung wird eigentlich aus dramaturgischen Gründen eingesetzt, die sozialpolitische Dimension des Bauernkriegs dient als Hintergrund für die Haupthandlung und die darin auftretenden Figuren. In diesem Sinne benutzt Waechter auch den Klassenkampf dazu, um individualisierte Figuren, also Subjekte zu schaffen. Während die 1. Teufel-Bühnenfassung historisch-politisch geprägt ist und dabei auch die sozialen Ungerechtigkeiten des feudalistischen Systems Kindern vorzuführen versucht, bleiben die späteren überarbeiteten Fassungen näher am Original der Brüder Grimm. Dort herrscht die ausgesprochene „politische“ Tendenz der ursprünglichen Fassung nicht vor. Die menschlich- soziale Dimension, d.h. die Verquickung von sozialen Zuständen mit dem Schicksal des Knechts, bleibt dabei jedoch erhalten. 6) Was die Figurendarstellung anbelangt, so lassen sich die Figuren in verschiedene Gesellschaftsgruppen einordnen: Auf der einen Seite steht die Gruppe des königlichen Hofes und der Verwaltung (König und seine Familie, Gefolgsleute, Geistliche und Diener), auf der anderen Seite die Gruppe des niederen sozialen Standes, also die zum Volk Gehörenden. Hierzu zählen die arme Landbevölkerung, die Räuberbande und allen voran der Bauernknecht als Hauptfigur. Das gilt für alle vier Teufel-Fassungen. Auch wenn Waechters Protagonist immer noch an die Grimmsche Märchenfigur erinnert, so hat die Figur im neuen Fall doch deutlich an Profil gewonnen. Charakterisiert wird der Bauernknecht als lustig, tollkühn, listig sowie als mutiger Einzelkämpfer. Als solcher widersetzt er sich der Unterdrückung durch den König und geht daher gegen die als korrupt und habgierig beschriebene weltliche und geistliche Oberschicht vor. So sind seine größten Gegner neben dem König auch der Minister und der Prälat. Als Mitstreiter hat der Knecht die Mitglieder der Räuberbande. Anders als in der Grimmschen Vorlage wird ihnen eine Bedeutung als Aufständische und Geächtete zuerkannt. Daher wehren sie sich auch gegen die sozialen Ungerechtigkeiten bzw. die Ausbeutung und Unterdrückung durch die Herrschenden. Darstellung und Analyse 303 Ebenso wie sich auf formaler Ebene in der Figur des Knechts das Bindeglied zwischen den mit jedem Bild wechselnden Figuren-, Raum- und Zeitkonstellationen sehen lässt, so wird auch auf der Ebene der Figurengestaltung jede der Figuren in erster Linie über ihre Beziehung zum Knecht charakterisiert – sei sie negativ abgrenzend (König, Minister, Prälat) oder positiv verbindend gestaltet. So sind, genauso wie im Grimmschen Märchen, die alte Räubersfrau, die Räuber und die Teufelsgroßmutter als gezielt dem Knecht helfende und stützende Figuren die einzigen positiv geschilderten Figuren im Stück. Die Räuber, die sich durch die alte Frau durch Herzensgüte auszeichnen, retten durch ihre Manipulation (Briefvertauschung) dem Knecht das Leben. Und die Teufelsgroßmutter hilft beim Ausriss, indem sie ihr Teufelchen mit Schlafliedern einwiegt. Die Gegenspielerposition hingegen ist mehrfach besetzt. So stehen dem bösartigen König zwei Figuren mit Rat und Tat zur Seite: der Herr Minister und der Herr Prälat. Sie sind die einzigen Figuren, die in dem von Waechter herangezogenen Märchen keine Entsprechung aufweisen. Diese neu hinzuerfundenen Gestalten sind die eigentlichen Hintermänner hinter den perfiden Anschlägen des Königs gegen den Knecht. Die Charakterisierung der Figuren erfolgt durch ihre Handlungen und ist somit indirekt, wenn auch in der ursprünglichen Teufel-Fassung die in der Geschichte auftretenden Figuren (wie auch die geschichtlichen Hintergründe und gesellschaftlichen Zusammenhänge) durch den Erzähler ausdrücklich angezeigt und sichtbar gemacht werden. Die Figuren zeichnen sich besonders auch durch ihre Sprache aus, die gänzlich der sozialen Stellung angepasst ist. So steht die Rede der beiden Figurengruppen (Hof/einfaches Volk) in einem kontrastierenden Verhältnis zueinander: hier die gehobene Redeweise, dort die umgangssprachliche. Dem hohen Rang entsprechend sind also alle Figuren der Hofwelt der gehobenen Sprache mächtig: Sie sprechen in hochstilisierter, gewählter Sprache. Die Figuren, die dem niederen Gesellschaftsstand angehören sprechen dagegen eine einfache Sprache. Charakteristisch für ihre Sprache ist, dass darin viel Umgangssprache und viele Redewendungen, ja sogar mundartliche Ausdrücke (z.B. Doppelverneinung) vorkommen. Ihre Redeweise bleibt dabei schmucklos. Durch Figurendarstellung, vor allem durch Figurenrede und Figurenhandlung, wird Komik hervorgerufen. Besonders der König und sein Hofstaat werden stark karikiert. Hinzu kommen noch die in die Bühnenhandlung eingeflochtenen Slapstick-Elemente. Dabei handelt es sich um Elemente, die keineswegs hinzugefügte Stücke, künstliche Anhängsel oder dekorative Einzelheiten sind, sondern wirkliche Bestandteile der Handlung. Der Unterschied zum traditionellen Weihnachstmärchen wird hier deutlich. Höhepunkte des Komischen sind z.B. bei den Szenen am Hofe während der Vermählung des Knechts mit der Prinzessin erreicht, besonders, als die Zeremonie in eine wilde Party umschlägt. 7) Zweifellos sind Brecht und Wilder mit ihrer episierenden dramatischen Technik vorbildhaft für die unterschiedlichen Teufel-Bühnenfassungen gewesen, denn darin lassen sich Darstellung und Analyse 304 einige der wesentlichen Merkmale des Epischen Theaters beobachten. Als wichtigstes Element epischer Darstellung steht die Einführung einer Erzählerfigur bzw. -instanz im Mittelpunkt. Durch Einbeziehung eines Erzählers verlegt Waechter die Handlung auf die auktoriale Ebene. Das ist bereits in der ursprünglichen Fassung der 1970er Jahre zu beobachten, und bleibt auch bei den anderen Fassungen erhalten – eine Ausnahme hiervon bildet die Drittfassung von 1988, in der Waechter auf die epische Darstellung durch einen „auktorialen Erzähler“ verzichtet und hingegen auf die dramatische Form, also auf den Dialog als alleinige Ausdrucksweise zurückgreift. Bei der Gegenüberstellung der einzelnen Teufel-Fassungen lassen sich allerdings signifikante Unterschiede zwischen den Erzählern beobachten. Interessant ist der Vergleich der beiden Erzähler von der ursprünglichen Fassung von 1975 und die überabreitete Version von 1981 untereinander und mit dem der Erzähltheaterfassung aus dem Jahr 1991. Während es bei der Urfassung sich um eine von Waechter neu geschaffene Figur handelt, die aus der dramatischen Handlung heraus das Spiel ankündigt und inszenieren lässt, dabei als sichtbarer Spielleiter agiert und hin und wieder in einzelne (Neben-)Rollen schlüpft, übernimmt in der 1981 überabreitete Fassung eine spielinterne Figur die Rolle des Erzählers: die Teufelsgroßmutter. Darin tritt sie im zweiten Bild aus der laufenden Handlung heraus und kommt als Erzählerin der Geschichte vom mutigen Bauernknecht zu Wort. Auf diese Weise erweist sie sich als handlungsführend für die weitere Handlung, d.h. sie erzählt und begleitet die Geschichte. Bei der Erzähltheaterfassung ist es dann ein Bühnenerzähler, der von Anfang an die Geschichte erzählt und zugleich inszeniert. Hier ist der Bühnenerzähler also Erzähler und Darsteller zugleich. Er wechselt in Sekundenbruchteilen nicht nur die Perspektive, sondern auch von der dritten in die erste Person. Dabei verkörpert er den zu neuem Leben erweckten Bauernknecht und schlüpft in den zahlreichen anderen Figuren des Märchens: Er ist einmal Teufel, dann wieder Teufelsgroßmutter, Alte oder Räuber, Magd, Bauer oder Fährmann, Königstochter, König oder einer seiner Gefolgsleute. Die Eigenheiten der einzelnen Figuren werden nur durch Tonfall, Mimik und Gestik angedeutet. Auch die Requisiten und Hilfsmittel fallen mininal aus. Der Erzähler übernimmt nahezu in allen Fassungen des Stückes die gleichen Funktionen. Als übergeordnete Instanz steht er außerhalb der Handlung, kennt Ablauf und Ausgang und wendet sich oftmals direkt an die jungen Zuschauer. Dabei gibt er das Geschehen in berichtender Form wieder. Vor allem in der ursprünglichen Fassung greift er kommentierend und wertend ein, indem er die Geschichte förmlich unterbricht. In den anderen Fassungen hingegen vermeidet er Kommentare und Wertungen. Der Erzähler ist auch Begleiter der Handlung in den verschiedenen Situationen oder beim Ãœbergang einer Handlungssituation zur nächsten, d.h. er führt die Zuschauer erzählend durch den Gang der Handlung und verzahnt das Spiel mit dem Märchenerzählen. Er tritt somit aus der Rolle heraus, und gibt den zuschauenden Darstellung und Analyse 305 Kindern genau zu erkennen, dass er der Erzähler ist, weil er im Märchenton berichtet. Während der Erzählerbericht in der ursprünglichen Fassung und der 1981 überarbeiteten Version im Präsens steht, so steht er bei der Erzähltheaterfassung im Präteritum. Damit werden die einzelnen Teile der Geschichte vom epischen Erzählmittel des Erzählers zusammengestellt und zu einer Ganzheit verbunden. Gerade in der Figur des Erzählers zeigt Waechters Stück die im Drama zu erwartende Einheit der Handlung. Auch der Zeitverlauf zwischen den zeitlich auseinander liegenden Bildern kommt mitsamt der Raumänderung in den Zwischenberichten des Erzählers zu epischer Darstellung. Noch wichtiger ist aber, besonders bei der ursprünglichen Fassung, seine einleitende Schilderung der Umwelt, also der mittelalterlichen Feudalgesellschaft mit ihren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen, während er gleichzeitig eine tiefere Vorstellung der einzelnen Figuren der Geschichte vornimmt. Beides ist bei den späteren überarbeiteten Fassungen nicht mehr zu finden. Es liegt es auf der Hand, dass Waechters Erzähler, insbesondere bei der letzten Fassung von1991, die Vermittlergestalten ersetzt, wie sie die „Weihnachtsmärchen“-Dramatik (z.B. von Bürkner, Bortfeldt und Richter) innerhalb der Handlung kennt. Zwar gehen die traditionellen Märchenstücke genauso vor, d.h. auch sie behandeln die Erzählsituation mit, also fügen einen Zwischenerzähler ein. Aber bei Waechter verbindet sich Dramatisches in aller Selbstverständigkeit mit Epischem. Und zwar deshalb, weil Waechter eine Rahmen- Erzählebene in der (Bühnen-)Gegenwart schafft, mit der er zum Wesen des Märchens zurückkehren kann. Vor allem mit dem Einpersonenstück gelingt es Waechter, die epische Vorlage in das Medium des Dramatischen werkgerecht zu übertragen, d.h. bei der Bearbeitung werden die originären narrativen Strukturen beibehalten, aber durch das neue Medium, nämlich das „Erzähltheater“, als Spiel gesetzt. So kehrt Waechter zum Wesen des vorgelesenen bzw. erzählten Märchens zurück. Im Stück wird insofern das althergebrachte Bild von dem Märchenerzähler aufgegriffen. Dieser übernimmt die Erzählerfunktion auf einer eigenen Erzählebene, während die eigentliche Geschichte auf der Spielebene abspielt. Neben dem Einbeziehen eines Erzählers machen die eingefügten Lieder ein weiteres Mittel der Episierung aus. Hier zeigt sich wieder ein Unterschied zur „Weihnachtsmärchen“-Dramatik. Bei Waechter werden Lieder auf ganz andere Weise als im traditionellen Märchentheater verwendet. Sie sind nicht dazu da, Stimmung zu verbreiten. Sie werden auch nicht genutzt, um die Handlung zu unterstützen oder das im Text Gesagte zu untermauern (im Sinne eines Beweises). Vielmehr besitzen die eingestreuten Lieder eine eigene Funktion und sind für sich selbstständig verantwortlich. Sie haben handlungsbrechende Funktion: Sie heben den dramatischen Ablauf auf, wirken also „episch“, d.h. das Geschehen wird nicht durch den Dialog der handelnden Figuren vorgeführt, sondern durch das Lied vermittelt. Weiterhin findet durch den Gesang eine Spiegelung von vorgeführter Handlung statt. Darstellung und Analyse 306 Als Stilmittel ist hierbei die Einführung eines Erzählers oder das Einbauen von Liedern weder neu noch originell. Dabei beerbt Waechter frühere Traditionen, die sich nutzbar machen lassen. Allerdings muss dabei auch beachtet werden, dass die Aufnahme schon ausgebildeter, also überlieferter und dem Publikum vertrauter Mittel nicht eine bloße Verschiebung in eine neue Zeit, d.h. eine reine Ãœbernahme bedeutet. Vielmehr verbindet Waechter sie mit neuen Inhalten. Er verändert sie aber auch, indem er sie zum Ausdruck Märchenhaftes macht. Zusammenfassung und Fazit 307 4. Zusammenfassung und Fazit Die Dramatisierung und Bearbeitung von Märchen für die Bühne ist als ein spezifisches Phänomen in der Geschichte des KJTs im deutschsprachigen Raum anzusehen. An allen Theaterbühnen für Kinder können seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Märchenaufführungen oder Stücke mit märchenhaften Elementen beobachtet werden. Märchen werden als „Klassiker“ des KJTs bezeichnet. Sie tauchen immer wieder im Repertoire des deutschen KJTs auf, werden neu erzählt und finden ein neues Publikum. Das Phänomen der Märchenstücke weist insofern eine reiche Geschichte auf, die in den letzten Jahrzehnten sogar eine radikale Erneuerung durch das Werk des F.K. Waechters erfahren hat. Nicht nur das Kinderpublikum erneuert sich aus naheliegenden natürlichen Gründen ständig, sondern auch diese Textform erweist sich also als durchaus innovationsfähig. Diese ständige Präsenz sowie die innere Wandelbarkeit laden zu der Frage ein: Wie ist es um das Märchenstück bestellt? Stehen wir vor einer selbständigen Gattung, die über die Grenzen hinaus aufgenommen werden kann, weil ihre Formen die zerstreuten Erwartungen unserer postmodernen Gesellschaft zu verdichten imstande ist? Oder aber handelt es sich um eine unheilsame Unterhaltungskunst, die allein und um jeden Preis auf Zeitvertreib aus ist? Die Ausdauer einer solchen Textform über die Jahre hinweg, das Entstehen jenes radikalen Flügels eines bühnenerzählerischen Märchenstückes sowie der Verdacht, dass dahinter in der Tat ein Satz konturierter Formen steckt, hat uns veranlasst, uns den Vorgängern in der Forschung über das Kindertheater anzuschließen und jenen Fragen nachzugehen. Dabei muss man oft über mehr oder wenige schablonenhafte Debatten hinausschauen, denn bekanntlich ist das Märchenstück in den letzten Jahrzehnten wegen mutmaßlichen Konservatismus wiederholt zum Stein des Anstoßes geworden. Um dem nachzugehen, hat sich diese Arbeit erstmals in der Forschung bezüglich der Geschichte des Phänomens sowie im methodologischen Panorama zur Bühnendichtung und zum Märchen umgesehen, um einen Korpus aus fast 25 Stücken von 15 Autoren bzw. Autorenteams zu analysieren. Es wurde anhand von 27 Kriterien überprüft, wie sich diese Wandelbarkeit der Textsorte sowie deren folgerichtige Aufhebung unter der Form jenes bühnenerzählerischen Märchenstückes nachweisen lässt. Im ersten Kapitel der Arbeit wurde der Frage nachgegangen, was das KJT in seinen historischen Anfängen als theatralische Gattung ausgemacht und wie es sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Einleitend wurde ein Ãœberblick über die historischen Voraussetzungen gegeben, die das KJT in seiner Entstehung in der Mitte des 19. Jahrhunderts bedingt haben. Mit der Entstehung einer eigenständigen Literatur für Kinder und Jugendliche in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts trat erstmals auch eine eigens für Kinder und Jugendliche Zusammenfassung und Fazit 308 produzierte dramatische Literatur in Erscheinung. Es wurde allerdings noch keine Bühnengattung für Kinder und Jugendliche im engeren Sinne entwickelt (Jahnke 1977: 11). Vielmehr gingen die Formen eines Theaters mit Kindern und Jugendlichen (Schultheater) und eines Theaters für Kinder und Jugendliche (aufklärerisches Kinderschauspiel) ineinander über. Berührungspunkte zwischen dem von den Jesuiten gepflegten Schuldrama und dem Kinderdrama der Spätaufklärung gab es erst zum Ende des Jahrhunderts (Brunken/Cardi 1984: 119ff.). Am Ende des 18. Jahrhunderts wurden vor allem Kinderschauspiele verfasst, wie sie besonders von Pfeffel und Weiße bekannt sind, die aber keine entsprechende Infrastruktur vorgefunden haben. Wie dargelegt (s. 1.3.1), behandelten beide Autoren in ihren noch zur Aufführung durch Kinder gedachten Stücken alltägliche Situationen des bürgerlichen Familienlebens. Dabei handelte es sich um rein didaktisch belehrende Stücke, d.h. mit ihrer Aufführung wurde der Zweck des spielerischen Lernens verfolgt, indem sie auf die Einübung von Tugenden und gesellschaftlich erwünschten Verhaltensweisen zielten. Theater spielen stand im Dienste bürgerlicher Sozialisation (Jahnke 1977: 40). Erst viel später und zwar mit der Entstehung eines neuen Kindertheatertyps, nämlich Görners „Weihnachtsmärchens“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts, kann erstmals von einem speziell für Kinder gemachten Theater die Rede sein (Tornau 1958: 117ff.). Im Sinne Tornaus verfahren auch Hass (1974), Nickel (1977) und Jahnke (1977) insofern, als bei ihnen der Beginn einer „eigentlichen“ Kinder- und Jugendtheatergeschichte ins Jahr 1854 gelegt wird, als in Berlin und Wien das „Weihnachtsmärchen“ erstmals die Bühne eroberte. Für die Herausbildung eines eigenständigen KJTs müssen laut Gattungshistoriker ökonomische Faktoren aus der Geschichte des Bühnenbetriebs in Deutschland mitberücksichtigt werden. Ausschlaggebend waren vor allem die verschärften Konkurrenzbedingungen der Stadt- und Privatbühnen untereinander infolge der Theatergewerbefreiheit von 1869 (Jahnke 1977: 63). Hinzu kam noch, dass Schauspielhäuser betriebsbedingten Umständen – etwa dem dramatischen Rückgang der Besucherzahlen in der Adventszeit – entgegenwirken mussten. Um die ökonomische Flaute zu überbrücken, wurde das „Weihnachtsmärchen“ geschaffen. Insofern scheint es nahe zu liegen, dass seine Formgewinnung einer Marketing-Strategie zu verdanken ist. Die neue Gattung wäre also aus ökonomischen Notwendigkeiten hervorgegangen (Jahnke 1977: 3). Im Zuge der verstärkt einsetzenden Industrialisierung und Verstädterung ab den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts diente das neu erfundene „Weihnachtsmärchen“ dem bürgerlichen Publikum „weniger als Medium der Selbstverständigung, sondern vorrangig zur Unterhaltung, zum Zeitvertreib“ (Heidtmann 1992: 27). Zwar haben wir es hier noch mit Kinderstücken als Belehrungsprodukten zu tun, aber mit der Ãœbernahme traditioneller Ausdrucksformen des europäischen Volkstheaters, nämlich derjenigen des Feen- und Zaubertheaters, wurden die Zusammenfassung und Fazit 309 Stücke zu Ausstattungsrevuen und damit zu rein unterhaltsamen Produkten (Jahnke 1977: 126ff.). Der von Görner neugeschaffene Kindertheatertyp prägte nicht nur das inhaltliche und ästhetische Profil des deutschen KJTs der darauf folgenden rund 100 Jahre, sondern auch von anderen Produkten einer kinderspezifischen Kultur: „In visuell und möglichst effektvoll in Szene gesetzten Ausstattungsstücken [...] nimmt das Kindertheater bereits eine Befriedigung kindlicher Schaulust vorweg, wie sie wenige Jahrzehnte später der Märchenfilm mit seinen Mitteln verfeinert und massenwirksamer leisten wird“ (Heidtmann 1992: 27f.). Beim „Weihnachtsmärchen“-Typ handelt es sich um die Dramatisierung eines Märchens und seine Transposition in ein anderes künstlerisches Medium. Bei der Dramatisierung und Bearbeitung der epischen Vorlage ist das resultierende Stück (Märchenstück) nach Form und Inhalt kein dramatischer Text im eigentlichen Sinne mehr und auch nicht der historischen Trias von Lyrik, Epik und Dramatik zuzuordnen, sondern verlangt aufgrund seines hybriden Charakters nach einem neuen Verständnis auf Gattungs- und Bedeutungsebene. Vor diesem Hintergrund hat die in der Arbeit behandelte Textform Märchendramatisierung bzw. Märchenstück eine eingehende Darstellung und ausführliche Auseinandersetzung mit den Gattungsbegriffen Märchen und Drama erforderlich gemacht. Dies erfolgte im zweiten Kapitel. Die Bestimmung der Begriffe „Märchen“ und „Drama“ basierte vor allem auf den Ausführungen von Vladimir Propp und Max Lüthi auf der einen Seite und von Peter Szondi und Manfred Pfister auf der anderen Seite, die mit ihren Werken eine Grundlage für die Darstellungen der beiden Textsorten geschaffen haben. Eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Problem, wie und ob eine Märchendramatisierung eigentlich zu bestimmen ist und wie sie sich vom Original oder als eigenständiges Stück abgrenzen lässt, gibt es bis heute nicht. Mit Hilfe Szondis und Pfisters wurde zunächst ein Gattungsbegriff etabliert, der die Grundstrukturen des Dramas herausgearbeitet hat (s. 2.1.1). Es galt, ein Gattungsverständnis zu handhaben, das weder starr noch übergeschichtlich ist, aber dennoch gattungstypologische Konstanten erklären kann. Damit konnte ein historisierender Gattungsbegriff zum einen die Form eines idealtypischen Dramas reflektieren, während dieser zum anderen die inhaltlichen und besonders die formalen Modifikationen der Gattung berücksichtigt hat – im Mittelpunkt standen dabei Dialog, Figuren, Handlung, Raum und Zeit. Was die Bestimmung des Märchens als Gattung anbelangt, waren die bei Lüthi gewonnenen Erkenntnisse über Gestalt, Form und Wesenszüge des Märchens und vor allem sein „abstrakter Stil“, der für die Handlungsführung ebenso charakteristisch ist wie für die Darstellung der Figuren, des Raums und der Zeit, entscheidend. Als besonders aufschlussreich haben sich die Merkmale „Eindimensionalität“, „Flächenhaftigkeit“, „Isolation und Allverbundenheit“, „Sublimation und Welthaltigkeit“ erwiesen. Auch wenn diese formalästhetischen Kategorien auf einer Textauswahl beruhen, die einem Ideal folgt, hat Lüthi mit seinem Ansatz die formal- Zusammenfassung und Fazit 310 kritische Diskussion zum Märchen maßgeblich beeinflusst. Er hat einen Begriffsapparat für das Phänomen Märchen entwickelt, der zum Allgemeingut der Märchenbeschreibung geworden ist. Darüber hinaus ist bei „Märchen“ an sich von der historischen Gattung Märchen bzw. Grimms Märchen die Rede gewesen. Was die Märchenvorlage anbelangt, haben wir also die Voraussetzungen nicht an einem abstrakten Epos, sondern in der geschichtlichen Gattung Märchen gesucht. Hierzu haben wir uns an den Ansätzen der historisch-vergleichenden Erzählforschung im Bereich der Grimm-Forschung (Rölleke, Uther) und an den Untersuchungen über das Märchen in der deutschen Aufklärung (Grätz) orientiert. Bei der Darstellung der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also zwischen 1812 und 1857, veröffentlichten KHM-Sammlung der Brüder Grimm haben wir uns mit dem Zustandekommen und Anwachsen der Sammlung sowie mit der Quellentreue und Bearbeitungstechnik der Grimms befasst. Röllekes und Uthers Forschungsergebnisse legen nahe, dass viele der in den Märchen als volkstümlich vorausgesetzten Elemente nicht „authentisch“ im Sinne von unmittelbar übernommen sind, wie in der KHM-Forschung angenommen worden war. Dabei handele es sich vielmehr um Ergebnisse von Textüberarbeitungen und damit Veränderungen durch die Brüder Grimm. Nach Ansicht der neueren Forschung (z.B. Neuhaus) war also die Pose der sorgfältigen Sammler alter Traditionen, die die Grimms angeblich einnahmen, weitgehend eine der Zeitstimmung der Romantik geschuldete Fiktion. Ihr ganzes Leben lang feilten sie an den Texten, tauschten ganze Märchen aus, nahmen neue auf oder verschmolzen mehrere Textfassungen. Deshalb gleicht keine Auflage in ihrem Textbestand der anderen. Außerdem wurden die Märchentexte im Laufe der KHM-Auflagen bis zur „Ausgabe letzter Hand“ von 1857 im Geiste des deutschen Biedermeier stilistisch be- und überarbeitet; sie wurden um- oder sogar neu geschrieben und einem vorwiegend bürgerlichen Lesepublikum, ab 1819 besonders einem Kinderpublikum, angepasst. Was dergestalt schließlich veröffentlicht wurde, ist also als eine eigene Kategorie „Buchmärchen“ zwischen Volks- und Kunstmärchen anzusiedeln. Wir sind aufgrund unserer theoretischen Orientierung daraufhin der Frage nachgegangen, wo sich die Gattungen Märchen und Drama in den Bühnentexten treffen. Um deutlich werden zu lassen, inwieweit Gattungen als Bund formeller Darbietungsmittel einem jeden Umsetzungsprozess Einschränkungen und Bedingungen auferlegen, wurde zuerst erörtert, inwiefern sich Handlungsaufbau und Figurengestaltung in jeder Gattung nach verschiedenen, sogar entgegengesetzten Prinzipien ausrichten (s. 2.2). Dies hat uns dann (Kapitel 3) erlaubt, aus den verschiedenen im Korpus beobachteten Märchenstücken heraus diejenigen Schritte im Transfer von der Gattung Märchen in die Gattung Drama zu differenzieren, die sich als Prüfstein erweisen konnten. Gattungskonventionen und -formen erweisen sich als hilfreiche, aber zugleich auch herrische Hilfskonstruktionen. Dies erklärt ihre Anziehungskraft, denn im Endeffekt stellen sie Zusammenfassung und Fazit 311 zwar ausgetretene Pfade dar, bieten aber nichtsdestoweniger auch Spannungen, die entstehen, sobald epochal neue, fremde Konflikte ausgesprochen werden wollen. Tatsächlich erlegt die Umsetzung eines Stoffes aus der Gattung Erzählung in die Gattung Drama Bühnenbearbeitern zahlreiche Herausforderungen medialer und gattungsmäßiger Natur auf. Beim Aufbau der Handlung wurden u.a. die folgenden hervorgehoben: 1) Die Erzählerstimme: Bei der Dramatisierung eines Märchens muss auf die Erzählerstimme verzichtet oder diese den Figuren (oder einer an der Bühnenhandlung nicht beteiligten Stimme) zugeordnet werden. 2) Der Dialogaufbau aus der epischen Vorlage, d.h. die dialogische Ausrichtung des Märchenstoffs. Das Bühnenstück zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Geschichte in ihrem sprachlichen Ausdruck seitens der Figuren unmittelbar auf der Bühne darstellt, und zwar, im Vergleich zur Erzählung, auf Grund des Fehlens einer Vermittlungsinstanz. 3) Der Konfliktaufbau: Von einer bühnenhaften Handlung erwartet man einen Spannungsbogen, der mit der Exposition des Konflikts einsetzt, auf dessen Steigerung und Umschlag die Katastrophe oder aber ein Happy End folgt. Zur Handlung gehört also die dramatische Kollision bzw. der Konflikt. Im Drama prallen von Menschen repräsentierte Haltungen aufeinander. Das macht erforderlich, dass beim Dramatisieren eines Märchens die Handlung aus der erzählerischen Vorlage völlig anders dargestellt werden muss, d.h. die permanente Prüfungssituation auf Leben und Tod des ursprünglichen Märchens sollte zugunsten einer dramatischen Handlung ersetzt werden, die sich aus einander widerstreitenden Kräften im Sinne von konkurrierenden Interessen entwickelt. 4) Die Konzentration, d.h. der Anspruch auf Verdichtung gegenüber der Vielheit von Handlungen, Orten und Zeitpunkten des Märchens. Bei der Dramatisierung von Märchen größeren Umfangs sehen sich Bühnenbearbeiter dazu gezwungen, stark selektiv zu verfahren und zwar nicht nur als Bedingung für einen konsequenten und überzeugenden Handlungsablauf, sondern auch auf Grund der Aufnahmefähigkeit im Sinne der Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit seitens der Zuschauer. 5) Die Einhaltung der drei Einheiten (Handlung, Ort und Zeit). Bei der Dramatisierung von Märchen gilt der Anspruch auf Geschlossenheit der Handlung, sodass das Bühnenstück gegenüber der Vielstofflichkeit des Märchens als Einheit angesehen Zusammenfassung und Fazit 312 werden kann. Geschlossenheit der Handlung bedeutet, dass keine große ablenkende Abwechslung zu Stande kommt. Mit Einheit der Handlung ist die Darstellung einer einsträngigen Handlung gemeint, d.h. ohne interferierende Nebenhandlungen. Dabei muss jeder Handlungsteil auf dem vorangegangenen logisch aufeinander aufbauen. Die logische Verknüpfung der einzelnen Handlungssegmente beruht auf der zeitlichen Abfolge bzw. ständigen Gegenwart der Ereignisse. Hierbei sind Bühnenbearbeiter wieder gebunden, sofern sie nicht auf die Gattungskonvention verzichten wollen: Statt des für das Märchen charakteristischen Episodenstils, wo die Handlung in einzelne, unabhängig voneinander bestehende Episoden zerfällt, sollte sich die Darstellung der Geschichte an das „Prinzip der Sukzession“ (Pfister) halten und somit Rückblenden und Wiederholungen vermeiden. Daneben müssen Bühnenbearbeiter auch mit den Orts- und Zeitbestimmungen der erzählerischen Vorlage umgehen. Vor allem die Einheit der Zeit stellt sich als große Herausforderung für die Bearbeiter dar. Die zeitliche Erstreckung des Handlungsablaufs im Märchen bedeutet nämlich die Auflösung der vom konventionalisierten Dramengeschehen zu erwartenden, möglichst zusammengerafften Zeit. Bei der Dramatisierung sollten dann einzelne Vorgänge zeitlich verkürzt dargestellt oder gar ausgelassen werden. 6) Die Kausalität des Handlungsverlaufs. Neben der chronologischen Verknüpfung der Handlungsteile gilt für Bühnenbearbeiter auch, die Kausalität des Handlungsverlaufs zu begründen. Das bedeutet, dass sie sich darum bemühen müssen, aus dem Märchenstoff einen in sich geschlossenen Motivationszusammenhang herzustellen – z.B. durch individuelle Beweggründe der handelnden Figuren. 7) Der Anspruch auf Wahrscheinlichkeit und Glaubhaftigkeit der auf der Bühne dargestellten Ereignisse und Figuren. 8) Der Dramenausgang. Die Geschichte aus dem Märchen zu einem Schluss zu bringen verlangt, dass der anfänglich umrissene Konflikt am Ende gelöst wird und zwar auf eine möglichst wahrscheinliche und glaubwürdige Weise. In der Dramentheorie (Asmuth, Platz-Waury) wird immer wieder darauf abgehoben, dass der Protagonist im Drama ein Ziel haben muss und dass das Verlangen danach, dieses Ziel zu erreichen oder diesen Wunsch erfüllt zu bekommen, treibender Impuls der Handlung ist. Für die Handlungsführung ergibt sich so eine klare Linie: Der Protagonist versucht, sein Ziel zu erreichen. Alle Handlungen sind durch die Ziel- oder Wunsch-Orientierung geprägt. Ein zielgerichteter Protagonist ist somit idealerweise eine aktive Figur, die ihr Schicksal selbst in Zusammenfassung und Fazit 313 die Hand nimmt. Dies entspricht der Vorstellung eines selbstbestimmten Subjekts. Im Gegensatz dazu sind im Märchen vielmehr Protagonisten anzutreffen, die kein Ziel aktiv verfolgen und dem Geschehen passiv ausgesetzt sind. Was die Gestaltung der Figuren bei der Dramatisierung eines Märchens anbelangt, soll also besondere Aufmerksamkeit auf die Erfüllung folgender Aspekte gerichtet werden: 1) Die Individualisierung der Märchenfiguren. Während im Märchen jede mögliche Individualisierung der Figuren ausgeschlossen wird, erwartet das Drama individuell gezeichnete Gestalten. Dies gilt noch ausgeprägter für den Helden. Grundvoraussetzung der Heldenkonzeption bei der Umsetzung von epischer Vorlage zum Bühnentext sollte neben der Charakter-, Verstandes- oder moralischen Stärke auch das Attribut des freien Willens sein, das als entscheidende Notwendigkeit für die glaubwürdige Darstellung der Figur erscheint. 2) Die Umkehrung der Figurenmerkmale, besonders die des Märchenhelden. Im Gegensatz zum passiven, Anfeindungen und Schicksalsschläge standhaft ertragenden Märchenhelden, der weiterhin die ganze Zeit durch äußere Einflüsse gestoßen und vorwärts getrieben wird, soll der Dramenheld als Selbständiger und aus eigenem Antrieb heraus handeln. Dies erfordert, dass sich Bühnenbearbeiter um eine möglichst umfassende Motivation des Märchenstoffs durch psychologische oder auch äußere Beweggründe des Helden bemühen sollten. Aus der Besprechung gattungsmäßiger Merkmale konnten wir einen gesamten Satz von 27 formellen Kriterien bestimmen, an denen die formelle Umsetzung stofflicher Anliegen abgelesen werden kann. Somit wurde im dritten und letzten Kapitel eine Analyse der Textebene in der Ãœbertragung von Märchen der Brüder Grimm in die Bühnenfassungen unternommen. Hierbei galt es insbesondere herauszustellen, inwiefern sich Identitäten oder Diskrepanzen zwischen Bühnenstücken und zugrunde liegenden Märchen ergaben. Wichtig bei der Besprechung war, kritisch zu hinterfragen, welche dramatischen Kunstgriffe sich Bühnenbearbeiter bei der Umsetzung des Grimmschen Stoffs zunutze machen. In einem ersten Schritt haben wir den Blick auf die als „traditionell“ einzustufenden Märchenstücke des Analysekorpus gerichtet (s. 3.4.1). Hier erfolgte eine Analyse von Handlung und Figuren. Uns hat vor allem die Frage beschäftigt, wie sich die uns vorliegenden Bühnentextvorlagen zum Aufbau der Handlung und zur Gestaltung der Figuren bei der Verwandlung von Märchen zu Kinderstücken verhalten, sowie welche Merkmale sich dabei als charakteristisch bezeichnen lassen. Zusammenfassung und Fazit 314 Daran schloß sich eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem kinderdramatischen Werk von Friedrich Karl Waechter an, insbesondere mit seinen Märchendramatisierungen. Der Fokus lag dabei auf dem Bühnenmärchen Der Teufel mit den drei goldenen Haaren und seinen verschiedenen Fassungen (s. 3.4.2). a) Aufbau der Handlung Zum Aufbau der Handlung ließ sich feststellen, dass das traditionelle Märchenstück der epischen Vorlage sehr nahe steht, gleichzeitig jedoch mit ihr bricht. In der Anlage und Gestaltung der Handlung ist zu verzeichnen, dass traditionelle Märchenspiele eine im Wesen des zugrunde liegenden Märchens verankerte Struktur bewahren (s. 3.4.1.1). Das zeigt sich vor allem in der stereotypen Handlungsstruktur und in der konfliktlosen Handlungsentfaltung. In der Mehrzahl der Bearbeitungen gibt es keine Kollision von gegensätzlichen Interessen, d.h. es existieren zwischen den handelnden Figuren zwar viele kleine Konflikte, wie dies auch im Märchen der Fall ist, aber einen Konflikt im üblichen dramatischen Sinne zwischen den einzelnen Ansätzen besteht nicht. Sich der epischen Vorlage bedienend, ziehen es Bühnenbearbeiter also vor, eine Geschehenskette zu entwerfen, in deren Mittelpunkt ein menschlicher Held steht und die dessen Taten bzw. Abenteuer-Erlebnisse darstellt. Auf diesen Helden hin werden dann alle Nebenfiguren als Helfer oder Gegner, d.h. ergänzend oder kontrastierend zugeordnet. Die Nebenfiguren werden nur für die Episoden eingeführt, in denen sie die Handlung weitertreiben. Nach Abschluss der Handlung wird die Belohnung des Helden und die Bestrafung des Gegners sichergestellt. Gerade das Zurückgreifen auf den Ereignisablauf des zugrunde liegenden Märchens begünstigt die geschlossene Form der Bühnenbearbeitungen. Wie das Märchen, das dazu neigt, eine einfache, einsträngige und geschlossene Struktur mit Einleitung, Kern und Ende darzustellen, so versuchen auch die Bühnenbearbeiter in der Szenenführung eine Geschlossenheit mit Anfang, Höhepunkt und Ausgang zu erreichen. Indem die Bühnenfassungen jeweils nur einen einzigen Handlungsstrang und keine Nebenhandlungen zeigen, lässt sich zudem eine klare Tendenz hin zur Einheit der Handlung erkennen. Die Verankerung der traditionellen Märchenspiele in der märchenhaften Sphäre spiegelt sich auch in der „fremdbestimmten“ Handlung, dem Vorhandensein von Wiederholungen einzelner Motive und der Zeit- und Ortsgestaltung. Fremdbestimmung der Handlung bedeutet, dass die Figuren nicht durch eigene Entschlüsse gelenkt werden, sondern eher durch Anstöße „von außen“, also von Ratschlägen, Zaubergaben, Aufgaben und Schicksalsschlägen. Das Vorhandensein von Wiederholungen bzw. Parallelismen unter den Bildern und Szenen manifestiert sich in verschiedenen Formen, z.B. als Wiederkehr von Situationen (meistens in leichter Abwandlung) oder als dreimalige Wiederholung eines dem Ausgangsmärchen Zusammenfassung und Fazit 315 entnommenen Spruchs. Dazu gehört auch die dem Märchen entnommene Formel der Dreizahl und das damit verbundene Gesetz der Steigerung (s. vor allem die König Drosselbart- und Aschenputtel-Bühnenbearbeitungen, so auch Leudesdorffs Rumpelstilzchen, Richters Das tapfere Schneiderlein). Was Zeit und Ort betrifft, so bestehen die meisten Bearbeitungen aus einer linear und chronologisch entwickelten Handlung und weisen eine mehrtägige Dauer, also einen ausgedehnten Zeitraum auf (s. vor allem die Dornröschen-Bühnenbearbeitungen). Neben Phasen der chronologischen Linearität finden sich allerdings auch vielfache Zeitsprünge, d.h. Rückblenden bzw. Rückgriffe auf Vergangenes (z.B. Richters Dornröschen) wie Vorgriffe auf Zukünftiges (z.B. Wanderschecks Aschenputtel). Hierzu kommen noch die Beschleunigungen der dargestellten Vorgänge. Bei der Ortsgestaltung weisen die Bearbeitungen eine Vielzahl von Schauplätzen auf. Hier wird mit den klassischen Konventionen von Ort und Zeit deutlich gebrochen. Bei aller Treue hinsichtlich des Stoffes fällt aber auch auf, dass Märchenspiele von der epischen Vorlage abweichen und sich dem konventionell Dramatischen nähern, indem die Bearbeiter inhaltlich und strukturell in die ursprüngliche Märchenhandlung eingreifen und diese verändern. Als besonders hervorzuhebende Eingriffe seitens der Bearbeiter gelten neben dem Auslassen von Märchenteilen auch die Zuspitzung fabelhafter Elemente sowie der Einbau von komischen und belehrenden Momenten (s. 3.4.1.2). Zu den Auslassungen zählen insbesondere die nicht auf der Bühne dargestellten Begebenheiten bzw. als räumlich oder zeitlich verdeckten Handlungen. Dadurch wird die ursprüngliche Geschichte verändert (s. König Drosselbart von Doll/Fleckenstein, Richters Dornröschen). Die Bühnenbearbeiter verändern aber auch den tradierten Märchenstoff, indem sie neue Proben und (Märchen-)Motive (z.B. Bürkners Rumpelstilzchen, Brüderlein und Schwesterlein von Doll/Fleckenstein) sowie zusätzliche Zaubermittel (z.B. Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren) in den Ausgangstext einfügen. Damit wird Märchenhaftes auf die Spitze getrieben. Mit dem Einsatz von komischen Elementen, die hauptsächlich dazu dienen sollen, die jungen Zuschauer in eine amüsante Stimmung zu versetzen, wird der Unterhaltungscharakter der Bearbeitungen offen gelegt. Dabei lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden: Zum einen die Komik der Figuren, die nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch die Namengebung, das „Agieren“ sowie die Sprache (humorvolle Dialoge, Wortwitz, Dialektnachahmung) einschließt, zum anderen die Komik der Handlungen und Situationen selbst. Hier wird häufig slapstickhafte Komik verwendet. Als typische Elemente der Unterhaltung werden auch Verstellungen, Verwechslungen, Verkleidungen und Verfolgungen herausgegriffen (s. Aschenbrödel von Görner/Zimmermann, Bürkners Dornröschen, Das tapfere Schneiderlein von G./T. von Kaulla u.v.a.m.). Zusammenfassung und Fazit 316 Als Mittel der Unterweisung werden lehrhafte Sentenzen, die Schwarz-Weiß-Darstellung der Figuren und schließlich die Technik der Belehrung durch das negative Beispiel herangezogen (s. Leudesdorffs Rumpelstilzchen u. König Drosselbart, Bortfeldts Aschenputtel). Bei den Untersuchungen wurde auch herausgefunden, dass erzählerische Mittel sehr oft im Märchenspiel Verwendung finden. Dazu gehören der Einbau von Eingangsszenen (d.h. Vorspielen und Einführungen) sowie der Einsatz von Erzählerfiguren, Gesang, Musik und Tanz. Die Verwendung solcher Darstellungsmittel, die eher typische Strukturelemente einer epischen Dramaturgie sind, kennzeichnet die meisten der im Korpus versammelten Bearbeitungen. Deshalb war im Abschnitt 3.4.1.3 ausführlich die Rede davon. Eine immer häufigere Besonderheit in späteren Belegen unseres Korpus ist der Einsatz einer vermittelnden Erzählerfigur, die in prologähnlichen Szenen, Zwischenreflexionen und z.T. auch in Epilogen auftaucht und Kontakt mit dem Kinderpublikum aufnimmt. Meist handelt es sich dabei um eine narrative, an der Bühnenhandlung nicht beteiligte Stimme, die das Geschehen kommentierend begleitet und damit das Stück an die Grenze der dramatischen und epischen Gattung bringt (s. Bürkners Dornröschen u. Rumpelstilzchen, Weths Aschenputtel, Grubers Der Teufel mit den drei goldenen Haaren). Aber es kann auch eine Figur der dramatis personae sein, die in unmittelbarer Verbindung zum Handlungsgeschehen steht und einzelne dazu gehörende Ereignisse kommentiert (s. Bortfeldts Aschenputtel, Richters Dornröschen). Eine solche in Erscheinung tretende Erzählerfigur („expliziter Erzähler“) wird als Bindeglied dazu eingesetzt, die Vielfalt von Handlungen aus dem Ausgangsmärchen zusammenzuhalten sowie die vielen Zeitsprünge und Ortswechsel zu erleichtern bzw. überbrücken. Damit findet eine Annäherung der Bühnenbearbeiter an die Konventionen der Einheit statt, denn so kann immerhin eine Art Gegenwärtigkeit nahegelegt werden. Zwar dient eine solche für die Zuschauer sichtbare Figur dazu, die Handlung unmittelbar szenisch darzubieten, aber sie ist auch als ein illusionsstörendes Element zu begreifen, das paradoxerweise wiederum ein Hindernis für die unmittelbar szenische Darstellung von bestimmten Handlungsphasen bedeutet. Ãœberhaupt darf hier angemerkt werden, dass die Verwendung einer Erzählerfigur, die sich deutlich als solche zu erkennen gibt, im Einklang mit dem Epischen Theater eine Distanzierung von der dargestellten Handlung bewirkt, und zwar zugunsten einer Betrachtung der Handlungsentwicklung. Die Gegenleistung dazu besteht in der Verwendung eines „verdeckten“ bzw. „implizierten“ Erzählers mit verbindender Funktion zwischen den einzelnen Handlungsteilen. Dabei handelt es sich oft um eine bereits in der Grimmschen Märchenvorlage enthaltene Figur, also eine Neben- oder Randfigur, die in der Bühnenfassung die Rolle eines Erzählers einnimmt und damit die Ersetzung des diegetischen Kommunikationssystems erleichtert, ohne die dramatische Darstellung zu stören (s. Leudesdorffs Rumpelstilzchen, Richters Das tapfere Schneiderlein). Es kommt einem insofern nur folgerichtig vor, dass in den älteren Bearbeitungen eher ein Zusammenfassung und Fazit 317 bescheidener, mit den Dramenkonventionen kompatibler, „implizierter“ Erzähler auftaucht, während in späteren Bearbeitungen jener epische Erzähler deutlicher auftritt. Mit Sicherheit kann dabei vom Einfluss Brechts die Rede sein. Doch ebensosehr könnte es darum gehen, wie die Bearbeiter sich zur epischen Urform des Märchens bekennen, sich nicht länger den dramatischen Konventionen unterwerfen und im Endeffekt den Weg für die radikale Wende der 90er Jahre vorbereiten. Allgemein lässt sich somit also behaupten, dass die Bühnenbearbeiter bei der Dramatisierung des Märchens das rein Dramatische verlassen und sich die Möglichkeiten epischer Elemente zunutze machen, wie dies z.B. der Aufbau eines vermittelnden Kommunikationssystems bietet. Weitere epische Züge bei den Bearbeitungen ergeben sich aus dem Einbezug von Liedern und Musik. Da die Bearbeiter von deutscher Musik ausgehen, verwenden sie in erster Linie beliebte deutschsprachige Kinder- und Volkslieder (s. Bürkners Rumpelstilzchen u. Dornröschen, Bortfeldts Aschenputtel, Grubers Das tapfere Schneiderlein). Die eingestreuten Lieder dienen vor allem dazu, die Geschichte voranzutreiben. Mal werden sie auch dazu eingesetzt, einen Handlungsstrang zu unterstützen, mal sind sie reflektierende und kommentierende Elemente. Sowohl die Kommentare und Berichte einer Erzählerfigur, die in das Geschehen der Spielhandlung eingeflochten sind, als auch die in die Handlung eingebetteten Musik- und Gesangseinlagen bedeuten eine Durchbrechung des „Prinzips der Sukzession“ (Pfister) und tragen damit zum Zerfall der Einheit der Handlung bei. Dabei handelt es sich um relativierende Mittel, die als solche die unmittelbare Handlungsfolge unterbrechen und episierende Momente ins Stück einführen. Ähnliches gilt auch für das Vorhandensein von Wiederholungen, die im Märchenspiel unvermeidlich zu sein scheinen. Hier ist allerdings zu präzisieren, dass Wiederholungen zwar als Unterbrechungen des Handlungsfortgangs zu verstehen sind, die eine Abnahme der Wahrscheinlichkeit mit sich bringen, aber gleichzeitig stellen sie auch wichtige Elemente zur dramatischen Kohäsion dar. Dadurch können die Bühnenbearbeiter nicht nur den Rhythmus des Geschehens auf der Bühne verändern, Spannung wecken und Aufmerksamkeit erzeugen, sondern bei der dramatischen Darbietung auch das Verständnis des oft durch die Vielfalt an Sinneserfahrungen (Bühnenbild, Beleuchtung, Musik usw.) recht unübersichtlich geratenen Bühnengeschehens erleichtern. Völlig unberücksichtigt bleibt außerdem die Einheit der Handlung in den Bearbeitungen durch das Einbeziehen des Publikums in das Bühnengeschehen, z.B. bei der Lösung des Konflikts, und zwar durch die direkte Ansprache der Figuren an die kindlichen Zuschauer (s. in Bürkner, Bortfeldt, Wanderscheck, Doll/Fleckenstein, G./T. von Kaulla, Thoenies). Die Zusammenfassung und Fazit 318 Ansprachen an das Kinderpublikum verursachen wieder eine Unterbrechung des Handlungsverlaufs und hemmen den Fluss der Ereignisse sowie ihrer Darstellung. Auf struktureller Ebene ist Folgendes festzustellen: Einigen im Rahmen der vorliegenden Arbeit beobachteten Märchenspielen geht eine die Handlung einrahmende Erzählsituation mit berichtendem Erzähler in Form eines Vorspiels oder einer Einführung voran. Damit wird im Märchenstück eine andere Fiktionsebene markiert, indem sie nicht zur eigentlichen Bühnenhandlung gehört, aber durchaus von einer Figur der dramatis personae gesprochen werden kann. Genauso kann diese deutlich markierte Vorrede aber auch von einem gesonderten Sprecher vorgetragen werden, also von einem Erzähler, der in der Handlung selbst nicht vorkommt. Erst nach dieser Vorrede bzw. Ansprache und nach Wechsel des Bühnenbilds beginnt die eigentliche Bühnenhandlung. Mit dem Vorhandensein solcher einleitend vorangestellten Szenen, die ebenso wie die Erzählerfiguren und die Musik- und Gesangseinlagen auch als illusionsstörende Elemente verstanden werden müssen, wird die im traditionellen Drama charakteristische Abwesenheit der Erzählinstanz ausgeglichen. Solche Eingangsszenen bedeuten in der Tat fremde Momente im Verhältnis zur erzählerischen Vorlage. In diesem Sinne sind sie interessante Einfälle der Bühnenverfasser, die im Rahmen des Kontrasts epische Vorlage/Bühnenbearbeitung auch als Eingriffe hervorgehoben werden sollen. Dies gilt auch für die durch eine Erzählerfigur bzw. einen „expliziten Erzähler“ vertretenen Zwischenspiele und für die retardierenden Momente, die manche Bühnenbearbeitungen auszeichnen. Die in die Handlung eingeschobenen Zwischenspiele (als Ãœberleitungen zwischen den einzelnen Bildern konzipiert) dienen der Auflockerung der Handlung und bieten damit einen Augenblick des Durchatmens, bevor das Kinderpublikum wieder in die Geschichte eintaucht. Solche Einschübe dienen aber auch als Ruhepunkte, d.h. als Momente, die Raum bieten, das Gesehene zu reflektieren und das zu Erwartende vorzubereiten. Das Ganze ist bisweilen als Botenbericht verfasst. Damit wird eine verdeckte Handlung in offene Handlung überführt. Inhaltlich sind sie aber auch so angelegt, dass sie von der Haupthandlung recht gelöst sind (s. Bürkners Dornröschen u. Rumpelstilzchen). Jedenfalls bilden sie Zäsuren in der Struktur der Geschichte. Retardierende Momente scheinen unerlässliche Mittel zu sein, die dazu beitragen, zum einen Spannung im Laufe der dramatischen Handlung mit aufzubauen bzw. die Spannungsintensität zu steigern, und zum anderen die Lösung zeitweilig zurückzuhalten (u.a. Leudesdorffs König Drosselbart, Wanderschecks Aschenputtel, Rumpelstilzchen von Doll/Fleckenstein). Was die Lösungen betrifft, so zeigen die Bühnenbearbeitungen im Vergleich zum offenen Ende der epischen Vorlage geschlossene, endgültige Ausgänge. Tendenziell ist in der Mehrzahl der Bearbeitungen ein glücklicher Handlungsausgang festzustellen, d.h. die Handlungen werden mit dem Liebesglück der Hauptfiguren abgeschlossen, während die Bösewichte am Ende für Zusammenfassung und Fazit 319 ihre Schlechtigkeit büßen müssen. Bedrohungen werden – zur Not mit Zauberwesen oder Zauberkräften – beseitigt und zu einem guten Ende geführt, sodass die Gerechtigkeit und das Gute im Menschen siegen und die Bösen ihre gerechte, wenn auch z.T. wiederum märchentypisch grausame Strafe erhalten. Anders als bei der Märchenvorlage ist allerdings in den Bühnenfassungen zu beobachten, dass die Adaptoren beim Ausgang neben einem glücklichen auch ein versöhnliches Ende herbeiführen. Insofern greifen sie inhaltlich in die ursprüngliche Märchenlösung ein und interpretieren den Schluss um: Während in der erzählerischen Vorlage das Böse bestraft, sogar vernichtet wird, steht am Schluss der Bühnenfassung oft die Versöhnung zwischen den Figuren (s. die Aschenputtel-Adaptionen). Weitere Uminterpretationen des Märchenschlusses erfolgen durch den Einsatz von deus-ex- machina-artigen Figuren. Wenn keine Lösung des „Konflikts“ aus der Handlung heraus mehr möglich scheint, treten Figuren und/oder übernatürliche Wesen (Feen, sprechende Tiere) als deux ex machina plötzlich und unvermutet auf und geben vor, was zu tun ist (s. in Bürkner, Leudesdorff, Richter). Dadurch wird die Handlung nicht nur zu einem Schluss gebracht, sondern auch der im Drama erwartete geschlossene Ausgang erzielt. Zu den im Zusammenhang mit dem Schluss der Bühnenhandlung am häufigsten von den Bearbeitern angewandten Mitteln gehören auch Reden resümierenden Inhalts, die Wendung einer der handelnden Figuren an die jungen Zuschauer sowie Tanz, Musik und festliches Spiel (z.B. in Bürkner, Wanderscheck, Richter, Komm). Hinzu kommen auch noch die Hinweise auf das Weihnachtsfest und dessen Emblematik, die in die Handlung vieler Märchenspiele aus unserem Korpus integriert wird (u.a. bei Leudesdorff, Bortfeldt, Doll/Fleckenstein, G./T. von Kaulla). Im Märchenspiel zeigt sich eine erhebliche Abnahme der Wahrscheinlichkeit des auf der Bühne dargestellten Geschehens, die aus verschiedenen Sachverhalten resultiert: • der Durchbrechung der drei Einheiten im Drama • der Verwendung eines Erzählers auf der Bühne • der Zuspitzung fabelhafter Elemente • dem Vorhandensein von Wiederholungen • der Präsenz von mythisch-märchenhaften Elementen (Fabelwesen, wunderbare Gegenstände, Jenseitswesen) Allerdings muss hier präzisiert werden. Trotz solcher Elemente, die gegen das Primat der Wahrscheinlichkeit stoßen, ist in den Märchenstücken unseres Korpus auch eine Tendenz zur Glaubhaftigkeit des Dargestellten beobachtbar. Bühnenbearbeiter machen sich bei der Umsetzung eine ganze Reihe von Kunstgriffen zunutze, um die darzustellende Handlung als Zusammenfassung und Fazit 320 glaubhaft erscheinen zu lassen. Dazu gehören u.a. neu eingefügte Motive, neue Figuren als Stifter von Handlungen, die die Glaubwürdigkeit der Geschichte erhöhen (s. die Dornröschen- Adaptionen durch Bürkner und Richter), sowie der Einschluss von dem (Kinder-)Publikum familiären Kontexten, wie z.B. alltäglichen Begebenheiten, häuslichen und Weihnachtsszenen (s. Görners/Zimmermanns Aschenbrödel, Leudesdorffs König Drosselbart). b) Gestaltung der Figuren Die Untersuchung der uns vorliegenden Märchendramatisierungen weist auf ihre Figurenkonzeption hin, nämlich dass diese hierzu tendenziell nach der Formulierung von Pfister im Sinne einer statischen Konzeption verfahren. Die Rede ist also von statischen Figuren, die sich während des Handlungsverlaufes nicht verändern. Nur in wenigen der untersuchten Märchenstücke, z.B. in Richters Das tapfere Schneiderlein, in den verschiedenen König Drosselbart-Bearbeitungen und mit Ausnahmen in Bortfeldts Aschenputtel, werden dynamische Figuren dargestellt, die sich besonders in ihrem Charakter wandeln und weiterentwickeln. Ein zweites Merkmal der Figurenkonzeption besteht in der Eindimensionalität der handelnden Figuren, deren Charakterisierung hier durch einen kleinen und in sich schlüssigen Satz an Merkmalen erfolgt. Vor allem Neben- bzw. Randfiguren werden mit nur einer Eigenschaft ausgerüstet. Die Charakterisierung der Figuren betreffend, stellen die handlungstragenden Figuren keine zur Einfühlung einladenden Individuen dar, sondern es handelt sich aufgrund ihrer mangelnden Lebensgeschichte, der inneren Konfliktlosigkeit und der fehlenden Motivation vielmehr um funktionalisierte Typen und klischeehafte Figuren. Auch wenn manche Figuren einen Eigennamen haben, firmieren die meisten von ihnen unter allgemeinen Bezeichnungen, wie z.B. „Der König“ oder „Die Prinzessin“. Da solche Figuren nicht glaubhaft wirken, können sich die Zuschauer schwerlich mit ihnen und ihrem Schicksal identifizieren. Daraus kann man schließen, dass die Bearbeiter von Märchen das Einfühlungsprinzip der klassischen Dramatik auf äußerst zweckmäßige Weise und höchstens als konventionellen Bezugspunkt, keineswegs aber als Organisationsprinzip betrachtet haben. So sind die Handlungen in den Bearbeitungen meist so angelegt, dass sie anstelle der Einfühlung der zuschauenden Kinder in die Hauptfiguren vielmehr den Blick für das ganze Bühnengeschehen, also für die darin dargestellten Begebenheiten öffnen. Dies war offensichtlich ein Zwang hinsichtlich der ursprünglichen Fabel, aber zugleich auch eine Einschränkung gegenüber der Erwartung, im Theater dürfe man sich auf Gegenwärtiges freuen, sowie im Hinblick auf deren handlungs- und figurenmäßigen Umsetzungen. Damit nähern sich die im Korpus vorliegenden traditionellen Märchenstücke immer mehr der Form des Epischen Theaters, wenn auch nicht im Sinne gesellschaftskritischer Zusammenfassung und Fazit 321 Implikationen, sondern auf Grund der Anwendung Distanz schaffender, illusionsbrechender Verfahren. Eine der wenigen Ausnahmen stellt Das tapfere Schneiderlein in der Bearbeitung von Richter dar. Hier berichtet der Hauptprotagonist (der Schneider Fridolin Leichtfuß) in einer biografischen Rückblende über Vorgänge aus seiner Kindheit. Damit kann der junge Zuschauer Vertrauen zu ihm aufbauen und sich in Handlung und Figur einfühlen, wodurch Selbsterkennung und Sympathie entstehen können. Tendenziell war vielmehr vom Gegenteil die Rede. Zum einen wird die im traditionell zielgerichteten Drama angestrebte Einfühlung des Zuschauers in das Dargestellte erschwert, indem die Illusionswirkung durch das Vorhandensein epischer Elemente weitgehend relativiert wird. Dazu gehören, wie bereits erwähnt, u.a. Erzähler- und Kommentatorfiguren, die der Welt der handelnden Figuren nicht angehören (s. Bürkners Dornröschen). Zum anderen werden Handlungen bzw. Konflikte dem Komischen untergeordnet, wodurch der junge Zuschauer in eine gewisse Distanz zu den einzelnen Figuren rückt und sich dabei nur schwer in sie hineinversetzen kann. Identifikationsmöglichkeiten im eigentlichen Sinne bieten die vorliegenden Märchenstücke eigentlich nicht, dafür aber den jungen Zuschauern ein großes Vergnügen – vor allem wegen der zahlreichen slapstickartigen Verfolgungsjagden zwischen den Figuren. Der Blick auf die Ergebnisse der Analyse lässt erkennen, inwiefern sich allmählich eine deutliche Linie aus dem Zusammenspiel von konstanten und inkonstanten Merkmalen anhand der Bearbeitungsverfahren ausbildet: Weg von der Gefolgschaft äußerer Konventionen des kanonischen Dramas, was oft mit Einbußen auf Seiten der Fabel einherging, hin zu einem Zurechtfinden in einem bühnenhaften, dennoch erzählerischen Märchen. Damit wurde das Feld für die Leistungen von Autoren wie Maar und besonders Waechter bestellt, denn beide Autoren durften sich dreier Errungenschaften jener späten traditionellen Bühnenbearbeitung erfreuen: Abnahme von Fabelauslassungen, eine größere Freiheit beim Vorschlagen abweichender Lösungen und offene Einführung von Erzählpersonen. Alle drei waren Zeichen eines eindeutigen Bekenntnisses zum bühnenhaften Märchen und gingen nun mit einem deutlichen Abbau traditioneller Bearbeitungsverfahren aus früheren Zeiten einher. Im Anschluss an die Analyse von Bearbeitungen, in denen traditionelle Verfahren Anwendung fanden, wurde nun auf Waechter eingegangen, den wohl maßstabsetzenden Autor für das zeitgenössische deutsche KJT. In den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden seine Kinderstücke von einem Teil der Kritik als Indiz für ein anderes KJT gefeiert. Sein vordergründig unpolitischer Ansatz wurde den politischen Zielen der „emanzipatorischen“ Welle entgegengehalten. Recht verstanden waren Waechters Stücke als Alternativen zu den Grips-Stücken aufzufassen. Die antiautoritäre Haltung von Waechter deutete zwar auf Gemeinsamkeiten hin, aber seine Mittel waren andere. Zusammenfassung und Fazit 322 Das moderne deutsche Märchentheater ist ohne Waechter in seiner Rolle als Kindertheaterautor kaum denkbar. Er hat einige der großen Märchenstücke von dichterischer Qualität geschrieben, die die Mehrzahl der landläufigen Märchendramatisierungen weit hinter sich lassen, weil sie eigenständige Stücke ausmachen. Waechter gilt, zusammen mit Maar, als einer der Erneuerer des modernen deutschen Märchentheaters für Kinder. Mit den Ausführungen in Abschnitt 3.4.2 wurde aufgezeigt, welche Konzeptionen Waechter in seinen ersten Märchenbearbeitungen für die Bühne zu überwinden vermochte und welche Strukturen des traditionellen Märchentheaters, die erst unter dem Einfluss der neuen Strömungen ab Ende der 1960er Jahre im KJT-Bereich in Frage gestellt wurden, von ihm aufgelöst wurden. Das herkömmliche Märchenspiel bot nämlich eine Vielzahl von Mitteln bzw. Elementen, die den Eindruck eines Abfallprodukts der Bühnenpraxis erweckten: stereotypisierte Handlungen und Figuren, didaktische Absicht, handlungsorientierter Unterhaltungswert, revuehafte Struktur, possenhafte Ästhetik usw. Aufgezeigt wurde auch, wie Waechter in späteren Jahren immer mehr – schreibend, gelegentlich auch selbst inszenierend – das Ineinander und Miteinander von Erzählen und Spielen auf der Bühne untersucht hat – nicht nur, aber vor allem mit Märchenstoffen. Dabei ist Waechters ganzes „Erzähltheater“ entstanden. Waechters erste Theaterstücke aus den 1970er Jahren beschränkten sich fast ausschließlich auf Bearbeitungen Grimmscher Märchenstoffe. Allerdings unterschieden sich seine Adaptionen – unter ihnen Der Teufel mit den drei goldenen Haaren – deutlich von ihren Vorlagen. So wurden die alten bekannten Grimm-Geschichten zu Szenarien umgeschrieben, die zwar noch die märchenhaften Elemente der epischen Vorlagen verwendeten, aber eigentlich nur, um in dieser „Verfremdung“ die Merkmale der zeitgenössischen Welt besser paraphrasieren zu können. Vom Teufel-Stück sind verschiedene Fassungen entstanden. Die erste Version stammt vom Beginn der 1970er Jahre und wurde bis Anfang der 2000er Jahre mehrfach umgearbeitet. Der maßgebliche Unterschied zwischen der Urfassung und der endgültigen, also die für das Erzähltheater von Verena Reichardt geschriebene Textfassung, besteht in der Akzentuierung der Erzählsituation. Während die erste Teufel-Fassung von der Anwesenheit eines Erzählers auf der Bühne lebt, wird der Erzähler in der Zweitfassung gestrichen und stattdessen die Figur der Teufelsgroßmutter als Erzähler-Katalysator der Geschichte eingeführt. In dieser Funktion beginnt sie den Lauf der eigentlichen Geschichte, indem sie die Figur des Knechts erweckt, und hält die Geschichte in Gang. Ist die Figur der Großmutter in der zweiten Teufel-Fassung noch fest integriert, so fehlt sie in der dritten Version dann allerdings komplett. Hier ist sie als Erzählerin verschwunden und damit auch die epische Erzählweise. Die vierte und endgültige Fassung zeigt wiederum eine deutlichere Wendung zum Epischen. Darin steht ein Erzähler bzw. ein schauspielender Erzähler im Mittelpunkt. Dieser ist zugleich Erzähler und Darsteller der Handlung in den verschiedenen Situationen des Stückes oder beim Ãœbergang einer Zusammenfassung und Fazit 323 Handlungsstation zur nächsten: Einerseits agiert er als Erzähler, der die Zuschauer erzählend durch die Handlung führt, andererseits fungiert er als Spieler, der in jede einzelne Rolle schlüpft. Vergleicht man also die Entwicklung des Teufel-Stückes in seinen unterschiedlichen Fassungen, also von der Urfassung der 1970er Jahre mit 33 verschiedenen Figuren über die riesige und in die Länge gezogene Fassung von 1988 mit etwa 50 Rollen bis hin zur Einpersonen-Erzähltheater-Fassung von 1991 (s. 3.4.2.2.2-3.4.2.2.4), so kann man in dem Ãœbergang vom Ensemble-Spiel zum „Erzähltheater“ die klare Tendenz hin zum Erzählen sehen. Am deutlichsten dringt die verborgene Epik des Stoffes in der letzten Fassung des Stückes vor, weil Waechter darin die traditionsreiche Kunst des Märchenerzählens aufgreift. Als Erzähltheaterfassung speist sie sich – wie es die Gattungsbezeichnung bereits verrät – aus zwei Elementen: dem Narrativen und dem Dramatischen. Zwar wird darin das Erzählen zum zentralen Element, aber eigentlich spielt Waechter mit Erzählebenen und Perspektivenwechsel. Das Stück ist eine Mischung zweier Formen: Theaterspiel und Erzählgestus. Hier verbinden sich die Gegenwärtigkeit der Theaterform, also die Darstellung, und die Märchenform, also die Erzählsprache des alten Märchens, das mit seiner spezifischen Sprache Bilder formt, die zur Vorstellungskraft des Publikums beitragen können. Dabei ist es Waechter insbesondere bewusst, dass eine rein auditive, mit den einfachsten schauspielerischen Mitteln kombinierte Märchenadaption den jungen Zuschauern mehr Freiraum zum Entstehen von eigenen, inneren Bildern lassen kann. Formal zeigen Waechters unterschiedliche Bühnenfassungen des Teufels im Vergleich zu den als „traditionell“ einzustufenden Märchenbearbeitungen in beispielhafter Weise, wie Wesen und Inhalt des zu adaptierenden Märchens werkgerecht umgesetzt werden. Vor allem durch die „Reinform“ des Erzählens ist es Waechter nämlich gelungen, nicht nur eine eigene und neue Zugangsweise zur Grimmschen Erzählvorlage zu finden, sondern auch eine adäquate Darstellungsweise, die dem Inhalt des von ihm adaptierten Teufel-Märchens gerecht wurde. Dadurch hat er eine Dramaturgie entwickelt, mit der die epische Struktur der Märchenvorlage beibehalten wurde. Dies gelingt durch die permanente Anwesenheit eines Erzählers auf der Bühne, so wie es sich exemplarisch in der Einpersonen-Erzähltheater-Fassung aus dem Jahr 1991 zeigt. Als zusammenfassendes Ergebnis hinsichtlich der Märchenstücke unseres Analysekorpus kann Folgendes festgehalten werden: 1) Auf formaler Ebene entfernt sich der aus dem Märchen adaptierte Text von seiner ursprünglichen Form und wird zu einem Bühnentext. Da der Fabelstoff kaum Änderungen zulässt, wird die Annäherung an die Bühnenkonventionen auf Kosten von Teilen des Märchens erkauft. Somit entsteht ein Hauch von Gegenwärtigkeit, der im Zusammenfassung und Fazit 324 Endeffekt künstlich ist, denn weder die Handlung noch die Figuren erfahren wesentliche Änderungen. Die meisten der zur Analyse herangezogenen Märchenstücke sind ihrer Ursprungsgattung, also dem Märchen, näher als ihrer aufführungsspezifischen Form des Dramas. 2) Ab Mitte der 1960er Jahre nimmt die Zahl von Bearbeitungen zu, in denen eine immer deutlichere Abwendung von traditionellen Konventionen erfolgt. Insofern gibt es eine ganze Reihe von Bearbeitungen, die sich aus der dramatischen Form zu lösen versucht und sich an die epische Darstellungsform angenähert haben. 3) Immer häufiger werden epische Stilmittel in die Bühnenform eingefügt. Als überragendes episches Element zahlreicher Märchenstücke aus unserem Korpus ist das Vorhandensein eines Erzählers hervorzuheben, wodurch eine Erzählebene geschaffen wird, durch die die Darstellung der Handlung auf der Bühne gebrochen wird. 4) Modernen Bearbeitern gelingt es, aus solchen Erzählerfiguren neue Personen für ihre Stücke zu entfalten, die spannungsvolle, anregende, sogar für ein junges Publikum parodisierende Merkmale in die Tat umsetzen. Am deutlichsten ist dies am Teufel- Stück von Waechter zu erkennen. Darin wird ab der zweiten Fassung das althergebrachte Bild von der Märchen erzählenden Großmutter im Ohrensessel aufgegriffen. Die Figur der Teufelsgroßmutter wird als Erzählerin eingeführt, d.h. sie übernimmt die Erzählerfunktion auf einer eigenen „Erzählebene A“, während die eigentliche Geschichte sich auf der „Erzählebene B“ abspielt. Somit gelingt es den Beiträgen modernerer Bearbeiter, eine lange Reihe von vielfältigen Leistungen ihrer Vorgänger auf eine neue Stufe zu heben und so ein neues Erzähltheater zu gründen, dem mehr Chancen auf Etablierung als Gattung zuzutrauen sind als dem bisherigen, eher zwitterhaften Märchenstück. Anhang 325 Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel Märchenspiel nach den Brüdern Grimm Text von C.A. Görner und Hans Zimmermann Erschienen 1962 als Nachdruck beim Verlag Felix Bloch Erben, Berlin170 Autoren: Carl August Görner (1806-1884) war ein deutscher Schauspieler, Regisseur und Bühnendichter. Er wurde in Berlin als Sohn eines höheren Beamten im preußischen Finanzministerium geboren. 1822 verließ er das Elternhaus, um sich der Bühne zu widmen: Er wanderte bis Stettin, wo er seine erste Anstellung im Theaterbereich erhielt. Sein nächstes Engagement fand er am herzoglichen Hoftheater in Köthen. Dieses Theater ging ein, er übernahm die Leitung und führte es erfolgreich auf eigene Rechnung weiter. 1827 wurde Görner als Charakterschauspieler, Oberregisseur und später Direktor an das Hoftheater Neustrelitz berufen. Dort wirkte er 22 Jahre bis zur Auflösung des Hoftheaters 1848. Weitere Stationen Görners Leben sind: 1848 begab er sich nach Breslau, von hier 1853 an das Friedrich- Wilhelmsstädtische Theater in Berlin, übernahm 1855 die Leitung der Krollschen Bühne und ging 1857 nach Hamburg. Dort war er abwechselnd beim Stadt- und am Thaliatheater als Charakterspieler und Oberregisseur tätig. Sein erstes Bühnenstück, Gärtner und Gärtnerin, wurde 1826 in Freiberg aufgeführt. In dem darauf folgenden halben Jahrhundert hat Görner die deutsche Bühne mit ca. 150 Stücken beschenkt. Als ein besonderes Genre bildete er die Kinderkomödie aus – Kindertheater (6 Bde., Berlin 1855) – und belebte von neuem das alte dramatische Weihnachtsmärchen in seinen Weihnachts-Komödien (18 Bde., Hamburg 1879- 1884) (Tornau 1958: 122ff.; Lier 2003). Angaben zum Leben und Wirken von Hans Zimmermann können nicht gemacht werden. Entstehung und Uraufführung: Das hier besprochene Märchenstück erschien erstmals 1874 in Hamburg-Altona mit dem Titel Aschenbrödel oder Der gläserne Pantoffel. Weihnachts- Komödie mit Gesang und Tanz in 6 Bildern. Nach dem gleichnamigen Märchen bearbeitet (Jahnke 1977: 246, Anm. 52). Das Stück erschien dann später 1962 als Nachdruck beim Felix Bloch Verlag, Berlin. Die Uraufführung fand im gleichen Jahr, am 8. Dezember statt. Genaue Angaben zum Theater und Ort der Uraufführung können leider nicht gemacht werden. Personen: König Kakadu; Prinz Wunderhold; Hofmarschall Grasemück; Stallmeister Wiedehopf; Sänger Nachtigall; Minister Puterhahn; Baron Montecontecuculorum; Sybilla, seine 170 Das Stück ist auch bei der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten erhältlich. Anhang 326 Frau; Kinigunde; Serafine; Aschenbrödel; Fee Walpurgis; Syfax; Ilse, Magd; Gäste bei Hof; Diener bei Hof; Diener des Barons; Ballett; Kinderballett. Orte der Handlung: Raum im Schloss des Barons; Gewölbe im Schloss der Walpurgis; Audienzsaal im königlichen Schloss. Zum Stück: Görner und Zimmermann greifen in ihrer Bearbeitung des Aschenputtel-Stoffs auf verschiedenen Quellen zurück, vor allem auf Perraults Feenmärchen Cendrillon ou La petite pantoufle de verre (1697), aber natürlich auch auf das Aschenputtel-Märchen der Brüder Grimm – sowohl der ersten Fassung von 1812 als auch der verbreitetesten Endfassung von 1857 (KHM 21). Aus Perraults Cendrillon nutzen die beiden Autoren die höfische Sphäre aus. Daneben beziehen sie sich auch auf die Fee Perraults und lassen das Grimmsche Motiv des Grabs und des Haselstrauchs mit dem „weißen Voglein“ durch die Frau Walpurgis ersetzen. Bei dieser Figur handelt es sich um eine zauberkundige Fee, eine Patin von Aschenbrödel, die dem gedemütigten Mädchen hilft. Was sie mit ihrem Zauberstab verwandelt, bewirkt in der Grimmschen Fassung der weiße Vogel. Ein weiteres entscheidendes, auch bei Perrault deutlich herausgearbeitetes Motiv ist, dass Aschenbrödel vor Mitternacht zurückkehren muss, weil sonst der Zauber vergeht. Das Motiv war auch in der ersten Fassung des Grimmschen Aschenputtel-Märchens vorhanden. Was den Schluss der Geschichte betrifft, so verzichten Görner und Zimmermann auf die Ãœbernahme des Schlusses vom Grimmschen Märchen, in dem die Stiefschwestern ihre gerechte Strafe erhalten, und ziehen den versöhnenden Märchenschluss von Perrault vor. So erfolgt im Bühnenstück die Bestrafung der beiden Stiefschwestern nicht, weil ihnen Aschenbrödel verzeiht. Das Stück ist in 6 Bilder unterteilt.171 Bei der Exposition wird die Vorgeschichte, also die 171 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 1-7) Es spielt in einem Raum im Schloss des Barons Montecontecuculorum. Das Bild führt den morgendlichen Ablauf häuslicher Tätigkeit im Haus vom Baron, dem Vater Aschenbrödels, vor: Aschenbrödel beim Staubwischen und Putzen, die Morgentoilette der Stiefschwestern, das Frühstück, den Empfang des Hofmarschalls, der die Einladung zum Hofball überbringt. In diesem Kontext wird auch die Unterdrückung Aschenbrödels (und des Barons) vorgeführt. Die Figur des Magiers Syfax wird eingeführt. Er tritt als Bettler verkleidet ein und steht Aschenbrödel mit Rat und Tat zur Seite. –„Zweites Bild“ (S. 8-12) Das Bild beginnt mit einem Monolog von Syfax, der sich direkt an das Kinderpublikum wendet. Man erfährt, dass er bei Frau Walpurgis angestellt ist. Im Gewölbe im Schloss der Walpurgis wird dann gezeigt, wie Aschenbrödels Wunsch erfüllt wird. Die Fee verwandelt zunächst einen Kürbis mit ihrem Zauberstab in eine Karosse. Auch Mäuse und einige Eidechsen werden von ihr in Schimmel, einen Kutscher und Diener verwandelt. Als die Fee Aschenbrödel mit ihrem Zauberstab berührt, hat diese prächtige Kleider an. Die Fee gibt ihr auch Glaspantöffelchen, in denen Aschenbrödel zum Ball erscheinen soll. –„Zwischenbild“ (S. 13) Das Lied des Hofsängers Nachtigall leitet über zu Bild 3. Auf diese Weise wird das Publikum auf die festliche Stimmung im königlichen Schloss hingewiesen. –„Drittes Bild“ (S. 14-21) Es spielt auf dem Schloss von König Kakadu. Im Mittelpunkt des Bildes steht der Ballbesuch. Zum Ball sind alle Jungfrauen des Landes eingeladen, damit der Prinz Wunderhold eine Gemahlin wählen kann. Aschenbrödel gilt als Schönste auf dem Ball und wird auch Anhang 327 Episode der sterbenden Mutter und der zweiten Ehe des Vaters narrativ vermittelt, was gleich im 1. Bild die Konzentration des Dargestellten auf die Schikane Aschenbrödels durch die Stiefmutter und ihre beiden Töchter bedeutet. Zwischen den einzelnen Handlungsabschnitten werden kleine Zwischenszenen eingeschoben, die als Ãœberleitungen in und zwischen den unterschiedlichen Bildern dienen. Darin wendet sich der Diener der Frau Walpurgis (Syfax) ans Kinderpublikum und gibt Kommentare zu vergangenen Ereignissen. Solche Einschübe machen Durchbrechungen der Handlung aus und sind als episierende Momente zu begreifen. Die bei der Handlung immer wieder vorkommenden Lied- und Tanzeinlagen stellen auch Zäsuren in der Struktur der Geschichte dar. Die eingeschobenen Lieder haben vor allem eine handlungsbeschreibende Funktion, sie werden aber auch zur Vorstellung der Figuren verwendet. In Aschenbrödel schiebt sich das Unterhaltsam-Komische zwischen die Handlungen. Vor allem wird das Stück durch humorvolle Dialoge und witzige Wortspiele, insbesondere zwischen den Hoffiguren, sowie durch wirksame Einfälle belebt. Darüber hinaus ist die Bearbeitung durch Görner und Zimmermann von einer figurenbezogenen Komizität getragen, die vor allem auf den Figuren des Hofes beruht. Zur vorliegenden Textausgabe ist zu bemerken, dass es sämtliche szenische Anmerkungen fehlen. Diese Textfassung unterscheidet sich also von anderen Ausgaben, etwa von 1873, 1879 und 1884, die in ihren Regieanweisungen und Szenenbeschreibungen ausführlicher sind (vgl. Jahnke 1977: 246). In der spezifischen Gestaltung der Spielräume zeigen sich charakteristische Unterschiede: Während in den Hof-Bildern (3, 5 und 6) den Raum als heroische Sphäre gestaltet wird, herrscht in den Aufzügen, in denen die Zauberkraft der Frau Walpurgis im Mittepunkt steht, das groteske Moment – insbesondere in den Balletteinlagen – vor. Die Autoren treiben die von den Stiefschwestern nicht erkannt. Syfax erscheint und nimmt den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf. Er sorgt für vielerlei komische Situationen. Der Königssohn verliebt sich in das Mädchen und möchte wissen, wer diese schöne Unbekannte ist – doch Aschenbrödel gelingt es, ihm zu entkommen. –„Viertes Bild“ (S. 21-24) Es spielt wieder im Haus des Barons. Walpurgis erscheint Aschenbrödel und gibt ihr den Rat, sich zum Wunderbäumchen am Grab der Mutter zu begeben. Auf den bekannten Zauberspruch hin bekommt sie dort prächtige Kleider. Es folgt eine groteske Szene, in der Syfax eine Heinzelmannschaft auftreten lässt, die Aschenbrödels häusliche Arbeiten macht. –„Fünftes Bild“ (S. 24-26) Es spielt im Königsschloss. Im Mittelpunkt des Bildes steht Aschenbrödels Auftritt auf dem zweiten Hofball. Auf dem Ball tanzt der Prinz die ganze Zeit mit der schönen Unbekannten. Beim ersten Glockenschlag eilt sie hinaus und verliert dabei einen ihrer Glasschuhe. Der König beauftragt die Besitzerin des Schuhes zu suchen. Es folgt eine spannende Verfolgungsjagd, bei der Aschenbrödel mit Hilfe von Syfax, der eine Brücke einstürzen lässt, den Prinzen zum zweiten Mal entkommen kann. –„Zwischenspiel“ (S. 26) Syfax erscheint vor dem Vorhang und nimmt den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf. Dabei spricht er über seine heroische Tat. –„Sechstes Bild“ (S. 27-30) Die Pantoffelprobe beginnt. Sie findet im Schloss statt. Der Prinz will nur das Mädchen heiraten, dem der Schuh passt. Alle Konkurrentinnen scheitern bei dem Versuch, während der Schuh Aschenbrödel passt. In diesem Moment verwandelt die Fee Aschenbrödels Küchenkittel in die prächtigsten Kleider. Aschenbrödel verzeiht beiden Stiefschwestern alles, was sie Böses ihr getan haben. Das Stück endet mit Aschenputtels Hochzeit mit dem Prinzen. Anhang 328 Tendenz, die Bühnenbearbeitung in grotesken Bildern gipfeln zu lassen, auf einen Höhepunkt in der Brücke-Einstürzen-Szene im Bild 5. Diese Aktion, die von keiner der beiden Vorlagen gedeckt wird, demonstriert allein die Möglichkeiten der Bühnentechnik, die mit der Verwandlung der Bühne in ein Schwimmbad, einen äußerst publikumswirksamen Effekt erreicht. Zur Figuration: Wie die Besetzungsliste des Bühnentexts erkennen lässt, benutzt das Märchenstück alle Figuren, die für die Aschenputtel-Geschichte charakteristisch sind, also Aschenbrödel, seinen Vater, Stiefmutter und Stiefschwestern. Zum Figurenpersonal des Stückes gehört auch die Figur der Fee, Frau Walpurgis, und ihr Diener Syfax, der mit großem Textanteil neu eingesetzt wird. Dem Stück werden aber weitere Figuren hinzugefügt. Dazu gehören die Figuren auf dem Hof (Hofmarschall, Stallmeister, Hofsänger, Minister). Was die Charakterisierung betrifft, so sind die Figuren im Stück streotyp und kontrastierend gestaltet. Sie lassen sich insofern in zwei unterschiedliche Gruppen, also Gut und Böse einteilen. In der Gegenüberstellung von Gut und Böse werden außerdem Werte und Rollenbilder verhandelt. Zu den mit guten Eigenschaften ausgestatteten Figuren gehört Aschenbrödel. Sie bezitzt keine ausgeprägte Persönlichkeit und wird einzig als ein gutes braves Mädchen dargestellt. Sie wirkt bescheiden und gutmütig. Im Laufe des Stückes bleibt sie eine passive Figur, die allenfalls reagiert: Sie wird zur Marionette in den Händen der Frau Walpurgis. Die beiden Stiefschwestern stehen in scharfem Gegensatz zu Aschenbrödel. Sie zeichnen sich nur durch negative Eigenschaften aus. Sie sind arrogant und überheblich, und sie lügen gerne. Neben den bösen Stiefschwestern gilt die Stiefmutter auch als Bösewicht. Ihr Gegenüber steht Aschenbrödels Vater, der als ein gutmütiger Mann erscheint. Allerdings wirkt er zu schwach, um sich seiner neuen Frau gegenüber zu behaupten. Er hat überhaupt keine Autorität. Somit ist er nicht im Stande dazu, das unglückliche Schicksal Aschenbrödels zu beeinflussen. Die Typisierung der Figuren findet auch im Bereich der Funktionen statt. Neben der Hauptfigur Aschenbrödel, die der Heldin des Märchens entspricht, treten die Nebenfiguren als Helfer oder Gegner. So werden neben den Tauben, die Aschenbrödel beim Linsenlesen helfen, auch die Fee Walpurgis und ihr Diener Syfax zu Aschenbrödels Beistand. Im Gegensatz dazu agieren die Stief-Personen als Gegenspieler Aschenbrödels. Die genannte Ausweitung des Figurenpersonals impliziert neue Funktionen. Beim Diener Syfax z.B. vermischen sich darstellende und erzählende Funktionen. Auf der einen Seite agiert er als treuer, helfender Diener der Fee Walpurgis. Auf der anderen Seite fungiert er im Stück als Ansprechpartner für die zuschauenden Kinder, d.h. er tritt aus der Figur heraus, wendet sich an die Zuschauer und führt sich als kommentierende Figur ein. Als solche kontrolliert und lenkt er das Geschehen. Dabei übernimmt er die Funktion eines Erzählers. Anhang 329 Aschenputtel Weihnachstsspiel nach dem Grimm‘schen Märchen Text von Kurt Bortfeldt Erschienen als Bühnenmanuskript im Kiepenheuer Bühnenverlag, Berlin Autor: Ausführliche Angaben zur Person von Kurt Bortfeldt (geb. 1907 in Hamburg - gest. 1981) können nicht gemacht werden. Es konnte keine dementsprechende Information gefunden werden. Auch der Berliner Verlag Gustav Kiepenheuer, der das Werk von Bortfeldt vertritt, konnte keine weiteren Informationen zum Autor liefern. Leider sind sämtliche Unterlagen durch den Zweiten Weltkrieg verlorengegangen. Bortfeldt, heute im Prinzip vergessen, war vor und während des Krieges erfolgreich. In der NS-Zeit wurde er erstmals als Drehbuchautor bekannt, unter anderen mit den Filmen Meine Tante - Deine Tante (1939) und Hab‘ mich lieb! (1942) . Er war dann in der ehemaligen DDR im Filmbereich tätig. Insbesondere in den 50er und 60er Jahren wirkte Bortfeldt als Drehbuchautor für Spiel- und Kinderfilme mit – bei der DEFA- Märchenfilmproduktion Das tapfere Schneiderlein (1956) z.B. stellte er das Drehbuch fertig. Daneben setzte Bortfeldt seine bühnenschriftstellerische Tätigkeit fort. Er verfasste vor allem Lustspiele, aber auch einige Märchenspiele für Kinder. Dabei handelte es sich überwiegend um Bearbeitungen von Klassikern aus der Märchensammlung der Brüder Grimm, neben der hier besprochenen auch noch Schneewittchen. Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Entstehungs- und Uraufführungsjahr können nicht gemacht werden. Nach Angabe des Verlags soll das Stück verm. in den 1960en Jahren veröffentlicht worden sein. Im Stück selbst enthaltene Hinweise auf das Weihnachtsfest deuten auf die Uraufführung zu Weihnachten. Personen: Der Vater, Nachtwächter bei Hofe; Rosalind, seine Tochter, genannt Aschenputtel; die Stiefmutter; ihre Töchter Trude, genannt Wippstert, und Hilde, genannt Angsthäschen; Prinz Traurig; Knappe Kugelrund-Kerngesund; die Baumfee Haselnuß; die Katze Kritzekratze; das Mäuschen Piep; Eichhörnchen; Igel; Häschen; Kinder; Diener bei Hofe; die Täubchen. Orte der Handlung: Haus im Märchenwald; Festsaal im Schloss; vor dem Schloss. Zum Stück: Die Handlung des Stückes lässt sich wie folgt zusammenfassen: Rosalind ist hier ein gedemütigtes Mädchen aus erster Ehe eines Schlosswächters. Von ihren zwei Stiefschwestern Trude und Hilde verachtet muss sie alle Hausarbeiten verrichten und dazu auch noch in der Asche leben. Aus diesem Grund wird sie „Aschenputtel“ genannt. Auch hier gibt es einen Anhang 330 Prinzen. Als Jäger verkleidet ist er heimlich mit seinem Begleiter, dem Knappen Kugel, unterwegs, um eine Frau zu finden. Der Prinz ist an einer scheinbar unheilbaren Traurigkeit erkrankt, nur das Lachen kann ihn heilen. Deshalb veranstaltet er ein großes Fest, zu dem alle schönen Mädchen eingeladen werden. Die Schönste, die den Prinzen das Lachen wieder lehrt, soll ihn heiraten und Königin werden. Die beiden Schwestern gehen zum Ball des Königssohns. Rosalind wird es aber untersagt. Zur Hilfe kommt ihr eine Fee, die Baumfee Haselnuß. Von ihr erhält Rosalind schöne Kleider. Noch dazu bekommt sie einen goldenen Wagen. Bevor sie zum Fest des Prinzen losfährt, ermahnt sie die Baumfee noch, sie solle vor Mitternacht zurückkommen, denn um Mitternacht sei der Zauber vorbei. Rosalind gilt als Schönste auf dem Ball, der Prinz tanzt die ganze Zeit mit ihr und sie wird von niemanden erkannt. Aber als sie von dem Fest fliehen will, verliert sie ihr wunderschönes Kleid. Rosalind und ihre braven Freunde, die Tiere, versuchen dann vergeblich das Kleid zu finden. Der Knappe des Prinzen findet es am Weiher und denkt, das unbekannte Mädchen ist ertrunken. Damit der Prinz nicht das Unglück entdeckt und noch trauriger wird, gibt der Knappe das Kleid an die böse Trude, die es für das neue große Fest am Weihnachtsabend tragen möchte. Rosalind darf nicht zum Fest, obwohl sie die schwierige Aufgabe ihrer Stiefmutter mit der Hilfe der Tauben löst. Trotzdem besucht sie heimlich das Fest und tanzt mit dem Prinzen, der dabei das Lachen wieder lernt. Als Rosalind zum zweiten Mal von dem Fest fliehen will, verliert sie ihren Schuh. Der Prinz lässt gleich bekannt geben, dass er die heiraten wolle, deren Fuß in den Schuh passt. Die beiden Stiefschwestern probieren den Schuh an und versuchen den Prinzen durch einen Betrug dazu zu bringen, sie zu heiraten. Sie scheitern jedoch bei dem Versuch und werden durch das Täubchen entlarvt. Nur bei Rosalind passt der Schuh. Das Täubchen bestätigt die rechte Braut und der Prinz macht Rosalind zu seiner Frau. Die Stiefmutter und die Stiefschwestern bitten Rosalind um Verzeihung und erhalten sie. Aus dem Stückinhalt geht hervor, dass sich Bortfeldt nah an die Märchenvorlage der Brüder Grimm hält. Dabei fügt er Elemente verschiedener Fassungen des Märchens ineinander: die 1812 in den ersten Band der Erstaufgabe der Kinder- und Hausmärchen aufgenommene Fassung sowie die verbreiteteste Endfassung von 1857 (KHM 21).172 Von der Erstausgabe des Grimmschen Märchens übernimmt Bortfeldt die Mahnung der Fee an Aschenputtel, rechtzeitig um Mitternacht wieder zu Hause zu sein, sowie die Tatsache, dass die Protagonistin in einem goldenen Wagen auf dem Ball fährt, wie es im Nebentext zu lesen ist (vgl. Bild 1, S. 40). Die Geschichte von Rosalind wird in fünf Bildern erzählt.173 Drei davon wurden vom Autor mit einem Titel versehen. So trägt das 2. Bild den Titel „Das verschwundene Kleid“, das 3. Bild 172 Diese Version zeigt erhebliche Unterschiede zur Erstausgabe des Märchens. Zu den Hauptunterschieden zwischen den beiden Fassungen vgl. Spörk (1986: 110f.). 173 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –Auftritt der Katze und des Mäuschens (S. 1-2) Die Szene spielt im Zuschauerraum und vor dem Zwischenvorhang. Katze Kritzekratze kommt, gejagt vom Mäuschen Piep, durch den Zuschauerraum. Anhang 331 Die zwei Tiere klettern auf die Rampe und wollen sehen, wie es im Märchenland hinter dem Vorhang zugeht. Mit einem Zauberspruch wird der Märchenvorhang geöffnet, somit das Bühnengeschehen eröffnet und das Spiel eingeleitet. –„Erstes Bild“ (S. 2-41) Es spielt in einer Waldszenerie (im Märchenwaldhaus) in der Abenddämmerung. Katze und Maus tanzen nach der Melodie „Mäuschen, laß dich nicht erwischen“ über die Bühne. Dabei singen sie und jagen sich. Die Baumfee Haselnuß wird eingeführt. Sie warnt die beiden Tiere davor, nicht in die Suppe zu naschen. Aber sie achten nicht auf sie. Einführung von didaktischen Elementen: Die Fee lehrt die beiden Tiere „danke sehr“ sagen. Rosalind wird dann eingeführt und als liebes Mädchen dargestellt. Dabei liegt der Schwerpunkt auf dem Motiv der gestorbenen Mutter und des Wunderbäumchens. Das Sterben der Mutter wird in einer Dialogrede erwähnt, nämlich raffend zusammengesfasst und damit in die Vorgeschichte verlagert. Der Knappe Kugelrund-Kerngesund kommt singend hervor und stellt sich vor: Er wird als komische Figur dargestellt. Dann informiert er, dass der Prinz schon lange vergeblich auf der Suche nach einer Frau ist. Im Anschluss daran tritt Prinz Traurig als Jägermann auch singend auf (Jäger-Motiv). Dabei erfolgt die für das Verständnis der Handlung notwendige Charakterisierung der Prinzen-Figur. Beim Ausruhen lernen der Knappe und der Prinz die Katze und das Maus kennen. Sie machen auch die Bekanntschaft mit Rosalind, die den Knappen vormacht, wie man tanzt. Es folgt eine Tanzszene mit dem Prinzen nach der Melodie „Rosenstock Holderblüth“, dann noch eine gruppale Gesang- und Tanzszene. Beim gemeinsamen Singen und Tanzen stellt sich die gute Laune ein. Unter akustischen Signalen, nämlich Waldhornsignalen kommen der Vater und die Stieffamilie hervor (Motiv vom verreisenden Vater). Rosalind gegenüber reagieren die beiden Stiefschwestern Trude und Hilde hämisch-spöttisch. Der Vater, der als Nachtwächter im Schloss tätig ist, geht arbeiten. Rosalind wird von den überheblichen Stiefschwestern schikaniert: Sie wird die ärmste Magd im Haus, von ihren schönen Kleidern ausgezogen und „Aschenputtel“ genannt. Umringt von Kindern kommt der Knappe des Prinzen hervor und gibt kund, dass ein großes Fest im Schloss veranstaltet wird, zu dem alle schönen Mädchen eingeladen sind. Die Schönste, die den Prinzen das Lachen wieder lehrt, soll ihn heiraten und Königin werden (Motiv der Brautwahl). Es findet dann eine Verwechselungsszene statt: Der Knappe hält Trude, die Rosalinds Kleider trägt, für Rosalind und lädt sie, ihre Schwester und ihre Mutter zum Ball ein. Alle sind mit dem Anziehen beschäftigt. Dabei singen und tanzen sie zur Melodie „Alle Vögel sind schon da“. Rosalind darf aber zum Fest nicht mitgehen, weil sie kein schönes Ballkleid hat. Stattdessen soll sie im Haus arbeiten. Katze und Piep raten Rosalind, die gute Fee Haselnuß um ein schönes Kleid zu bitten. Auf einen Zauberspruch hin tritt die Fee unter Lichteffekten hervor und wirft Rosalind ein Zauberkleid und einen goldenen Wagen herab. So kann sie heimlich und unbekannt den Ball besuchen und mit dem Prinzen tanzen. Aber es besteht das Gebot, vor Mitternacht den Ball wieder zu verlassen. Das Bild endet mit einem Lied nach der Melodie „Leise zieht durch mein Gemüt“. –„Erstes Zwischenspiel“ (S. 42-43) Es spielt vor dem Zwischenvorhang. Der Knappe des Prinzen tritt vor den Vorhang und spricht das Publikum direkt an. Dabei erzählt er über das im Schloss stattgefundene Fest: Er sagt, er habe nichts vom Fest gesehen, aber ein wunderschönes Mädchen soll da gewesen sein; um zwölf sei sie verschwunden und der Prinz sei nun trauriger. Hier besitzen die Zuschauer gegenüber dem Knappen einen Informationsvorsprung: Das Publikum weiß schon, wer das wunderschöne Mädchen ist. Damit das verschwundene Mädchen wiedergefunden wird, lässt der Knappe wissen, dass der Prinz noch ein Fest am Weihnachtsabend veranstaltet. Der Knappe geht singend nach der Melodie „Wenn die Soldaten durch die Stadt marschieren“ ab. –„Zweites Bild“ (S. 44-67) Es spielt wieder in dem Haus im Wald, tagsüber. Das Bild beginnt mit einer Gesangszene der Stieffamilie: Die Stiefmutter und ihre Töchter Hilde und Trude singen nach der Melodie „Die Meiersche Brücke“ und berichten dabei vom Fest im Schloss des Prinzen. Die beiden Stiefschwestern sind nicht nett zu Rosalind, Katze und Piep kommen zur Verteidigung. Der Vater kommt von der Arbeit nach Hause. Die Stiefschwestern beklagen sich bei ihm über Rosalind, aber er schläft beim Stehen ein. Sie schikanieren Rosalind weiter, der Vater merkt aber nichts und denkt, dass sie sich ganz gut vertragen. Rosalind ist voll verzweifelt und denkt, niemand kann ihr weiterhelfen. Katze, Piep und andere Waldtiere kommen zierlich tanzend hervor. Dabei singen sie (Lied nach der Melodie „Es fuhr ein Bauer ins Heu“) und tanzen Rosalind um. Im Rückgriff auf Vergangenes erzählt Rosalind den Tieren vom Abendfest im Schloss und vom verlorenen Kleid (Motiv des verlorenen Gegenstands). Die treuen Tiere nehmen die Suche nach dem Kleid auf. Aber alle Suche ist vergebens. Anhang 332 Der Knappe des Prinzen kommt und trägt das Kleid. Er gibt es Trude, die es zu dem neuen Fest am Weihnachtsabend heimlich anziehen will, damit der Prinz denkt, sie ist das verschwundene wunderschöne Mädchen. Rosalind bittet die Stiefmutter darum, dass sie am Weihnachtsabend mit aufs Schloss nimmt. Aber Rosalind darf nicht mitgehen, weil sie wieder nichts zum Anziehen hat. Trude kommt in Rosalinds Kleid, Rosalind bricht in Tränen aus und bleibt verzweifelt und unglücklich zurück. –„Zweites Zwischenspiel“ (S. 68-69) Es spielt wieder vor dem Zwischenvorhang. Der Knappe Kugel kommt singend nach der Melodie „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ vor den Vorhang und nimmt Kontakt mit dem Publikum auf: Er erzählt von dem Fest, das im Schloss geben wird und bringt dann das Gespräch auf Weihnachtsgeschenke. Danach verschwindet er hinter dem Vorhang (Lied nach der Melodie „Hört, ihr Leute, laßt euch sagen“). –„Drittes Bild“ (S. 70-83) Es spielt wieder im Waldhaus, das jetzt weihnachtlich geschmückt ist. Es ist Abend. Die erste Szene zeigt wie, Rosalind und die beiden Tiere Katze und Piep einen Tannenbaum schmücken. Dann muss Rosalind Hilde und der Stiefmutter dabei helfen, sich für das Fest im Schloss fein zu machen (Lied nach der Melodie „Alle Vögel sind schon da“). Aber mitgehen darf sie nicht. Stattdessen bekommt Rosalind die Aufgabe, Linsen zu verlesen (Motiv der Aufgabe). Mit Hilfe der zahmen Tauben gelingt es ihr, die Aufgabe erfolgreich zu erledigen (Lied nach der Melodie „Alle Vögel sind schon da“). Trotzdem bleibt ihr der Ballbesuch verboten. Es wird dann gezeigt, wie Rosalind, Katze und Piep sich gegenseitig beschenken. Darauf raten die braven Tiere Rosalind, die gute Baumfee wieder um Hilfe zu bitten. Auf den bekannten Zauberspruch hin tritt die Fee aus dem Haselstrauch hervor und wirft Rosalind ein goldenes Kleid und einen goldenen Wagen herab, sodass sie heimlich und unbekannt wieder zum Ball fahren kann. Musik- und Lichteffekte sorgen für eine traumhafte Atmosphäre. Am Ende des Bilds wird eine große Pause eingelegt. –„Drittes Zwischenspiel“ (S. 84-85) Es spielt wieder vor dem Zwischenvorhang. Bekannte Weihnachtslieder werden eingesetzt. Katze und Piep kommen festlich gekleidet vor den Vorhang und wollen auch zum Fest (Lied nach der Melodie „Hänsel und Gretel, die gingen in den Wald“). –„Viertes Bild“ (S. 86-114) Es spielt im Schlossfestsaal und vor dem Schloss am Weihnachstsabend. Das Bild spielt am Tag, an dem der Ball im Schloss stattfindet. Kammerherr Ja und Kammerherr Nein werden eingeführt und als als dumm-lustig hingestellt. Aus der Dialogrede der Figuren entsteht Komik. Im Schloss hat der Prinz Wächter gestellt: Sie sollen Acht darauf haben, dass das wunderschöne Mädchen nicht wieder fortläuft. Auf Empfehlung vom Kammerherren Nein lässt der Prinz auch noch die Treppe mit Pech bestreichen. Währenddessen warten die Stiefmutter und ihre Töchter im Krönungssaal. Der Prinz kommt und tanzt mit Trude. Dabei findet eine komische Situation statt. So stellt sich die Ungeschicklichkeit des Prinzen beim Tanzen heraus, als Trude versucht, ihm einen Walzer beizubringen. Rosalind kommt ins Schloss. Sie erscheint unter Lichteffekten. Der Prinz fordert Rosalind zum Tanzen auf. Es folgt eine Tanzszene im Walzertakt. Dabei lernt der Prinz das Lachen wieder. Als Rosalind vor Mitternacht fort will, muss sie einen Schuh zurücklassen (Motiv vom kostbaren Schuh): Der Schuh bleibt im Pech kleben. Auf der Flucht verliert Rosalind auch noch das goldene Kleid. Die Handlung gipfelt in dem Höhepunkt. Der Schwerpunkt liegt auf der Schuhprobe, der Versöhnung zwischen Stiefschwestern und Rosalind, und dem Happy-End, das den Abschluss der Handlung bildet. Um die Schuhprobe zu zeigen, findet eine rasche Raumverwandlung statt: Die kommenden Szenen spielen in einer verschneiten Waldszenerie vor dem Schloss. Zuerst wird Rosalinds Vater gezeigt, der am Schlossgartengitter schläft. Katze und Piep kommen dann hervor, begleitet von Kindern. Alle suchen Rosalind. Dabei singen sie nach der Melodie „Kling, Glöckchen“. Danach erscheint Rosalind. Auf der Suche nach einem Platz, um sich zu verstecken, begegnet sie ihrem Vater und schlüpft unter seinen Mantel. Die Schuhprobe beginnt (Motiv der Probe): Als Erste stellt sich Trude auf die Probe. Um sie zu bestehen, knickt sie ihre Zehen um. Aber als der Prinz sie als seine Braut nehmen will, bezeugen die Tauben den Betrug. Hilde ist dann dran. Bei der Anprobe stellt sich heraus, dass der Schuh zu klein für sie ist. Die Tauben bezeugen nochmal den Betrug. Auch Rosalind muss sich der Probe stellen. Der goldene Schuh passt ihr und die Tauben weisen Rosalind als die rechte Braut aus. Der Prinz nimmt sie als seine Frau. Rosalind verzeiht ihren Schwestern von Herzern gern, nachdem diese sich bei ihr entschuldigt haben Katze und Piep kommen hervor und bringen das wunderschöne, goldene Kleid, das Rosalind für die Hochzeit anzieht. Anhang 333 heißt „Die Täubchen helfen“ und das 5. Bild ist betitelt: „Das Weihnachtsfest“. Die Titel sollen lediglich den Lesern dabei helfen, sich schnell einen Ãœberblick des jeweiligen Bühnengeschehens zu verschaffen. Bortfeldts Bühnenfassung zeigt einige Unterschiede zu dem 1857 von den Brüdern Grimm veröffentlichten Aschenputtel-Märchen. So setzt Bortfeldt die Bühnenhandlung etwas später als die Märchenhandlung an, bei ihm bleiben also wichtige Teile der Originalmärchenhandlung ausgespart. Dazu zählt beispielsweise der Anfangsteil des Grimmschen Märchens, in dem die Mutter im Sterben liegt und der Tochter verspricht, ihr aus dem Himmel zu helfen, wenn sie, in Not gekommen, darum bittet. Bei Bortfeldt wird das Sterben der Mutter nicht nur nicht gezeigt, sondern in die Vorgeschichte verlagert (vgl. im Bild 1). Zu den Eliminierungen von Märchenteilen gehört auch das Motiv der Reise des Vaters und seine Frage nach den Wünschen der Töchter. Trotz diesen Einzelheiten finden sich in Bortfeldts Bühnenbearbeitung schon die wesentlichen Motive der Grimmschen Geschichte versammelt. Wie im Märchen wird auch bei Bortfeldt Aschenputtels Konflikt mit der Stiefmutter und den Stiefschwestern in den Mittelpunkt gerückt, während das Motiv der Brautwerbung am Schluss des Stückes eher als Anhängsel an den Konfliktkern verstanden werden soll. Neben der Ãœbernahme aller zentralen Motive des Grimmschen Aschenputtels werden auch weitere Märchenmotive vom Bearbeiter bewusst eingesetzt, so z.B. das Jäger-Motiv (Bild 1) sowie das Motiv des verlorenen Gegenstands, also das von Rosalind auf der Flucht vor dem Prinzen verlorene wunderschöne Kleid (Bild 2). Aus diesem Motiv ergibt sich zunächst im 2. Bild der Glaube, dass die schöne Prinzessin ertrunken ist, dann im 4. Bild die lustige Verwechslungsepisode, bei der eine der Stiefschwestern, Trude, in Rosalinds wunderschönem Kleid gekleidet mit dem Prinzen tanzt und erfolglos versucht, sein Herz zu gewinnen. Mit dem Einsatz dieser Motive kommt es im Stück zu einer Zuspitzung der fabelhaften Elemente überhaupt. Lässt sich Bortfeldt in hohem Maß inhaltlich vom Grimmschen Ausgangsmärchen leiten, so bricht er auch strukturell erheblich damit. Statt gleich mit der Fabel zu beginnen, stellt Bortfeldt eine einleitende Szene voran, mit der eine einrahmende Struktur geschaffen wird (vgl. im Vorspiel S. 1f.). Dabei animieren zwei Tierfiguren die kindlichen Zuschauer zum Mitrufen, damit der Vorhang sich erhebt. Erst dann beginnt die eigentliche Bühnenhandlung. Von der ersten Szene an ist also eine direkte Zuwendung der Figuren zum Kinderpublikum deutlich. Neben dieser die Bühnenhandlung einrahmenden Szene werden auch zwischen den einzelnen Handlungsabschnitten Zwischenspiele immer wieder eingeschoben, die als kommentierende Ãœberleitungen zwischen den unterschiedlichen Bildern dienen. Darin wendet –„Fünftes Bild“ (S. 115) Es und spielt wieder im Schlossfestsaal, der weihnachtlich geschmückt ist. Hochzeitsszene mit Weihnachtsmann, Christkind, Engeln und Geschenke für alle. Zum glücklichen Ende wird Weihnachtsmusik eingesetzt und alle singen mit (Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“). Anhang 334 sich der Begleiter des Prinzen, der Knappe Kugelrund-Kerngesund, ans Kinderpublikum und gibt Kommentare zu vergangenen und kommenden Ereignissen. Solche Einschübe machen Durchbrechungen der Handlung aus und schaffen damit episierende Momente im Laufe des Stückes. Die während der Bühnenhandlung vorkommenden Rückgriffe stellen auch Zäsuren in der Struktur der Geschichte dar, so z.B. der Rückgriff durch Rosalind im 2. Bild (S. 56f.), der dazu dient, ein bereits zurückliegendes Ereignis, nämlich das erste Fest im Schloss und die Verlust des wunderschönen Kleids, aufzudecken. Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied in der Struktur besteht in der Verlagerung der Episode der Aufgabenstellung, also der scheinbar unlösbaren Aufgabe, die die Hauptfigur lösen muss. Beim Grimmschen Aschenputtel erfolgen die von der Stiefmutter verlangten Aufgaben vor dem ersten Ballbesuch, in Bortfeldts Märchenstück hingegen erst vor dem zweiten Besuch (Bild 3, S. 74ff.). Außerdem wird bei Bortfeldt das Märchen vereinfacht, nämlich im Hinblick darauf, dass Rosalind nur einmal eine Schüssel mit Linsen zu verlesen bekommt. In der erzählerischen Vorlage gibt es dagegen die Aufgabe zweimal und zwar hintereinander. Bortfeldt bricht auch mit dem strukturellen Gerüst der erzählerischen Vorlage, indem bei ihm die Dreizahl keine bedeutende Rolle spielt. Bei den Brüdern Grimm gibt es drei Feste. Dreimal bittet Aschenputtel die Stiefmutter, aufs Fest gehen zu dürfen und jedesmal weigert sie sich. Dreimal bittet dann Aschenputtel am Grab seiner Mutter um Kleidung und dreimal erhält sie schöne Kleider, in denen sie heimlich aufs Fest geht. Ähnlich verhält es sich mit dem Besuch des Festes selbst: Dreimal tanzt Aschenputtel mit dem Prinzen und jedesmal entwischt sie ihm. Strukturell sind auch die Schuhproben gleich, wobei die Tauben dreimal ihr Urteil sprechen. Im Vergleich dazu geschieht alles nur zweimal in der Bühnenfassung, womit die ursprüngliche Geschichte variiert wird. Auffällig in der Struktur des Stückes sind auch die parallelen Berichte über gleiche Ereignisse. So wird über das erste Schlossfest wiederholt berichtet: Einmal von dem Knappen, dann von der Stiefmutter und den Stiefschwestern und schließlich noch einmal von Rosalind. Und zwar auf verschiedene Weise: Monologisch durch direkte Publikumsansprache und mit einem Lied (erstes Zwischenspiel, S. 42) sowie im Dialog vermittelt (Bild 2, S. 45ff. u. 56f.). Auf diese Weise findet im Stück ein Perspektivenwechsel zwischen den Figuren statt. Daneben finden sich im Stück Wiederaufnahmen von Satzteilen und Worten, wie z.B. wenn Rosalind die Stiefmutter darum bittet, auf den Ball gehen zu dürfen. Bortfeldts Bühnenbearbeitung unterscheidet sich deutlich von der epischen Vorlage, indem das Märchen durch zahlreiche komische Episoden verarbeitet wird. Dazu zählen z.B. die eingeschobenenen Verwechslungsepisoden, die für viel Komik sorgen. Vor allem wird aber das Stück durch humorvolle Dialoge und witzige Wortspiele, insbesondere zwischen den Hoffiguren, sowie durch wirksame Einfälle belebt. Anhang 335 Darüber hinaus ist die Bearbeitung durch Bortfeldt von einer figurenbezogenen Komizität getragen, die auf der Gestalt des Vaters und hauptsächlich auf den Figuren des Knappen und der Kammerherren beruht. So ist im Stück eine ironische bis läppische Charakterisierung der Hofwelt zu finden, deren Figuren infantile, skurrile Namen tragen (Knappe Kugelrund- Kerngesund, Kammerherr Ja, Kammerherr Nein) und als dumm-lustig hingestellt werden. Ferner wird bei Bortfeldt die Originalfabel der Brüder Grimm mit Musik und Tanz reicher geschmückt. So werden die theatralischen Mittel durch ein Repertoire von bekannten Kinder- bzw. Volksliedern nach sentimentalen und dem Publikum vertrauten Melodien ergänzt und in den Märchenrahmen eingehängt. Zum einen dienen die Lieder im Stück der Stimmung, zum anderen haben sie aber auch eine reflektierende, also handlungsbeschreibende Funktion. Außerdem werden durch Lieder die Figuren vorgestellt. Lieder werden schließlich zur Vorwegnahme künftiger Handlungsvorgänge verwendet, aber auch dazu eingesetzt, um vergangene Handlungsvorgänge bzw. einzelne Phasen der Geschichte, die verdeckt bleiben, raffend wiederzugeben. In diesem Zusammenhang ist auch noch zu beobachten, dass der Autor die Weihnachtszeit und deren Emblematik u.a. durch den Einsatz von Weihnachtsmusik am Ende des Stückes integriert. Bortfeldts Dramatisierung bildet eine aufklärerische, sehr lehrhafte Aufarbeitung des ursprünglichen Grimmschen Aschenputtel-Märchens. Dies zeigt sich vor allem durch die Figur der gütigen Baumfee Haselnuß. Sie ist diejenige, die im Verlauf des Stückes für Ordnung und Belehrung sorgt. Damit wird sie zur Trägerin pädagogischer Botschaften (vgl. im Bild 1). Im Stück finden sich dann immer wieder lehrhafte Sentenzen, welche den jungen Zuschauern dazu verhelfen sollen, richtiges von falschem Verhalten zu scheiden (vgl. Bild 1, S. 1 u. 9; drittes Zwischenspiel , S. 85). Damit verbunden ist auch die Tatsache, dass Bortfeldts Bühnenfassung im Vergleich zum Märchen der Brüder Grimm ein versöhnliches und damit neues Ende erhält: Die beiden bösen Stiefschwestern werden bei Bortfeldt nämlich nicht bestraft, sondern von der Hauptfigur verzeiht. Somit scheut sich das Märchenstück gänzlich vor der Grausamkeit der epischen Vorlage von 1857 zurück: Während in der Grimmschen Endfassung die Träger des Bösen, also die Stiefschwestern am Ende gequält werden (bei der Hochzeit nehmen die Tauben Rache an den falschen und neidischen Schwestern und hacken ihnen die Augen aus), so lässt die Stückfassung alles zu einem guten und glücklichen Ende führen. Grausamkeit und Gewaltigkeit werden bei Bortfeldt also zugunsten von Versöhnung abgeschafft. Die Botschaft des Stückes könnte somit lauten, dass die Menschen ja nicht besser werden, wenn man ihnen wieder Böses tut. Was die sprachlichen Eigentümlichkeiten des Stücktextes betrifft, so ist es festzustellen, dass Bortfeldt häufig seine Figuren rhytmisch sprechen lässt. Anhang 336 Die Zeit- und Raumstruktur im Märchenstück bleibt, wie in der Grimm-Vorlage, abstrakt. Wie es sich aus dem Vorspiel herauslesen lässt, bleibt die Handlung in einer unbestimmten Zeit und in einem unbestimmten bzw. fantastischen Ort angesiedelt. So wird es als Handlungsort ein Märchenland, mit Wald und Schloss, angesagt. Tages- und jahreszeitliche Angaben werden in der Figurenrede angegeben. Bortfeldt legt alle Inszenierungsdetails im Stücktext fest. Das Bühnenbild variiert je nach Handlungsstand. Schwerpunkt bei der Raumkonzeption im Stück bleibt die detaillierte Beschreibung des Bühnenbilds, wobei durch Requisiten das Allgemeine und Typische betont wird. Zur Beleuchtung und dem Szenenwechsel werden auch detaillierte Angaben gemacht. Ebenso ausführlicher fallen die Beschreibungen der handelnden Figuren aus. Sie werden vom Autor genau durch Aussehen, Stimme, Sprechweise, Handlung, Mimik und Gestik charakterlich festgelegt. Zur Figuration: Das Figurenarsenal des Stückes stammt aus dem Grimmschen Märchen. Daneben erhält Bortfeldts Bühnenfassung auch neue Figuren, nämlich zwei kluge und wohlerzogene Tiere, Katze Kritzekratze und Mäuschen Piep, den Knappen Kugelrund- Kerngesund und die gütige Baumfee Haselnuß, die ihren Namen nach dem die Handlung bei den Brüdern Grimm konstituierenden Motiv des Haselbuschs trägt. Bleiben die Figuren in der Märchenvorlage ohne Namen, so tragen die Figuren im Märchenstück entweder Namen, die aber keinerlei Individualisierung bedeuten, sondern Allerweltsnamen sind (Rosalind, Trude, Hilde), oder sie werden nach ihrer Funktion gennant (Vater, Stiefmutter). Oder aber ihre Namen drücken besondere persönliche Eigenschaften oder Erlebnisse aus. Als Beispiel sei hier nur auf den Namen des Königssohns verwiesen: Bortfeldts Prinz heißt Traurig, „denn er kann weit und breit keine Frau finden. Und das Lachen hat er auch verlernt“ (Bild 1, S. 12). Was die Charakterisierung betrifft, bleiben die Figuren im Stück (wie im Ausgangsmärchen) Typen. So ist der Charakter der Hauptfigur (Rosalind) in der Bearbeitung durch Bortfeldt genauso wie beim ursprünglichen Grimm-Märchen: Sie bezitzt keine ausgeprägte Persönlichkeit und wird als ein gutes braves Mädchen dargestellt, das von seinen Stiefschwestern (Trude und Hilde) erniedrigt und gedemütigt wird und sich somit hoffnungslos verstoßen fühlt. Unterstrichen wird ihre Hoffnungslosigkeit von der Bosheit der Stiefmutter, die ihre eigenen Töchter vorzieht und Rosalind die schwersten und schmutzigsten Küchenarbeiten verrichten lässt. Im Vergleich zu Rosalind, die im Laufe des Stückes eher eine passive Figur bleibt, entwickelt sich interessanterweise die Figur der Stiefmutter: Ihre Bosheit mildert sich im Laufe des Stückes zu einer liebevollen Haltung gegenüber Rosalind ab. Trotz der Unterdrückung, die Rosalind von Seiten ihrer Stiefmutter und Stiefschwestern erfährt, bleibt sie bescheiden, fleißig, gütig und brav. Durch ihr gutes und freundliches Wesen Anhang 337 zeigt Rosalind umso deutlicher die Fehler ihrer beiden Stiefschwestern. Das Verhalten der Schwestern steht somit in scharfem Gegensatz zu dem von Rosalind: Sie geben Kommentare im spöttischen Ton, sind unartig und lügen gerne. Auch im Charakter der Hauptfigur und ihre Gegenspielerinnen finden sich Gegensätze. Die beiden Stiefschwestern haben, wie die Stiefschwestern des Grimmschen Aschenputtel, einen negativen Charakter. Sie sind eitel, eifersüchtig und innerlilch wertlos. Mehrere Szenen in dem Stück betonen, wie grob sie sind, und beweisen, dass sie vor nichts zurückschrecken, um Rosalind zu betrügen und zu ihrem Ziel zu gelangen. Neben Gegensätzen gibt es auch Parallelen zwischen den auftretenden Figuren. Eine deutliche Parallele ergibt sich z.B. zwischen Rosalind und dem Prinzen, vor allem wegen des unglücklichen Schicksals. Festzustellen ist auch noch, dass es Parallelen zwischen der Entwicklung beider Figuren gibt. Anders als bei der Grimmschen Fassung ist hier Rosalinds Vater nicht mehr reicher Mann, sondern nur noch Hofnachtwächter im Schloss des Prinzen. Außerdem wird der Vater bei Bortfeldt anders gezeichnet. Im ursprünglichen Märchen zerstört er nach dem Wunsch des Königssohns das Taubenhaus und den Birnenbaum, im Stück hingegen hat er überhaupt keine Autorität. Der Vater, der eigentlich Beschützer seines einzigen leiblichen Kindes sein sollte, erfährt nichts von der Unterdrückung Rosalinds und denkt, dass sie mit ihren Stiefschwestern gut auskommt. Damit ist der Vater nicht im Stande dazu, Rosalind zu helfen, und kann kaum das unglückliche Schicksal Rosalinds beeinflussen. Wegen seiner untergeordneten Rolle ist der Vater also nur als Nebenfigur anzusehen. Bortfeldt benutzt die Sprache als Mittel der Figurencharakterisierung. So ist der Knappe Kugelrund-Kerngesund nach der ihm eigenen Redewendung gezeichnet. Er zeichnet sich durch den Ausdruck „das hab ich mir doch gleich gedacht“ aus. Die Typisierung der Figuren findet auch im Bereich der Funktionen statt. So treten neben den Hauptfiguren Rosalind und Prinz Traurig, die jeweils der Heldin und dem Helden des Märchens entsprechen, auch Nebenfiguren als Helfer oder Gegner. Tiere, die im Stück sowohl menschliche als auch übernatürliche Fähigkeiten und Qualitäten haben (z.B. Sprachbegabung), bleiben der Protagonistin treu und schaffen damit einen Ausgleich zu den drei bösen Stief- Personen. Katze Kritzekratze und Mäuschen Piep treten als Rosalinds einzige Freunde auf. Im Laufe des Stückes stellt sich dann heraus, dass die beiden Tiere die Helfer- und Ratgeberfigur des Märchens verkörpern, denn aus Dankbarkeit für die gewährte Schonung stehen sie Rosalind zur Seite. Wie diese sind auch die Waldtiere (Eichhörnchen, Igel und Häschen) lieb zu Rosalind und helfen ihr dabei, sich gegen ihre bösen Stiefschwestern zu wehren und das wunderschöne Kleid im Wald zu suchen (vgl. im Bild 2). Und wie auch im Grimmschen Märchen gelingt es Rosalind mit Hilfe der Tauben, die von der Stiefmutter verlangte Aufgabe zu erfüllen, also die Linsen vorzeitig zu verlesen. Durch ihren Gehorsam, ihren Fleiß und ihre Güte erringt Rosalind Anhang 338 auch die Gunst der gutmütigen Baumfee Haselnuß: Mit Hilfe des Zauberspruchs „Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich“ kann sie sich der Dienste der Fee bedienen. Im scharfen Gegensatz zu diesen Figuren agieren die Stief-Personen als Gegenspieler und Agressoren Rosalinds: Die Stiefmutter und die Stiefschwestern treten Rosalind feindlich entgegen, vor allem die älteste Schwester, Trude, die aus Neid zur Gegenspielerin der Hauptfigur wird. Die oben genannte Ausweitung des Figurenpersonals impliziert allerdings neue Funktionen. Die Funktion der am Anfang des Stückes neu eingeführten Figuren der Katze und des Mäuschens liegt beispielsweise darin, das Spiel einzuleiten: Auf einen Zauberspruch hin und dem Publikum dirigierend wird der Märchenvorhang geöffnet und damit das Bühnengeschehen eröffnet. So arrangieren die beiden Figuren die Handlung und agieren im Stück als Erzähler. Eine weitere, im Originalmärchen auch nicht erscheinende Figur steht dem braven und guten Rosalind zur Seite als Helferfigur: die Baumfee Haselnuß. Indem sich Bortfeldt auf die Fee bezieht, kann er auf das entscheidende Motiv bei den Grimms verzichten, nämlich „das weiße Vöglein“. Denn dessen Funktion ist bereits durch die Fee besetzt. Werden in der Grimms Fassung die Verwandlungen vom „weißen Vöglein“ bewirkt, so werden sie bei Bortfeldt durch die Baumfee herbeigeführt: Sie ist diejenige, die dem hoffnungslosen Mädchen kostbare, prächtige Zauberkleide und goldene Wagen herabwirft, damit es den Ball heimlich und unbekannt besuchen und mit dem Prinzen tanzen kann. Die helfende Funktion trägt bei Bortfeldt also die Fee und nicht der weiße Vogel. Auf des Königssohnes Seite tritt die dem Märchen auch fremde Figur des Knappen Kugelrund-Kerngesund, bei dem sich darstellende und erzählende Funktionen vermischen. Auf der einen Seite agiert der Knappe als treuer, helfender Diener vom Prinzen. Auf der anderen Seite agiert er aus seiner Figur heraus, wendet sich an die jungen Zuschauer und gibt Kommentare, die er sowohl als Figur als auch als Erzähler sagen kann (vgl. im zweiten Zwischenspiel). Dabei stellt sich heraus, dass der Knappe der Organisation der Handlung dient, und zwar insofern, als er als Arrangeur vom Schicksal des Prinzen wirkt. Aschenputtel Text von Hermann Wanderscheck Erschienen als Bühnenmanuskript im Deutschen Theaterverlag, Weinheim174 Autor: Hermann Wanderscheck (1907-1971) war Schriftsteller, Kritiker und Dramaturg. Vor 1933 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Hermann W. Anders Novellen. Nach 1933 war er 174 Das Stück ist auch beim Rowohlt Theater Verlag erhältlich. Anhang 339 Pressereferent der Reichsregierung, Hauptschriftleiter der Zeitschrift Der Autor und Verfasser von Titeln wie u.a. Englands Lügenpropaganda im Weltkrieg und heute (1940) und Höllenmaschinen aus England, hinter den Kulissen der Londoner Lügenhetze (1940), mit denen er der NS-Propaganda-Apparat zugerechnet wurde.175 In der NS-Zeit war Wanderscheck insbesondere als Musik-, Literatur- und Theaterkritiker mit Werken wie Deutsche Dramatik der Gegenwart (1938) und Dramaturgische Appassionata (1943) bekannt.176 Nach 1945 war er auch als Dramaturg und Theaterautor an verschiedenen deutschen Bühnen tätig. Neben dem hier besprochenen Märchenstück hat Wanderscheck in den 60er Jahren mehrere Märchenvorlagen der Brüder Grimm für das Kindertheater bearbeitet: Schneeweißchen und Rosenrot; Zwerg Huckepack, ein Märchen-Musical nach „Schneeweißchen und Rosenrot“177 (UA: 1960 Staatstheater, Braunschweig); Rumpelstilzchen (UA: 1962 Staatstheater, Braunschweig); Der Froschkönig (UA: 1964 Staatstheater, Braunschweig); Schneewittchen (UA: 1965 Städtische Bühnen, Münster). Weitere Angaben zu Person und Werk von Hermann Wanderscheck können nicht gemacht werden. Auch durch die Verlage, die das Werk von Wanderscheck vertreten, konnte keine zusätzliche Information gewonnen werden. Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Erscheinungsjahr des Stückes können nicht gemacht werden. Anhand des Aufführungsdatums und -orts (Wanderschecks Bühnenwerk wurde in den Städtischen Bühnen in Münster am 15. November 1967 uraufgeführt) lässt sich allerdings einschätzen, dass das Stück Ende der 1960er Jahre entstand. Personen: Vater Hubert; Elfi, seine Tochter, das Aschenputtel; die Stiefmutter Ulrike; ihre Töchter Suse und Sabine; Prinz Peter; Hofmeister Zickenbart; Tanzmeister Spitzbein; Bambus, der alte Hase; Bambi, das junge Reh; der goldene Vogel. Orte der Handlung: Am Grab von Aschenputtels Mutter; Aschenputtels Kammer; Werkstatt der Tiere unter dem Fliegenpilz; Schlossterrasse mit Ballsaal. 175 Im Fragebogen der Reichschrifttumskammer vom 12.02.1937 hatte Wanderscheck angegeben, er sei nicht Mitglied der NSDAP. Allerdings schrieb er dann in seinem Aufsatz „Siehst du im Osten das Morgenrot“ in Der Autor (Juli/August 1941) u.a.: „Der Führer erkannte die große gemeinsame Gefahr, die zur Auflösung Europas und zum Untergang des Abendlandes führen musste“ (Wulf 1966: 110). 176 In seinen literarischen Schriften dieser Zeit finden sich vereinzelt rassistische Äußerungen, so z.B. 1941 in der Glosse „Pen-Klub ohne Auditorium“ für den Pressedienst Das neue Europa: „In Europa kauft man ihre Pamphlete und Romane nicht mehr. In Europa weht – vor allem nach dem Krieg – ein anderer Wind und es wird für eine neue und junge europäische Kunst und Kultur gekämpft. Aber ohne Pen-Klub und ohne Juda!“ (1. Jg., Nr. 1, S. 6f.). Sie richteten sich in erster Linie gegen deutschsprachige Exilautoren, u.a. Alfred Kerr, Thomas Mann und Erika Mann (Hausmann 2004: 52). 177 Dabei handelt es sich um eine Verarbeitung des Grimmschen Stoffs unter neuem Titel. Der Zwerg ist hier Hauptfigur. Anhang 340 Zum Stück: Wanderschecks Bühnenbearbeitung liegt die bekannte Geschichte vom Aschenputtel der Brüder Grimm (KHM 21) zugrunde, also „die Erzählung von der verkannten und zu den niedrigsten Arbeiten gezwungenen Tochter“ (Scherf 1995: 41). Dargestellt wird insofern auch bei Wanderscheck die Geschichte eines als Mutterwaise aufgewachsenen Mädchens (Elfi), das von seiner Stieffamilie ständig erniedrigt und gedemüdigt und deshalb „Aschenputtel“ genannt wird. Da der Prinz heiraten soll, lässt er ein Fest auf seinem Schloss ausrichten, zu dem alle heiratsfähigen Mädchen des Landes eingeladen werden sollen, damit er eine Gemahlin wählen kann. Die eitlen Stiefschwestern gehen hin, Elfi wird es aber versagt. Die Stiefmutter gibt ihr stattdessen auf, Erbsen und Linsen aus der Asche zu lesen. Dies gelingt Elfi nur mit Hilfe von sechs gutmütigen Tauben. Zur Hilfe kommen ihr auch eine ganze Gruppe von Waldtieren und ein goldener Vogel, der Waldkönig, der im Lebensbaum wohnt. Von ihm bekommt Elfi ein prächtiges Kleid und silberne Pantoffeln, damit sie heimlich und unerkannt den Ball des Prinzen besuchen kann. Bevor sie zum Ball losgeht, wird sie noch ermahnt, dass sie vor Mitternacht zurückkommen soll, denn um zwölf ist der Zauber vorbei. Auf dem Fest tanzt der Prinz nur mit ihr. Er verliebt sich in sie und möchte wissen, wer die schöne Unbekannte ist. Doch mit einer List gelingt es Elfi ihm zu entkommen. Auf der Flucht bleibt einer ihrer silbernen Pantoffeln an der Freitreppe hängen. Am nächsten Tag beginnt die Suche nach dem unbekannten Mädchen. Alle Mädchen, die auf dem Ball waren, sollen den Pantoffel anprobieren. Der Prinz will nur die heiraten, der der Schuh passt. Die Stiefmutter hackt der älteren Stiefschwester die Zehe ab, aber die Tauben machen den Prinzen darauf aufmerksam, dass Blut im Schuh ist. Der jüngeren Stiefschwester geht es ähnlich, nur dass die Mutter ihr die Ferse abhackt. Der Prinz selbst geht dann zum goldenen Vogel und sagt, er wolle wissen, wer das Mädchen ist und wo sie wohnt. Da der Vogel der Beschützer aller Liebenden ist, stellt er dem Prinzen drei Fragen, um zu wissen, ob seine Liebe zum unbekannten Mädchen ehrlich ist. Elfi muss sich dann der Schuhprobe stellen. Ihr passt tatsächlich der Schuh und die Tauben bestätigen, dass sie die richtige Braut ist. In Wanderschecks Bühnenbearbeitung finden sich alle wesentlichen Motive des Grimmschen Aschenputtel-Märchens versammelt, und zwar von der Auflage von 1857, d.h. gestorbene Mutter, böse Stiefmutter und neidische Schwestern, gesellschaftliche Erniedrigung, Wunderbäumchen (das Lebensbaum), Aufgabenstellung (die Erbsen- und Linsenauslese), Unterstützung eines übernatürlichen Helfers (des goldenen Vogels, der Elfi/Aschenputtel manchen Wunsch erfüllt), Brautwahl, kostbarer Schuh, Schuhprobe und Heirat mit dem Königssohn. Daneben werden auch Elemente aus einer früheren veröffentlichten Fassung des Märchens übernommen. Dazu zählt der Teil, in dem Elfi ermahnt wird, vor Mitternacht vom Ball zurückzukommen, denn um zwölf sei der Zauber vorbei. Außerdem ist in Wanderschecks Märchenstück eine Zuspitzung der fabelhaften Elemente zu verzeichen, z.B. durch das Hinzufügen weiterer übernatürlicher Helfer (die Waldtiere, darunter der alte Hase Bambus und Anhang 341 das Reh Bambi als Untertanen des goldenen Vogels) sowie den Einsatz magischer Mittel: die goldene Feder erweist sich für Elfi als Zauberding von großem Nutzen. Die Stückhandlung wird in 7 Szenen, die jeweils vor einem Zwischenvorhang im vorderen Bühnenraum spielen und zur Ãœberblendung für den Umbau dienen, und 9 Bildern dargeboten.178 178 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –Auftritt der sechs Tauben (S. 2) Die Tauben treten vor den Zwischenvorhang auf und sprechen im Chor das Publikum an: Sie eröffnen mit dem „Lied der Tauben“ das Bühnengeschehen und leiten damit das Spiel ein. Dabei erfolgt u.a. die für das Verständnis der Handlung notwendige Charakterisierung der Hauptfigur. –„Erste Szene“ (S. 3) Sie spielt vor dem Zwischenvorhang. Hofmeister Zickenbart und Tanzmeister Spitzbein, zwei Minister vom Prinzen Peter, werden eingeführt und karikiert dargestellt – in dieser Szene steht die karikaturhafte Charge des überforderten Tanzmeisters im Vordergrund. Es stellt sich die Rivalität zwischen den beiden Figuren heraus. Sie sind mit dem Hochzeitsball beschäftigt. Prinz Peter wird eingeführt. Zickenbart informiert ihn über ein schönes Mädchen, das jeden Tag durch den Wald geht und immer traurig aussieht. Der Prinz schickt die beiden Minister aus, damit sie alle schönen und klugen Mädchen zum Ball einladen. –„Erstes Bild“ (S. 3-5) Es spielt in einer Waldszenerie, am Grab von Aschenputtels Mutter, in der Dämmerung. Zwei Waldtiere, der alte Hase Bambus und das junge Reh Bambi, werden eingeführt und als treue Freunde dargestellt. Analog zum „Lied der Tauben“, das zur Charakterisierung der Hauptfigur dient, verdeutlicht der Dialog zwischen diesen beiden Figuren den Charakter von Aschenputtels Antagonistin, der Stiefmutter. Aschenputtel kommt zum Grab (Motiv der gestorbenen Mutter) und erzählt über ihr tristes Leben: Sie muss wegen der bösen Stiefmutter und deren überheblichen Töchtern alles Herzeleid erleiden. Unter Lichteffekten tritt ein goldener Vogel, der Waldkönig, aus dem Lebensbaum hervor (Motiv vom Wunderbäumchen). Er gibt Aschenputtel eine goldene Feder, die sie benutzen darf, wenn sie in allergrößter Not ist. –„Zweite Szene“ (S. 5) Vor dem Zwischenvorhang, am Vormittag. Die Szene bringt wenig Handlung. Zwei Figuren werden eingeführt: Hubert (Aschenputtels Vater) und Ulrike (die Stiefmutter). Er wirkt gutmütig, sie dagegen grausam und herzlos. –„Zweites Bild“ (S. 6-8) Es spielt in Aschenputtels Kammer gegen Mittag. Der Akzent des Bildes liegt auf der Schikane, die Aschenputtel erdulden muss: Die Stiefmutter und ihre Töchter, Suse und Sabine, verspotten sie; und als der Vater mit Geschenken nach Hause kommt (Schmuckstücke und Kleider für die Stieftöchter; eine Silberkette für Aschenputtel), wirft die Stiefmutter Aschenputtels Geschenk ins Feuer (Motiv vom verreisenden Vater). Im Mittelpunkt des Bildes steht die Ãœberbringung der Einladung des Königs an die Stiefschwestern. Es wird gezeigt, wie der Tanzmeister mit der Nachricht vom Schloss kommt. Er lädt die beiden Stieftöchter zum Ball ein, der in drei Tagen im Schloss stattfindet (Motiv der Brautwahl). Er erfährt nicht, dass es auch Aschenputtel gibt. Die Stiefmutter quält Aschenputtel: Sie darf auch zum Ball mitgehen, aber nur wenn sie die Erbsen und Linsen, die die Stiefmutter in die Asche schüttet, bis zum folgenden Abend herausliest (Motiv der Aufgabe). Mit Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel, die Erbsen und Linsen aus der Asche zu lesen („Lied der Tauben“). –„Dritte Szene“ (S. 8) Vor dem Zwischenvorhang. Bambus, der in eine Falle der Stiefmutter geraten ist, und Bambi wollen Aschenputtel ein schönes Ballkleid nähen und silberne Pantoffeln machen, damit sie zum Tanz gehen kann. –„Drittes Bild“ (S. 8-10) Es spielt in der Werkstatt der Tiere. Das Bild zeigt die Zusammenarbeit der Waldtiere, die sich durch Solidarität und Disziplin auszeichnet. Nachdem Bambus vom Igel geheilt wird, machen sich die Tiere an die Arbeit, den Stoff fürs Tanzkleid auszusuchen, aber können sich nicht einigen. Unter Lichteffekten tritt der goldene Vogel wieder hervor. Er bringt ein Kleid, einen Fächer, eine Perücke, ein Spitzentaschentuch, ein Halsband und Pantoffeln mit. Die Tiere machen sich an die Arbeit, das Tanzkleid fertig zu nähen, damit Aschenputtel zum Ball gehen kann. Um den Umbau zum nächsten Bild zu überbrücken, setzt sich das Ballett der Waldtiere und der drei Tauben fort. –„Viertes Bild“ (S. 10-12) Es spielt in Aschenputtels Kammer vor Sonnenuntergang. Das Bild spielt am Tag, an dem der Ball im Schloss stattfindet. Aschenputtel, die mit Hilfe der Tauben die Arbeit vollbracht hat, denkt, dass die Stiefmutter sie zum Ball mitnehmen wird. Sie hilft den Stiefschwestern Anhang 342 dabei, sich für das Fest fein zu machen, aber mitgehen darf sie nicht, weil sie kein schönes Kleid hat. Stattdessen soll sie im Haus bleiben und Erbsen und Linsen aus der Asche lesen (Motiv der Aufgabe). Aschenputtel holt die goldene Feder hervor und hält sie in die Höhe. Vom goldenen Vogel geschickt tritt Bambi auf und gibt Aschenputtel das schöne Kleid und alles, was dazu gehört. Bambi hilft ihr beim Anziehen. So kann sie heimlich und unerkannt den Ball besuchen. Die Exposition wird mit diesem Bild abgeschlossen. Damit ist die entscheidende Information gegeben, aus der sich die weitere Handlung entwickelt. –„Vierte Szene“ (S.12) Vor dem Zwischenvorhang. Bambi führt Aschenputtel durch den Wald ins Schloss. Das gutmütige Tier warnt ihr davor, dass als es Mitternacht schlägt, muss sie den Ball verlassen. Sonst fallen die schönen Kleider von ihr ab und sie ist verraten. –„Fünftes Bild“ (S. 12-15) Es spielt auf der Terrasse, im königlichen Schloss, am Abend. Das Bild bringt viel Spannung. Diese wird auf den zwölften Glockenschlag verlagert, als Aschenputtel den Ball verlassen muss. Es finden auch einige komische Situationen statt. So stellt sich die Ungeschicklichkeit Suses beim Tanzen heraus, als der Tanzmeister versucht, ihr einen Walzer beizubringen; oder Suse wahrt den Anstand nicht und wirkt nicht standesgemäß, als sie sich unter den Tisch beugt und ihre Schuhe auszieht; ebenso die Perückenwechsel-Szene, bei der der Tanzmeister mit dem Hofmeister zusammenstößt, beide ihre Perücke verlieren, sich kahlköpfig ansehen und die verkehrte Perücke greifen. Aschenputtel kommt ins Schloss. Bambi bleibt in ihrer Nähe, um sie zu beschützen. Der Prinz geleitet Aschenputtel auf die Terrasse, niemand erkennt sie. Der Prinz fordert Aschenputtel zum Tanzen auf. Stiefmutter und -schwestern geben sich neidisch. Als die Uhr auf zehn vor zwölf rückt, gelingt es Aschenputtel durch eine List, dem Prinzen zu entkommen. Aber auf der Flucht verliert sie einen Pantoffel, den der Prinz findet (Motiv vom kostbaren Schuh). Zickenbart und Spitzbein nehmen die Suche nach dem wunderschönen Mädchen auf. –„Fünfte Szene“ (S. 15) Vor dem Zwischenvorhang. Bambi führt Aschenputtel nach Hause. Im Wald kleidet sie sich um. –Sechstes Bild (S. 15-17) Es spielt in Aschenputtels Kammer bei Morgendämmerung. Das Bild bringt wenig Handlung. Es zeigt, wie Vater, Stiefmutter und -töchter vom Ball zurückkommen. Die Stiefschwestern streiten und lügen beim Referieren der Erlebnisse. Der Vater erzählt Aschenputtel, wie es eigentlich auf dem Ball war. Hier besitzen die Zuschauer gegenüber dem Vater einen Informationsvorsprung, der notwendig ist, damit die jeweilige Situation zu einer dramatisch spannenden wird: Das Publikum weiß schon, wer das wunderschöne Mädchen ist. Aschenputtel wendet sich an die zuschauenden Kinder und bringt ihre Verzweiflung ins Gespräch. –„Sechste Szene“ (S. 17) Vor dem Zwischenvorhang. Der Prinz, Zickenbart und Spitzbein überlegen, wie sie dem geheimnisvollen Mädchen auf die Spur kommen. Zickenbart kommt auf die Idee, dass alle Mädchen, die auf dem Ball waren, den Pantoffel anprobieren sollen. Die Schuhprobe soll auf der Terrasse stattfinden (Motiv der Probe). –„Siebtes Bild“ (S. 17-19) Es spielt auf der Schlossterrasse. Mit diesem Bild beginnt die spannende Suche nach dem unbekannten Mädchen, die mit der Schuhprobe des letzten Bildes endet. Die Schuhprobe beginnt. Spannung zieht sich durch das Bild. Bis Suse dran ist, erfolgen retardierende Spannungsmomente, indem drei Damen den Schuh anprobieren. Bei der Anprobe stellt sich heraus, dass der Schuh zu klein für Suse ist. Um ihr Glück zu machen, schneidet die Stiefmutter ihr die Zehe ab. Aber die Tauben bezeugen den Betrug. Weitere retardierende Spannungsmomente erfolgen bis Sabine dran ist: Weitere Balldamen probieren den Schuh an. Als Sabine auf die Pantoffelprobe gestellt wird, stellt sich wieder heraus, dass der Pantoffel zu klein ist. Damit sie Königin wird, schneidet die Stiefmutter ihr die Ferse ab. Aber die Tauben bezeugen den Betrug wieder. –„Siebte Szene“ (S. 19-20) Vor dem Zwischenvorhang. In dieser Szene findet ein weiteres retardierendes Spannungsmoment statt. Bambus nimmt Kontakt mit dem Publikum auf und bringt sein Alter ins Gespräch, während er seine Brille putzt. Dann tritt Bambi auf und sagt, der Prinz ist im Wald und sucht Aschenputtel. Die beiden Tiere agieren als Helfer: Sie dürfen dem Prinzen nicht sagen, wo er Aschenputtel finden kann, denn der goldene Vogel hat es verboten. Doch stattdessen zeigen sie ihm den Weg zum goldenen Vogel. –„Achtes Bild“ (S. 20) Es spielt in einer Waldszenerie in der Abenddämmerung. Das ganze Bild bildet ein weiteres retardierendes Moment, das das glückliche Ende verzögert. Es zeigt, wie der Prinz zum Taubenhaus kommt, wo der goldene Vogel wohnt. Nach der Beendigung des Tanzes „Ballett der Waldvögel“ tritt der goldene Vogel unter Lichteffekten aus dem Lebensbaum hervor. Da er der Anhang 343 Dramaturgisch ist Wanderschecks Märchenstück klassisch aufgebaut, d.h. mit Exposition, Schürzung des Knotens, aufsteigender Handlung, Peripetie, retardierendem Moment und Lysis. Die Exposition zieht sich über die drei ersten Szenen hin und ist mit dem 4. Bild abgeschlossen. Das 5. Bild bildet den Mittelpunkt der Geschichte: Es bringt viel Spannung und Aktion, und führt zu einer glücklichen Wendung im Schicksal der Protagonistin, als sie den Ball heimlich und unerkannt besuchen und mit dem Prinzen tanzen kann. Bis zur erfolgreichen Konfliktlösung finden einige Ereignisse statt, die als retardierende Spannungsmomente gewertet werden können. So wird durch die Schuhprobe der Stiefschwestern das glückliche Ende verzögert (7. Bild), oder auch durch das Erscheinen des Prinzen vor dem goldenen Vogel (8. Bild). Zum dramatischen Höhepunkt der Handlung gestaltet sich die Schuhprobe (9. Bild), auf die die Hauptfigur gestellt wird. Als Abschluss ist die Versöhnung der beiden Stiefschwestern mit der Protagonistin und die sich anschließende Hochzeit mit dem Prinzen zu nennen. Im Verhältnis zur erzählerischen Vorlage erfährt die Handlung bei Wanderscheck Variationen sowohl als Reduktion als auch umgekehrt als Erweiterung. Im Hinblick auf den dreigliedrigen Aufbau wird so stark reduziert: Bei den Brüdern Grimm geht Aschenputtel dreimal zum Ball, bei Wanderscheck hingegen nur einmal. Das Originalmärchen wird wiederum durch neue Handlungen erweitert. Dazu gehören etwa die Szenen in der Werkstatt der Tiere (3. Bild) sowie diejenigen auf dem Ball mitsamt den von den Hofbeamten verursachten komischen Situationen (5. Bild). Zu den Erweiterungen gehört auch das Erscheinen des Prinzen vor dem goldenen Vogel (8. Bild): Hier stellt der goldene Vogel den Prinzen drei Fragen, um seine Liebe zu Aschenputtel zu testen. In einem weiteren Aspekt variiert Wanderscheck das ursprüngliche Märchen, insofern als er auf die Ãœbernahme des Märchenschlusses verzichtet: Während in der Märchenvorlage die Stiefschwestern am Ende bestraft werden, indem ihre Augen durch die weißen Vögel ausgepickt werden, steht am Ende des Stückes die Versöhnung der Stiefschwestern mit der Protagonistin (9. Bild). Die Handlung wird nicht linear entwickelt, d.h. das Bühnengeschehen wird stellenweise für kurze Augenblicke durchbrochen, und zwar durch Tanzeinlagen, Lieder und direkte Ansprachen Beschützer aller Liebenden ist, stellt er dem Prinzen drei Fragen, um zu wissen, ob seine Liebe zu Aschenputtel ehrlich ist. Dann erfährt der Prinz, wer das Mädchen ist und wo sie wohnt. –„Neuntes Bild“ (S. 21-23) Es spielt in Aschenputtels Kammer bei Morgendämmerung. Die Handlung gipfelt in dem Höhepunkt. Der Akzent des Bildes liegt auf der Versöhnung zwischen Stiefschwestern und Aschenputtel, der Schuhprobe und dem Happy-End der Hauptfiguren, das den Abschluss der Handlung bildet. Während Aschenputtel ihre Stiefschwestern vom Schmerz heilt, bitten diese Aschenputtel um Entschuldigung für die Gemeinheiten, die sie ihr angetan haben, und versöhnen sich wieder mit ihr. Die Stiefmutter bleibt in ihrer Negativ-Zeichnung als Feindbild bestehen. Der Prinz kommt zum Försterhaus. Aschenputtel muss sich der Schuhprobe stellen. Der silberne Pantoffel passt ihr und die Tauben weisen Aschenputtel als die richtige Braut aus. Der Prinz nimmt sie zur Frau. Zum glücklichen Ende findet ein kleines Ballett der sechs Tauben um Aschenputtel und den Prinzen statt. Anhang 344 ans Publikum. Damit zerfällt nicht nur die Handlungseinheit. Diese Aspekte deuten auch auf die Tendenz zur Episierung im Bereich der Handlungsentwicklung hin. Das geschieht vor allem durch spielinterne Figuren. So weist der prologähnliche Eingang (im Chor gesprochen von den sechs Tauben) eine Inhaltsankündigung als Erzählertext auf. Dabei werden dem Publikum die für das Verständnis der Handlung notwendigen Informationen vermittelt. Als weitere spielinterne Figuren mit episierenden Funktionen sind auch die Protagonistin (Elfi) und der Hase Bambus hervorzuheben. Im Vergleich zu den Tauben nehmen beide Gestalten eine Zwischenstellung im Stück ein: Zum einen sind sie direkt in die Handlung integriert, zum anderen fallen sie aus der Rolle für einen kurzen Moment und nehmen Kontakt mit den zuschauenden Kindern auf. Dadurch werden die jungen Zuschauer mitten ins Spielgeschehen hineingezogen. Doch gleichzeitig – und paradoxerweise – wird ihnen die Fiktionalität des Stückes bewusst, was eine Distanzierung vom Bühnengeschehen bewirkt. Eine distanzierende Wirkung auf die Zuschauer hat auch der Einbau von zahlreichen Tanzszenen, wie z.B. die am Ende des 3. Bilds Ballett-Einlage, „um den Umbau zum nächsten Bild zu überbrücken“ – so die Anweisung des Autors im Nebentext – sowie das Ballett der Waldvögel im 8. Bild und das Ballett der sechs Tauben zum glücklichen Ende im 9. Bild. Spannungshöhepunkte der Handlung werden durch das Einhalten der Einheit der Zeit markiert, die die Spannung auf den zwölften Glockenschlag verlagert, als die Protagonistin den Ball verlassen muss (5. Bild). Spannung zieht sich auch durch die darauffolgenden Szenen und Bilder, als die Suche nach dem unbekannten Mädchen beginnt. Seine Spannung erhält das Stück gerade aufgrund des Wissensvorsprungs der jungen Rezipienten gegenüber den handelnden Figuren. Von Anfang an kennen nämlich die Zuschauer die Identität des unbekannten Mädchens, das den Ball besucht und mit dem Prinzen getanzt hat. Dieser Informationsvorsprung ist notwendig, damit die Handlung zu einer dramatisch spannenden wird. Um die Spannung immer weiter zu steigern, wird dann auch noch der Ereignisablauf unterbrochen, indem retardierende Momente eingesetzt werden. Gleichzeitig wird aber auch die Einheit der Zeit zerstört, indem es im Stück Zeitsprünge und Beschleunigungen zu verzeichnen sind. So vergehen plötzlich drei Tage zwischen dem 3. und dem 4. Bild. Und im 5. Bild vergehen, so die Bühnenanweisung, vier Stunden wirklich schnell. Im Stück liegt also eine offene Zeitstruktur vor: Die reale Spielzeit stimmt nicht mit der fiktiven gespielten Zeit überein. Dem Bühnentext geht eine detaillierte Figurencharakterisierung voraus. Neben der Zeitfixierung (Rokoko-Zeit) bestimmt Wanderscheck hier exakt die Art und Weise der Auftritte und Bühnenaktionen der Figuren. Sie werden auch genau durch Aussehen, Stimme, Sprechweise und Kostüm festgelegt. Laut Regieanweisung sind die Kostüme entsprechend der Rokoko-Zeit zu stilisieren. In den einleitenden Worten des Autors folgen auch präzise Anhang 345 Anmerkungen für den Regisseur zu Szenenaufteilung, Dekorationen, Auftritten der Figuren und Balletteinlagen. Das Bühnenbild variiert je nach Handlungsstand. Für die sieben Szenen und neun Bilder sind ausführliche Regieanweisungen mit detaillierten Angaben zum Bühnenbildentwurf versehen. Die Beschreibungen der Bühnenbilder sind immer um eine möglichst lebendige Darstellung der jeweiligen atmosphärischen Stimmung bemüht. Auch Geräusche und Lichtverhältnisse auf der Bühne werden vom Autor angegeben. Im allen Szenen und Bildern vorangesetzten Nebentext bestimmt der Autor außerdem die Darstellungsart der Figuren mit äußerster Genauigkeit. Zur Figuration: Wie die Personenauflistung am Anfang des Bühnentexts erkennen lässt, benutzt Wanderschecks Märchenstück alle Figuren, die für das Grimmsche Märchen charakteristisch sind. Dem Stück werden aber auch völlig neue Figuren hinzugefügt. Als deutliche Einfügungen sind die Waldtiere, der Hofmeister Zickenbart und der Tanzmeister Spitzbein zu verzeichnen. Das Stück enthält streotype und kontrastierend gestaltete Figuren. Sie lassen sich in diesem Sinne in zwei unterschiedliche Gruppen, also in Gut und Böse konventionell einteilen. Ãœberhaupt lässt diese Kontrastierung die Figuren lediglich als Träger bestimmter Verhaltensmuster auftreten. Die mit guten und positiven Eigenschaften ausgestatteten Figuren bilden die größte Gruppe. Dazu gehören Elfi, ihr Vater, der Prinz und die Waldtiere. Elfi, die Hauptfigur und Heldin des Stückes, ist bei Wanderscheck ein gedemütigtes Mädchen aus erster Ehe eines Försters. Sie vereinigt alle positive Züge in sich: Sie ist brav, bescheiden, folgsam und liebreizend. Sie verknüpft alle Szenen, ihr Schicksal bildet eigentlich den Mittelpunkt der Handlung. Elfis Schicksal ist das eines traurigen, hilflosen Mädchens: Sie ist die ärmste Magd im Haus und wird Aschenputtel genannt, weil sie immer staubig und schmutzig aussieht; außerdem wird sie von der Stiefmutter ungerecht behandelt und hart bestraft, und von ihren Stiefschwestern schikaniert. Deren einzige Freunde sind die Tiere des Waldes. Die Fürsorge der Tiere, besonders des goldenen Vogels, bewirkt eine entscheidende Entwicklung und Veränderung von Elfis unglücklichem Schicksal. Elfis Vater erscheint als ein gutmütiger, sympatischer Mann. Allerdings wirkt er zu schwach, um sich seiner Frau gegenüber zu behaupten: Er muss vor der Autorität seiner Frau „immer klein beigeben“ – so Wanderschecks Beschreibung auf der Besetzungsliste –, aber nur solange, bis das Unrecht reicht. Dann gibt er sich streng und autoritär (vgl. im 9. Bild, S. 22). Der Prinz wird wie Elfi als liebenswerte, gute Person charakterisiert. Im Vergleich zur erzählerischen Vorlage wird er stärker gezeichnet, denn im Stück unternimmt er die Suche nach dem unbekannten Mädchen. Die Waldtiere vertreten eine hierarchisch geordnete Welt, die vom goldenen Vogel regiert wird. Der Hase Bambus und das Reh Bambi sind auch dominierende Figuren. Die Tiere erfüllen Anhang 346 unterschiedliche Funktionen. Zum einen sorgen sie dafür, dass die Handlung weiterkommt und zu einem guten Ende geführt wird. Zum anderen stellen sie, entweder individuell oder als Kollektiv, die märchenhafte Funktion des Helfers dar. Den mit positiven Merkmalen ausgestatteten Figuren stehen die Stiefmutter und ihre beiden Töchter gegenüber. Sie zeichnen sich nur durch negative Eigenschaften aus und bilden damit die Gruppe der bösen Gestalten. Die Stiefmutter ist eindeutig die Autoritätsperson in der Familie. Sie verkörpert die Grausamkeit, steht für Herrschsucht und nutzt ihre Stieftochter aus. Sie bedient sich ihrer eigenen Töchter, die ihr zur Seite stehen. Diese werden als dumm und schnippisch dargestellt. Bosheit und Neid kennzeichnen beide Töchter. Sie sind sich nicht einig, aber wenn es gegen Aschenputtel geht, dann stimmen sie immer miteinander überein. Im Vergleich zur herrischen Stiefmutter zeigen die beiden Stiefschwestern eine Entwicklung: Während am Ende des Stückes eine Versöhnung der Stiefschwestern mit Aschenputtel erfolgt, bleibt die Stiefmutter in ihrer Negativ-Zeichnung als Feindbild bestehen. Abgesehen von der kontrastiven Figurenkonstellation, die die Rollen in gut oder böse aufteilen lässt, ist im Stück auch noch eine Gruppe von komischen Figuren zu verzeichnen. Dazu gehören der Hofmeister Zickenbart und der Tanzmeister Spitzbein. Beide sind lächerliche Gestalten und werden somit karikiert dargestellt. Ihre Namensgebung trägt auch zu ihrer Komik bei. Sie treten als Rivalen auf und werden mit ihrer Geltungssucht und Selbstüberschätzung der Lächerlichkeit preisgegeben. Aschenputtel Ein Märchen in fünf Bildern nach den Brüdern Grimm Text von Georg Weth Erschienen ca. 1975 bei der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt Autor: Georg A. Weth, 1936 in Fürth (Bayern) geboren und in Nürnberg aufgewachsen, hat sich als Autor von zahlreichen Büchern und als Theatermann in Deutschland und im Ausland einen Namen gemacht. Der aus einer Schreinerfamilie stammende Weth studierte Schauspielkunst in München. Nach Abschluss des Studiums bekam er sein erstes Theaterengagement an den Städtischen Bühnen Nürnberg-Fürth in einer Inszenierung des Märchens Rumpelstilzchen (UA: 9. Dezember 1955, Stadttheater Fürth). 1959 übergab der damalige Leiter der „Salzburger Mysterienspiele“, Ludwig Drexler, ihm die Leitung der Städtischen Bühnen Nürnberg. Mit 23 war Weth seinerzeit der jüngste Theaterleiter im deutschsprachigen Raum. 1963 erhielt er dann das Angebot, im Kurort Sankt Blasien im Schwarzwald das erste Sommertheater Baden- Württembergs aufzubauen. Hieraus entstand später das Kammerschauspiel St. Blasien. Dieses verbuchte derart große Erfolge, dass sich Weth dazu entschloss, das Tourneetheater namens Anhang 347 „Badische Kammerschauspiele“ zu gründen, das 1993 in „Deutsche Kammerschauspiele“ umbenannt wurde. Seitdem obliegt ihm deren künstlerischen Leitung. Weth kann auf zahlreiche Theaterproduktionen zurückblicken. Er hat, außer Erich Kästners Ein guter Weihnachtsmann namens Studienrat Koch, rund dreißig klassische Märchen – vor allem der Brüder Grimm – dramatisiert, daneben auch Hörspiele, Musicals und Theaterstücke geschrieben, u.a. das im Jahre 1971 in den Medien und der Kirche viel diskutierte sexualpädagogische Jugendstück Barbara liebt. Darüber hinaus ist Weth auch als Buchautor in Erscheinung getreten. Seine bisher erschienenen Bücher – teilweise in verschiedene Sprachen übersetzt – finden große Anerkennung. Seit Juni 2000 lebt und arbeitet Weth in Endingen am Kaiserstuhl (Baden- Württemberg). Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Erscheinungsjahr des Stückes können nicht gemacht werden. Anhand der im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek angegebenen Jahreszahl lässt sich allerdings feststellen, dass das Stück ca. 1975 bei der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten in Norderstedt als unverkäufliches Manuskript erschien. Zur Premiere konnten keine dementsprechenden Daten gefunden werden. Auch bei der VVB gibt es leider keine validen Informationen, was Uraufführungsort und -jahr betrifft. Personen: Aschenputtel; 1. Tochter; 2. Tochter; Mutter; König; Märchenerzähler, zugleich Herold und Zeremoniemeister. Orte der Handlung: Küche; Vorhalle zum Königssaal. Zum Stück: Weths Märchenstück basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 21). Die Handlung folgt im Wesentlichen der Vorlage: Ein gutes Mädchen verliert seine Mutter. Bald darauf heiratet ihr Vater eine andere Frau, die zwei wertlosen und nichtswürdigen Töchter mit ins Haus bringt. Stiefmutter und Stiefschwestern spielen dem Mädchen übel mit: Es muss als Küchenmagd dienen und wird Aschenputtel genannt. Als der Vater einmal zu einem Markt reisen will, fragt er die drei Mädchen, was er ihnen mitbringen soll. Während die Stiefschwestern Kleider und Edelsteine verlangen, wünscht sich Aschenputtel nur einen kleinen Zweig Haselreis, der dem Vater auf der Rückreise an den Hut stößt. Diesen Haselreis pflanzt Aschenputtel auf das Grab der Mutter, und er wächst zu einem Baum, auf dem eine weiße Taube erscheint, die ihr manchen Wunsch erfüllt. Der König lässt bald darauf auf seinem Schloss ein dreitägiges Fest ausrichten, zu dem alle Jungfrauen des Landes eingeladen werden, damit er eine Gemahlin wählen kann. Die Stiefmutter will nicht, dass Aschenputtel auch an dem Fest teilnimmt, obwohl sie darum bittet. Sie gibt ihr stattdessen zweimal auf, Linsen aus der Anhang 348 Asche auszusortieren. Dies gelingt Aschenputtel beide Male mit Hilfe der von ihr herbeigerufenen Tauben. Trotz des Lösens der gestellten Aufgabe verweigert ihr die Stiefmutter weiterhin die Teilnahme am Ball mit der Begründung, dass Aschenputtel keine geeigneten Kleider habe, und zieht mit ihren leiblichen Töchtern los. Nun eilt Aschenputtel zum Grab der Mutter. Hier ist es die weiße Taube, die Aschenputtel ein prächtiges Kleid und mit Silber bestickte Schuhe hinunterwirft. Aschenputtel legt diese Kleidung an, läuft zum Fest und mischt sich unerkannt unter die Gäste. Der König verliebt sich in das Mädchen und möchte wissen, wer diese schöne Unbekannte ist – doch zweimal gelingt es Aschenputtel, ihm zu entkommen: Am ersten Abend springt sie in ein Taubenhaus, am zweiten auf einen Birnbaum. Beim dritten Mal verliert sie jedoch einen ihrer Schuhe auf der Schlosstreppe, und der König lässt nach dem Mädchen suchen, dem dieser Schuh passt, damit er es als Braut heimführen könne. Der König forscht auch im Haus Aschenputtels nach. Die beiden Stiefschwestern versuchen vergebens, den zierlichen Schuh über ihre Füße zu ziehen. Auf den Rat der Mutter hin schneidet sich die erste die Ferse ab und die zweite den großen Zeh. Beides Mal wird der Betrug jedoch durch die weiße Taube vom Haselbäumchen aufgedeckt. Aschenputtel, der als einzige der Schuh passt, wird schließlich als wahre Braut erkannt. Der Gegenüberstellung zwischen erzählerischer Vorlage und dramatischem Text ist es tatsächlich zu entnehmen, dass Weth sich offenbar sehr bemüht hat, so dicht wie möglich am Original zu bleiben. Das Märchenstück greift insofern auf die zentralen Motive des Märchens der Brüder Grimm zurück, vom Motiv der bösen Stiefmutter und der zwei neidischen Stiefschwestern über die Motive vom Wunderbäumchen und den Aufgaben bis zu den Motiven der Brautwahl, der Schuhprobe und der Heirat mit dem König. Das strukturelle Gerüst der Grimms Erzählung, nämlich die Dreizahl wird auch bei Weth beibehalten: Es gibt drei Feste im königlichen Schloss; Aschenputtel begibt sich dreimal zum Wunderbäumchen und bittet um Kleidung für den Ballbesuch; es findet eine dreifache Begegnung zwischen Aschenputtel und König statt; dreimal gelingt es Aschenputtel, dem König zu entkommen; die Schuprobe findet dreimal statt und dreimal spricht die weiße Taube ihr Urteil. Der Schluss ist aber im Vergleich zum Märchen der Brüder Grimm anders. Zwar kommt die Geschichte bei Weth gut aus, aber der glückliche Ausgang wird durch kein Urteil an den Gegenspielern, also den falschen und neidischen Schwestern getrübt. Sie werden gar nicht bestraft. Trotz der Nähe zur Märchenvorlage haben wir es bei Weths Bearbeitung mit einer sehr knappen Bühnenfassung des Grimmschen Aschenputtel-Märchens zu tun. Es gibt keine künstlichen Verlängerungen. Vielmehr wird auf der Ebene des Dargestellten der Umfang der Geschichte der Märchenvorlage reduziert, und zwar dadurch, dass bestimmte Handlungsphasen nicht szenisch dargestellt, sondern von einem Märchenerzähler narrativ nachgetragen werden. Anhang 349 Dazu zählt z.B. der Teil, in dem das Mädchen seine gute und geliebte Mutter verliert und sein Vater wieder heiratet, wie auch die Episode, in der der Vater zum Markt geht, von wo er mit Geschenken nach Hause zurückkehrt. Weitere Schlüsselstellen des Ausgangsmärchens (z.B. Aschenputtels Verwandlungen unter dem Wunderbäumchen sowie die zweite und dritte Begegnung mit dem König auf dem Fest) werden auch über den Bericht des Märchenerzählers sprachlich-narrativ vermittelt. Die bekannte Grimm-Geschichte wird bei Weth in 5 Bildern dargeboten.179 Was also den Aufbau des Dargestellten und die Dramaturgie betrifft, so zieht sich die Exposition über die 179 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –Auftritt des Märchenerzählers (S. 5-6) Der Märchenerzähler betritt die Bühne. Er kommt vor den Vorhang und spricht das Publikum an, indem er sich selbst vorstellt und seine Rolle als Märchensammler und -erzähler des Königs Roland der Starke präsentiert. Er sagt, der König habe ihm erlaubt, das Märchen, das er persönlich erlebte, weitererzählen zu dürfen. Anschließend beginnt er mit dem Erzählen vom Aschenputtel-Märchen, und zwar mit der Episode der sterbenden Mutter. Dabei erfolgt auch die für das Verständnis der Handlung notwendige Charakterisierung der Stiefmutter und ihrer beiden Töchter. –„Erstes Bild“ (S. 7-14) Es spielt am hellen Tag in der Küche des Hauses, in der das Mädchen mit ihrer Stiefmutter und deren beiden Töchter ist. Man sieht ein „stehendes Bild“; die Szene lebt nur, wenn der Märchenerzähler nach der Reaktion des Publikums dreimal in die Hände klatscht. Die Figuren (Stiefmutter, Stiefschwestern und Aschenputtel) werden eingeführt. Die Stiefmutter und ihre beiden Töchter wirken herzlos, heimtükisch und spöttisch; Aschenputtel träumerisch und schüchtern. Der Schwerpunkt des Bildes liegt auf der Schikane, die Aschenputtel erdulden muss: Sie wird verspottet und ausgelacht und zu einer Kügenmagd erniedrigt. Die Stiefmutter und ihre Töchter quälen dann Aschenputtel: Sie muss für sie Linsensuppe kochen, aber nur wenn sie die Linsen, die die 2. Stieftochter in die Asche schüttet, herausliest (Motiv der Aufgabe). Die Szene erstarrt, indem der Märchenerzähler erscheint und dreimal in die Hände klatscht. Nachdem die Schauspieler die Bühne verlassen haben, nimmt der Märchenerzähler den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf, indem er im Rückgriff auf Vergangenes über Aschenputtels tristes Leben erzählt, sowie über den Teil, in dem der Vater zum Markt geht, von wo er mit Geschenken nach Hause zurückkehrt (Motiv vom verreisenden Vater): Er bringt Edelsteine und Kleider für die Stieftöchter und einen Haselnusszweig für Aschenputtel, den sie am Grab der Mutter einpflanzt. Daraus erwächst ein großer Baum, auf dem eines Tages eine weiße Taube sitzt, um Aschenputtels Wünsche zu erfüllen (Motive vom Wunderbäumchen und vom Fortleben der toten Mutter in Tiergestalt). Nach dem Bericht verkleidet sich der Märchenerzähler vor dem Publikum als Herold. Er sagt, der König habe ihn ausgeschickt, um das große Fest der Brautwahl des Königs anzukündigen. –„Zweites Bild“ (S. 15-24) Es spielt wieder in der Küche des Hauses. Die Szene beginnt als „stehendes Bild“. Auf Aufforderung des Märchenerzählers klatscht das Publikum dreimal. Erst dann kommt Leben in die Szene. Unter akustischen Signalen, nämlich Trommelwirbel kommt der Herold hervor und ruft das dreitägige Fest auf dem Königsschloss aus, zu dem alle Mädchen des Landes eingeladen werden, damit der König eine Gemahlin wählen kann (Motiv der Brautwahl). Es findet dann eine Zankszene zwischen den beiden Stiefschwestern statt, bei der sich die Rivalität zwischen ihnen herausstellt: Die eine meint, schöner als die andere zu sein. Die eitlen Stiefschwestern sind mit dem Anziehen beschäftigt. Aschenputtel wird es aber versagt, zum Fest zu gehen, weil sie keine Kleider, keine Schuhe und keinen Schmuck hat. Die Stiefmutter gibt ihr stattdessen auf, Linsen aus der Asche zu lesen (Motiv der Aufgabe). Dank der Tauben ist sie mit der Aufgabe rechtzeitig fertig, bekommt aber noch zwei andere Schüsseln mit Linsen zu verlesen. Mit wunderbarer Hilfe der Tauben gelingt es Aschenputtel wieder, die Aufgabe zu bewältigen. Aber vergebens: Die Stiefmutter verweigert ihr trotz der erledigten Aufgabe den Ballbesuch: Sie wirkt grausam und herzlos, und zeigt ihr, es ist völlig unmöglich, dass sie auf den Ball mitgehen. Die Szene erstarrt, indem der Märchenerzähler wieder auf die Bühne kommt und dreimal in die Hände klatscht. Damit ist die entscheidende Information gegeben, aus der sich die weitere Handlung entwickelt. Anhang 350 Als die Schauspieler von der Bühne abgehen, nimmt der Märchenerzähler den Kontakt mit dem Publikum wieder auf: Er bringt das Fest des Königs ins Gespräch; dabei werden die jungen Zuschauer in Spannung versetzt. Am Ende des Bildes wird eine Pause eingelegt. Damit ist die entscheidende Information gegeben, aus der sich die weitere Handlung entwickelt. –Auftritt des Märchenerzählers (S. 24) Nach der Pause betritt der Märchenerzähler wieder die Bühne, kommt vor den Vorhang und spricht das Publikum an. In einem raffenden Bericht gibt er den Teil wieder, in dem nach der bekannten Zauberformel die weiße Taube Aschenputtel ein goldenes und silbernes Kleid und mit Silber bestickte Schuhe vom Baum herunterwirft, damit sie den Ball besuchen kann (Motiv vom Wunderbäumchen). –„Drittes Bild“ (S. 25-29) Es spielt am Abend in der Vorhalle zum Königssaal. Daraus hört man höfische Tanzmusik und Stimmengewirr; auf diese Weise wird das Publikum auf die festliche Stimmung im königlichen Schloss hingewiesen. Die Szene beginnt wieder als „stehendes Bild“. Um das Spiel zum Leben zu erwecken, werden die zuschauenden Kinder wieder aufgefordert, dreimal in die Hände zu klatschen. Der Zeremoniemeister (vom Märchenerzähler gespielt) wird eingeführt. Die Verkleidung findet auf offener Bühne statt. Im Mittelpunkt des Bildes steht der Ballbesuch: Die Stiefgeschwister werden dem König vorgestellt. Dabei erfährt das Publikum erst jetzt die Vornamen der Stiefmutter (Ziegenwurtz) und deren Töchter (Adelinchen und Tusnelda). Aschenputtel erscheint, niemand erkennt sie. Von da an hat der König nur Augen für Aschenputtel. Er fordert sie zum Tanzen auf. Stiefmutter und -schwestern geben sich neidisch und gehen von der Bühne ab. Im Abgehen kommt der Märchenerzähler hervor, klatsch dreimal und die Schauspielerinnen bleiben wie versteinert stehen. Im Anschluss daran führt der Märchenerzähler ausführlich aus, wie es auf dem Ball weiterging. Auch referiert er über die Vorgänge nach dem Fest, nämlich Aschenputtels Flucht, ihre Verfolgung bis zum Taubenhaus durch den König und ihre Rückverwandlung. –„Viertes Bild“ (S. 30-35) Es spielt gegen Mittag wieder in der Küche des Hauses. Die Szene, die wieder als „stehendes Bild“ beginnt, wird durch die Klatsch-Hilfe des Publikums lebendig. Das Bild bringt wenig Handlung. Es wird gezeigt, wie Stiefmutter und -töchter in die Küche kommen und beim Referieren der Erlebnisse auf dem Ball und ihrer Begegnung mit dem König lügen. Als die Stiefmutter und ihre Töchter sich für das zweite Fest des Königs herrichten wollen, unterbricht der Märchenerzähler die Szene mit einem dreimaligen Klatsch und erzählt vom Tag, an dem der zweite Ball im königlichen Schloss stattfindet. Die Vorgänge werden bis in alle Einzelheiten beschrieben: Auf den bekannten Zauberspruch hin (diesmal vom Publikum aufgesagt) wird Aschenputtel ein kostbareres Kleid und silberne Schuhe herabgeworfen, sodass sie heimlich und unbekannt wieder zum Ball fahren kann. Auf dem Ball gilt sie als die Schönste. Der König tanzt ununterbrochen mit ihr und die Stiefmutter und ihre Töchter geben sich neidisch. Als Aschenputtel zum zweiten Mal still und heimlich von dem Fest fliehen will, folgt ihr der König bis zu einem Birnbaum. Ohne Erfolg: Der König lässt dann diesen Zufluchtsort zerstören, aber Aschenputtel bleibt verschwunden. Die Vorgänge vom dritten Balltag werden auch vom Märchenerzähler ausführlich wiedergegeben: Aschenputtel begibt sich wieder zum Wunderbäumchen. Hier wird sie immer noch prächtiger ausgestattet. Auf dem Ball tanzt der König die ganze Zeit mit ihr. Als Aschenputtel fort will, muss sie einen Schuh zurücklassen: Der Schuh bleibt durch eine List des Königs in der Schlosstreppe hängen (Motiv vom kostbaren Schuh). Der König beauftragt dann seinen Herold, die Besitzerin des Schuhes zu suchen. –„Fünftes Bild“ (S. 36-47) Es spielt am Morgen in der Küche des Hauses. Das Bild bleibt als „stehendes Bild“ solange erhalten, bis die zuschauenden Kinder dreimal in die Hände klatschen. Die Handlung gipfelt in dem Höhepunkt. Der Schwerpunkt liegt auf der Schuhprobe und dem Happy- End, das den Abschluss der Handlung bildet. Das Bild beginnt mit einer Streitszene der Stiefmutter und ihre Töchter. Dabei schimpfen sie über den König und die unbekannte Schöne, mit der er die ganze Zeit getanzt hat. Unter akustischen Signalen (Trommelschläge) kommt der Herold hervor und lässt wissen, dass der König das Mädchen heiraten wird, dem der Schuh passt. Die Schuhprobe beginnt (Motiv der Probe). Sie soll in der Küche des Hauses stattfinden. Bevor die Probe anfängt, gibt es eine heftige Prügelszene zwischen den beiden Stiefschwestern. Bei der Schuhprobe tritt der König selbst auf. Unter akustischen Signalen (Trommelwirbel) kommt er in die Küche. Die 1. Tochter stellt sich dann auf die Probe. Bei der Anprobe stellt sich heraus, dass der Anhang 351 zwei ersten Bilder hin und ist mit der Pauseneinlage am Ende des 2. Bilds abgeschlossen. Bei der Exposition wird die Vorgeschichte, also die Episode der sterbenden Mutter und der zweiten Ehe des Vaters narrativ vermittelt, was gleich im 1. Bild die Konzentration des Dargestellten auf die Schikane Aschenputtels durch seine Stieffamilie bedeutet. Das 3. Bild bildet den Mittelpunkt der Geschichte: Es führt zu einer glücklichen Wendung im Schicksal der Hauptfigur, als sie zum ersten Mal den Ball heimlich und unerkannt besuchen und mit dem König tanzen kann. Bis zum dramatischen Höhepunkt der Handlung, nämlich der Schuhprobe, finden die Ereignisse am zweiten und dritten Balltag statt, die im 4. Bild mittels eines erzählenden Berichts dargeboten werden. Im 5. Bild gipfelt dann die Handlung in dem Höhepunkt: Der Schwerpunkt liegt auf der Schuhprobe, auf die die Stiefschwestern und die Hauptfigur gestellt werden, sowie auf dem Happy-End, also dem Erkennen der richtigen Braut, was den Abschluss der Handlung bildet. Bei Weths Märchenstück handelt es sich um eine epische Bühnenfassung des Aschenputtel- Märchens: Spielszenen und Erzählung wechseln sich ab, d.h. die Geschichte wird sowohl unmittelbar szenisch dargestellt als auch im Bericht des Märchenerzählers narrativ vermittelt. Die zeitliche Erstreckung der ursprünglichen Geschichte wird in der Bühnenfassung durch Zeitaussparungen bewältigt. Zeitraffer und Zeitsprünge werden im Laufe des Stückes mit nur einem Satz überbrückt, und zwar über den Märchenerzähler vermittelt. Die Umbauten, nämlich im Hinblick auf die Abgänge der Figuren, lässt Weth vor den Augen des Publikums vollziehen, wie es z.B. am Ende des ersten Bilds erfolgt. Hier, so wie der Bearbeiter im Nebentext festgelegt hat, lösen sich die Schauspieler „von der Erstarrung und gehen langsam von der Bühne“ (S. 13). Verwandlungen bzw. Verkleidungen finden auch auf offener Bühne statt, d.h. sichtbar für die jungen Zuschauer. Der Schauspieler steht sozusagen in Brechtscher Manier neben der Rolle, die er erst im Lauf des Stückes annimmt. So wird der Illusionsbildung entgegenwirkt. In Weths Bühnenbearbeitung geschieht dies beim Märchenerzähler, der sich vor dem Publikum als Herold und auch noch als Zeremoniemeister verkleidet. Schuh zu klein für sie ist. Auf den Rat der Stiefmutter schneidet sie sich die Ferse ab. Als der König sie als seine Braut nehmen will, bezeugt die weiße Taube den Betrug. Die 2. Tochter ist dann dran. Um die Probe zu bestehen, schneidet sie sich die große Zehe ab. Aber die Taube bezeugt wieder den Betrug. Aschenputtel wird geholt: In dem Augenblick, als der König sie ins Gesicht schaut, erkennt er sie gleich. Auch sie muss sich der Probe stellen: Der Schuh passt ihr und die weiße Taube weist Aschenputtel als die rechte Braut aus. Der Märchenerzähler kommt hervor und nach dreimaligem Klatsch erstarrt das Bild. Er spricht dann die zuschauenden Kinder an: Die Geschichte soll sie Lust aufs Märchenerzählen eingeflösst haben. Das Spiel kommt zu seinem Ende, indem der Märchenerzähler wieder in die Hände klatscht: Die Schauspieler werden „lebendig“ und nehmen dabei den Applaus des Publikums entgegen. Anhang 352 Einen Hinweis für den Regisseur findet sich in einer Vorbemerkung des Bearbeiters. Daraus geht hervor, dass das Stück in der Romantik des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts zu spielen ist. Sonst setzt Weth Regieanweisungen sehr sparsam ein. Diese beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben zur gestischen und mimischen Darstellung der Figuren. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die nur die notwendigsten und wichtigsten Angaben über Ausstattung und Requisite beinhalten. Kleine Regieanweisungen lassen auch Raum, die zuschauenden Kinder ins Spiel mit einzubeziehen, etwa „(Improvisiertes Spiel mit dem Publikum)“ (Bild 2, S. 24). Zur Figuration: Weth hat das Figurenpersonal der Grimm-Geschichte auf fünf Charaktere reduziert. Dazu zählen das Aschenputtel, die Mitglieder der Stieffamilie und der König. Damit konzentriert der Bearbeiter den Plot auf die Schikane Aschenputtels durch die Stieffamilie. Die Hauptfigur ist Aschenputtel. Sie wirkt bescheiden und gutmütig, die beiden Stiefschwestern dagegen arrogant und überheblich. Neben den Stiefschwestern gilt die Stiefmutter auch als Bösewicht. Die weißen Tauben werden zu Aschenputtels Beistand: Die Vögel kommen ihr zweimal zu Hilfe. Damit kann sie die schier unlösbare Aufgabe des Linsen-Lesens bewältigen. Zum Figurenpersonal des Märchenstückes gehört auch ein Erzähler, der als Ansprechpartner für die zuschauenden Kinder mit großem Textanteil neu eingesetzt wird. Er führt sich als kommentierende Figur ein und sagt die einzelnen Bilder des Stückes an. Wenn nötig, unterbricht er als Märchenerzähler das Spiel mit dreimaligen Klatsch und im erzählenden Bericht, zwar im Rückgriff auf Vergangenes, referiert er ausführlich über einzelne Phasen bzw. räumlich-zeitliche verdeckte Handlungsabläufe der Geschichte. Eine weitere Funktion dieser Figur besteht darin, als Spielleiter die anderen Figuren auf- und abtreten zu lassen, wie folgende Textstelle verdeutlicht: „[...] ach so, ich lasse euch schon wieder zu lange stehen. Also, ihr dürft gehen (Ensemble ab - Vorhang)“ (Bild 4, S. 33). Zu deren Funktionen gehört auch, das Kinderpublikum immer wieder ins Spiel mit einzubeziehen, und zwar durch gezielte Fragen sowie Aufforderungen, z.B. zum dreimaligen Klatschen, damit die Szene nach Erstarren wieder lebendig wird, oder dazu, den Zauberspruch auszusagen, damit Aschenputtel seine Zauberkleidung vom Wunderbäumchen bekommt. Anhang 353 Brüderchen und Schwesterchen Theatermärchen nach den Brüdern Grimm Text von Carmen Blazejewski Erschienen 1996 als Bühnenmanuskript im Verlag für Kindertheater, Hamburg Autorin: Carmen Blazejewski wurde 1954 in Grimma (Sachsen) geboren. Nach ihrem Abitur studierte sie Theaterwissenschaft in Leipzig. Sie arbeitete u.a. als Regieassistentin am Kindertheater Berlin (Ost), später als Dramaturgin und Regieassistentin an der Volksbühne Berlin und zuletzt im Babelsberger Spielfilmstudio. Seit 1986 ist sie freie Autorin. Sie schreibt Drehbücher (Der Strass, 1991; Die Vergebung, 1994), Hörspiele, Theaterstücke sowie Prosa (Windhaus, 2011; Störtebekers Tochter, 2001; Der Reiterhof am Meer, 2000; Hauptsache, du bist meine Freundin, 1999; Küss mich, sagte der Vampir, 1998) und Lyrik für Kinder und Erwachsene. Blazewjewski wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Publikumspreis des Max-Ophüls-Festivals Saarbrücken; zuletzt 2002 erster Jugendbuchpreis der Stadt Segeberg. Außer dem hier besprochenen Theatermärchen hat Blazejewski ein weiteres Stück für das Kindertheater verfasst, Wie fange ich einen Vogel, das 1992 im Kammer- und Puppentheater in Wismar zur Uraufführung kam. Uraufführung: Das Stück ist noch frei zur Uraufführung. Personen: Brüderchen; Schwesterchen; Techniker; Stiefmutter; Weide; König; Stiefschwester; das Baby (eine Handpuppe); Schnuckieleinchen, der Hund der Stiefmutter (ein weißer Puschel in ihrer Tasche). Orte der Handlung: Stadt, Wald, Schloss und Schlafkammer. Zum Stück: Blazejewskis Bühnenbearbeitung liegt das gleichnamige Geschwistermärchen der Brüder Grimm (KHM 11) zugrunde. Die Bearbeitung gliedert sich in 10 Bilder.180 180 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„1“ (S. 1-9) Das erste Bild beginnt mit der Flucht der beiden Geschwister aus dem Elternhaus aufgrund der Mißhandlungen seitens der Stiefmutter. Damit ist die entscheidende Information gegeben, aus der sich dann die weitere Handlung entwickelt. Spannung zieht sich durch die folgenden Bilder. –„2“ (S. 10-18) Die Stiefmutter bemerkt die Flucht und verfolgt die Fliehenden. Aber die beiden Geschwister gehen fort. Sie gehen den ganzen Tag durch, bis sie in einen Wald kommen. Beide sind von dem langen Weg so müde, dass sie sich in eine hohle Weide setzen und einschlafen. –„3“ (S. 19-26) Die Stiefmutter findet sie, verwandelt sich in eine böse Hexe und will die beiden Kinder verzaubern. Trotz aller Versuche wird die Verzauberung allerdings durch die Weide zerstört. Die Stiefmutter belegt dann alle Brunnen im Wald mit einem Verwandlungszauber. –„4“ (S. 27-44) Am Morgen hat Brüderchen schrecklichen Durst und die beiden Geschwister machen sich auf die Suche nach einer Quelle. Aber die erste, die sie finden, ist verzaubert; bei der zweiten ist Anhang 354 Der Gegenüberstellung der Grimmschen Märchenvorlage und Blazejewskis Bühnenbearbeitung ist zunächst zu entnehmen, dass die Autorin sich offenbar sehr bemüht hat, so dicht wie möglich am Original zu bleiben. So übernimmt das Stück die Grundzüge des Märchens und dessen Hauptmotive: Kinderflucht, böse Stiefmutter und Hexe, Zauber, gefährliches Wasser, Verwandlung in ein Reh, Heirat der Schwester mit Königssohn. Die Handlung präsentiert auch keine großen Entfernungen vom Original, d.h. die Bearbeiterin hält sich eng an die Stationen der Vorlage. Charakteristisch dafür ist die zweigliedrige Struktur: 1) Tierverwandlung und Aufenthalt im Wald (Bild 4-7); 2) Heirat der Schwester, unterschobene Braut und Erlösung des Bruders (Bild 8-10). Wie auch im Ausgangsmärchen entsteht die dramatische Handlung aus der Neuordnung der Familiensituation: Die Stiefmutter bevorzugt das eigene Kind und ist voller Hass auf die Stiefkinder, denen sie nachstellt (Bild 1-3). Brüderchens und Schwesterchens unglückliches Schicksal bildet also den Mittelpunkt der Handlung. Die Zuspitzung des Konflikts erfolgt, wenn der junge König die Stiefschwester heiratet, die Stiefmutter ihr dieses Glück missgönnt und ihre eigene Tochter als Königin es ebenso. An der dritten Quelle kann Brüderchen nicht länger seinem Durst widerstehen, muss trinken und wird in ein Reh verwandelt. Der Techniker tritt auf und baut die Bühne um: Aus altem Gerümpel baut er ein Haus für Schwesterchen (offener Bühnenaufbau). –„5“ (S. 45-51) Nach offenem Bühnenumbau wird gezeigt, wie Schwesterchen und sein Rehbruder in dem Häuschen mitten im Wald leben. Da ertönen Hörner, die zur königlichen Jagd blasen. Das Rehlein will dabei sein und schweren Herzens lässt das Mädchen es ziehen. –„6“ (S. 52-55) Ab diesem Bild bis zum 8. Bild führt es zu einer glücklichen Wendung Brüderchens und Schwesterchens Schicksals. Der König tritt auf. Der Techniker schlüpft in die Rolle des königlichen Pferdes und des Königs Jäger. Bei der Jagd wird das Reh am Bein verletzt. –„7“ (S. 56-61) Das Reh kehrt ins Waldhaus äußerlich unversehrt zurück, aber die Jagd geht weiter und es will abermals miteilen. Der König und der Techniker umzingeln es, treiben es zum Waldhaus und greifen es. Der König erstaunt über Schwesterchens Schönheit und möchte das Mädchen heiraten. Er nimmt es mitsamt dem Reh auf sein Schloss. Das Bild endet mit Bühnenumbau, der wieder auf offener Szene durch den Techniker erfolgt. –„8“ (S. 62-70) Nach der Pause wird im Schloss gezeigt, wie Schwesterchen zur Königin wird. Das geschieht durch das Ausziehen seiner lumpigen Kleider und das Anziehen der königlichen Kleider durch den König, und wird für die Zuschauer sichtbar. Der König und die neue Königin spielen dann Huckepack. –„9“ (S. 71-78) Das Bild bringt wenig Handlung. Die Stiefmutter und ihre hässliche Tochter treten auf. Sie haben davon gehört, dass Schwesterchen immer noch lebt, mit dem König verheiratet ist und mit ihm ein Kind bekommen hat. Die beiden sind von Neid zerfressen und sinnen darauf, das Glück der jungen Königin zu verderben. –„10“ (S. 79-105) Das letzte Bild nimmt den weitaus größten Raum ein. Es bildet den Höhepunkt und Abschluss der Handlung: Während der König auf der Jagd ist, treten die Stiefmutter und ihre Tochter in der Gestalt von Kammerfrauen in die Schlafkammer der Königin und überreden sie zu einem heißen Bad. Sie führen sie in die Badestube und bringen sie um. Die Tochter legt sich darauf als falsche Königin ins Bett. Der König kommt heim und merkt nicht, dass er eine falsche Frau hat. Da treten der Techniker und der Rehbruder in die Schlafkammer, gehen zur Wiege und nehmen das Kind heraus. Unbemerkt von dem Techniker und Brüderchen erscheint die rechte Königin als Gespenst, legt sich ihr Kind an ihre Brust, dann legt es in die Wiege zurück und deckt es zu. Danach beginnt sie zu sprechen: „Was macht mein Kind? Was macht mein Reh? Nun komm ich noch zweimal und dann nimmermehr.“ Der Techniker verkleidet sich als Kinderfrau und meldet es dem König, der auch sieht, wie die Königin kommt, und hört deutlich ihre Worte. Das wiederholt sich noch ein Mal. Beim dritten und letzten Mal streichelt die Königin den König zärtlich. Da kann sich der König nicht länger halten und rührt sie an. Die Königin wird wieder lebendig. Die Stiefmutter und ihre Tochter werden entlarvt und zum Tode verurteilt. Das Bild endet mit einem offenen Bühnenumbau: Die Bühne zeigt den Wald wieder. Das Stück endet mit der Erlösung Brüderchens. Anhang 355 etablieren möchte. Dabei schrecken die Stiefmutter wie auch deren Tochter vor keiner Gemeinheit, selbst vor Mord, nicht zurück (Bild 9-10). Der Konflikt löst sich dann mit Gerechtigkeit für die beiden Hauptfiguren auf und wird zu einer glücklichen Lösung geführt. Gleichzeitig geht es Blazejewski aber auch darum, eine angemessene Form zu finden. Insofern bietet ihr Bühnenstück eine sprachlich und inhaltlich moderne Bearbeitung des Grimmschen Märchens, in deren Zentrum nicht die Illusion, sondern die Improvisation und das kindliche Spiel steht. So weist das Stück viel Zusatzhandlung und viele kleine Auftritte auf, vor allem der Figur des Technikers, die auf unterhaltsame und spannende Weise die bekannte Geschichte verlängern. Diese wird aber auch verfremdet dargeboten. Schon zu Anfang des Stückes werden antiillusionistische Effekte eingesetzt, die an Brechts Verfremdungseffekte erinnern, so z.B. die Präsenz eines Technikers, der gleich zu Beginn erscheint, sich dem Publikum zuwendet und bezieht es direkt mit ein, indem er die zuschauenden Kinder mit Gesten dazu auffordert, seine Anwesenheit nicht zu verraten (S. 2). Damit wird nicht nur die „vierte Wand†überflüssig, sondern die gesamte Darstellung „publikumsgerichtetâ€. Daneben werden im Stück weitere illusionsbrechende, distanzierende Mittel verwendet. Und zwar auch in Brechtscher Manier. Insofern bietet das Stück bereits am Anfang Einblicke in die Entstehung der Theateraufführung. Vor allem die offenen Umbauten, die die Bearbeiterin vor den Augen des Publikums vollziehen lässt, bieten den Zuschauern Einblicke in die technischen Entwicklungen auf der Bühne. So baut der Techniker die Bühne um und bedient auch die Bühnentechnik, indem er für die Zuschauer sichtbar Lichtveränderungen, Geräusche und Wetterumschwünge simuliert. Ebenso erzeugt er mit Gegenständen (z.B. einer Bierflasche) Klänge, die einen entspannenden Effekt und eine ausgelassene Stimmung beim Kinderpublikum ermöglichen. Das Bühnenbild entsteht also mit dem und im Spiel, d.h. der Bühnenbau entwickelt sich aus der Handlung des Stückes und die Figuren werden nicht in ein bereits fertiges Bühnenbild hineingestellt. Die Verwendung solcher Stilmittel steht den Illusionierungs- und Identifikationsprozessen der Rezeption entgegen, indem damit die Fiktionalität des Spiels aufgedeckt wird. Als weiteres Stilmittel ist außerdem die Verwendung von selbstgetexteten Liedern, die dem Grimmschen Märchen ganz fremd sind. Zwar stellen die eingeschobenen Lieder eine Unterbrechung des Handlungsflusses. Aber um den Bruch zu mildern, werden sie an Elemente der dargestellten Bühnenwelt gebunden. Sei es, dass die Melodie leitmotivisch verwendet wird (etwa das von der Weide gesungene Wiegenlied); sei es, dass die Figuren singend ihrer Emotion Ausdruck verleihen, so z.B. beim Brüderchen-und-Schwesterchen-Lied im 2. Bild, im von Schwesterchen gesungenen Lied zu Beginn des 5. Bildes und beim Lied, das der König im 10. Bild singt. Neben solchen Brechungen der Handlung durch Gesangseinlagen gibt es auch Ortswechsel und Zeitsprünge. Der sprunghafte Wechsel der Orte und Zeiten wird durch offenen Bühnenumbau gelöst. Anhang 356 Blazejewski deutet den Grimmschen Märchenstoff mit viel Witz. Seine komödiantische Wirkung erfährt das Stück vor allem durch die karikiert dargestellte Figur der Stiefmutter sowie durch die von ihr verursachten komischen Situationen. Die Darstellung der Hofwelt (durch die Figur des Königs vertreten) wird auch mit viel Humor geführt. Auffallend am Stück sind die ausführlichen Regieanweisungen im Nebentext. Darin legt die Bearbeiterin alle Inszenierungsdetails fest. Ebenso detailliert fallen die Beschreibungen der auftretenden Figuren aus, die durch Aussehen, Stimme, Sprechweise, Handlung, Mimik und Gestik genau festgelegt werden. Der Nebentext gibt auch Information über Zeit und Ort. Im Vergleich zum Grimmschen Märchen wird die Handlung am Beginn des Stückes mitten in einer Stadt situiert. Dann werden die Schauplätze des Ausgangsmärchens übernommen. So spielt auch die Bühnenhandlung im Wald und im Schloss des Königs. Zur Figuration: Alle Figuren des Märchens kommen im Stück vor. Die zentralen Figuren des Stückes sind Brüderchen und Schwesterchen, die alle Szenen verknüpfen. Ihre Gegenspieler sind die Stiefmutter und ihre Tochter. Das Stück weist allerdings hinzuerfundene Figuren auf. Neu eingesetzt werden z.B. die Figuren der Weide und des Technikers. Dadurch wird die Grimmsche Ursprungsgeschichte nicht nur erweitert, sondern auch komplexer. Die Weide (im Märchen nur als Baum mal kurz erwähnt) ist deutlich mit mütterlichen Attributen wie Mitleid und Fürsorge ausgestattet; gerade als mütterliche Figur kontrastiert sie mit der Stiefmutter: Während jene im Bühnenstück als Helferfigur fungiert, indem sie die beiden Geschwister unterstützt und ihnen vor den verzauberten Quellen im Wald warnt, übernimmt diese – wie bei den Grimms – die Rolle der bösartigen Gegenspielerin. Daneben dient die Weide auch als Erzähler. Das zeigt sich z.B. in den eingestreuten kurzen Erzählpassagen im Haupttext, mit denen Episoden des Märchens wiedergegeben werden (vgl. im Bild 4). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Techniker, der im Stück eine Zwischenstellung einnimmt. Neben seiner Rolle als sichtbarer Bühnenbauer und Ausstatter des Stückes, der auffälligerweise auch mit den anderen Figuren verbal interagiert (vgl. u.a. im Bild 4), wird er auch Bestandteil der Bühnenhandlung als Figur, indem er in verschiedene Rollen schlüpft, um z.B. das Pferd, den Jäger und den Diener des Königs sowie die Kinderfrau darzustellen. In der Konzeption der Figuren vermeidet Blazejewski nicht die stereotype und stark kontrastierende Schwarz-Weiß-Zeichnung, die die Rollen in gute oder böse einteilt. Der Bearbeiterin geht es nicht um Psychologisierung oder Individualisierung der Figuren. Sie bleiben – wie im Grimmschen Märchen – Typen. Anhang 357 Brüderlein und Schwesterlein Ein Märchen, frei nach den Brüdern Grimm Text von Hans Peter Doll und Günther Fleckenstein Erschienen ca. 1985 als Nachdruck im Verlag Felix Bloch Erben, Berlin Autoren: Hans Peter Doll (1925-1999) studierte Literatur- und Theatergeschichte in Frankfurt am Main. Dort begann er 1946 seine Theaterkarriere, an den Städtischen Bühnen nämlich. Zwischen 1955 und 1959 war er als Chefdramaturg bei Hans Schalla in Bochum. Zur Spielzeit 1959/60 bis 61/62 wechselte er an das damalige Landestheater, heute Staatstheater Hannover zu Kurt Erhardt, wo Günther Fleckenstein und Hermann Stelter als Regisseure tätig waren. Doll und Fleckenstein bearbeiteten in den 1960er Jahren mehrere Märchenvorlagen der Brüder Grimm für das Weihnachtstheater: Im Dezember 1961 kamen Die Bremer Stadtmusikanten unter Fleckensteins Regie zur Uraufführung. Diesem Stück folgten weitere Grimm-Adaptionen: Schneewittchen (1964), König Drosselbart (1966) und Rumpelstilzchen (o.J.). Die gemeinsame Autorentätigkeit endete mit dem Weggang Dolls von Hannover. 1962/63 wurde Doll in Bremen bei Kurt Hübner – damaliger Oberspielleiter war Peter Zadek (geb. 1926) – engagiert. Zur Spielzeit 1963/64 übernahm er die Intendanz in Heidelberg, und von 1967/68 bis 1971/72 wirkte er als Generalintendant am Württembergischen Staatstheater in Stuttgart. Ab 1985 bis 1990 erhielt Doll die Stelle des Landesbeauftragten für den künstlerischen Bühnennachwuchs in Baden-Württemberg. Ebenfalls 1985 wurde er Leiter der ältesten deutschen Freilichtbühne, der Luisenburg-Festspiele in Wunsiedel bei Bayreuth. 1990 kam er als Interims-Intendant nach Frankfurt am Main, ab 1992 war er es in Braunschweig. Doll hat in mehreren Büchern zum Theater Stellung genommen.181 Günther Fleckenstein (geb. 1924 in Mainz) ist ein deutscher Theaterregisseur, Dramaturg und Theaterintendant. 1948 bis 1949 war er Regieassistent und stellvertretender Dramaturg an den Kammerspielen Mainz. Von 1951 bis 1954 war er Spielleiter am Mainzer Schauspiel sowie Hilfsspielleiter der Oper und Operette am Großen Haus. Weitere Stationen als Regisseur waren Ulm (1954), Gelsenkirchen (1955) und Essen (1956). Anschließend arbeitete er als Oberspielleiter in Münster, bevor er 1959 als Regisseur an das Landestheater Hannover wechselte, wo er 1962 zum Oberspielleiter aufstieg. 1966/67 übernahm er die Leitung des Deutschen Theaters Göttingen, wo er bis 1986 wirkte. In seiner Intendanz standen auf dem Spielplan u.a. Stücke großer Autoren wie Brecht, Dürrenmatt, Peter Hacks und Rolf Hochhuth. Von 1976 bis 1981 war er außerdem Intendant der Bad Hersfelder Festspiele und anschließend 181 U.a. Mein erstes Engagement, München: Dt. Taschenbuch-Verl., 1991; Stuttgarter Theaterarbeit 1972-1985, Stuttgart: Württembergisches Staatstheater, 1985; Theater, Stuttgart: Belser, 1985; Hans Schalla, Bochum: Schürmann und Klagges, 1983; Eine Theaterlandschaft, Freiburg i. Br.: Rombach, 1968. Anhang 358 ständiger Regiegast der Luisenburg-Festspiele in Wunsiedel. Fleckenstein adaptierte mehrere Werke für die Bühne, darunter Märchen für das Kindertheater in Zusammenarbeit mit Hans Peter Doll. Entstehung und Uraufführung: Mit Brüderlein und Schwesterlein bearbeiteten beide Autoren eine weitere Märchenvorlage der Brüder Grimm für die Bühne. Das Stück entstand in den 1960er Jahren während der gemeinsamen Tätigkeit der beiden Verfasser. Angaben zum genauen Erscheinungsjahr und -ort des Stückes können allerdings nicht gemacht werden. Die Uraufführung fand am 10. Dezember 1966 im Kleinen Haus des Nationaltheaters in Mannheim statt. Personen: Brüderlein; Schwesterlein; die Köhlerstochter; der König; die böse Fee; Potz und Blitz, zwei Vagabunden. Orte der Handlung: vor dem Schloss der bösen Fee; in der Köhlerhütte; Vorzimmer im Jagdschloss der bösen Fee; im Winterwald. Zum Stück: Es beruht auf dem bekannten Märchen der Brüder Grimm (KHM 11) von den beiden unauflöslich miteinander verbundenen Geschwistern, die gemeinsam Hass und Verfolgung erleiden. Der Kern dieses Stoffes ist mit wenigen Strichen skizziert: Brüderchen und Schwesterchen fliehen vor ihrer bösen Stiefmutter in den Wald, wo Brüderchen aus einem verzauberten Brunnen trinkt und in ein Reh verwandelt wird. Die Geschwister leben ganz allein in einem kleinen Häuschen, bis der König sie entdeckt und Schwesterchen als seine Braut ins Schloss holt. Schwesterchen bekommt ein Kind, doch voll Neid zerstört die hexenhafte Stiefmutter das Glück: Sie räumt die junge Königin aus dem Weg, indem sie in der Badstube erstickt wird, und unterschiebt ihre eigene häßliche Tochter. Doch der König führt seine Frau in das Leben zurück. Bei dem Tod der Verfolgerin und ihrer Hexentochter wird auch der Bruder aus seiner Tiergestalt erlöst. Die Adaption von Doll und Fleckenstein hält sich nicht ganz an das Grimmsche Vorbild. Bereits der Untertitel „frei nach den Brüdern Grimm“ signalisiert, dass das Stück sich nicht um Originaltreue bemüht, sondern eine Bearbeitung des Märchens unter bestimmten Gesichtspunkten vorgenommen hat. So variieren die beiden Bearbeiter die Grundgeschichte, indem sie neue Handlungsabläufe einbauen, wie die komischen Episoden der beiden Vagabunden, die in die Länge gezogen werden, oder die erfundene Liebesgeschichte zwischen Brüderlein und der Köhlerstochter. Ebenso lässt die Bühnenfassung einige Handlungsmomente vermissen, z.B. wird es auf die Darstellung der Vorgeschichte verzichtet. Auf die Vorgeschichte Anhang 359 wird es nur kurz zu Beginn des zweiten Bildes in der Figurenrede hingewiesen. In einem weiteren Aspekt brechen die Autoren mit der Handlung des Märchens, indem sie auf die Episode der Unterschiebung der „falschen“ Braut verzichten. Schließlich machen die Hinweise auf das Weihnachtsfest und dessen Emblematik einen weiteren Eingriff der Verfasser in die Handlung aus. So beziehen sich die beiden Vagabunden auf eine Weihnachtsgans am Anfang des 1. Bildes, der König bläst zur weihnachtlichen Jagd am Ende des 4. Bildes, und das Stück endet mit einem Weihnachtslied. Die Handlung des Märchenspiels wird in 6 Bildern dargeboten, die recht kurz gehalten und nicht in Szenen unterteilt sind.182 Dramaturgisch ist das Stück einfach strukturiert: Es beginnt 182 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 1-13) Das Stück beginnt vor dem Jagdschloss, wo die böse Fee wohnt. Im ersten Bild werden die Figuren von Potz und Blitz, den zwei Vagabunden, und der bösen Fee eingeführt. Sie stellen sich selbst musikalisch vor. Dadurch wird auch einiges zu ihren Charakter gesagt. Da Potz und Blitz das Schloss der Fee entdeckt haben, müssen sie zeitlebens in ihren Diensten bleiben. Wenn sie die Fee je verlassen oder verraten, dann verwandelt sie sie in Papageien. Potz und Blitz bekommen den Auftrag, einen Jüngling (Brüderlein), auf den die Fee abgesehen hat, und der in einer Köhlershütte mit seiner Schwester (Schwesterlein) wohnt, zu holen. –„Zweites Bild“ (S. 14-25) Es spielt in der Köhlershütte, wo das Geschwisterpaar wohnt. Brüderlein ist nicht glücklich, will nicht mehr im Wald leben und sein Brot als Köhler verdienen. Er will hinaus in die weite Welt, und das, obwohl die Köhlerstochter ihn liebt und er an seine Schwester gebunden ist. In einer Liedstrophe wird das Motiv der Bruder-Schwester-Beziehung besungen. Der Auftritt der bösen Fee zerstört die zum Teil harmonische Atmosphäre und führt schließlich zum tragischen Verlauf des Geschehens. Der bösen Fee gelingt es, mit List und Tücke das Brüderlein in ihren Bann zu ziehen: Ihre falsche Schönheit und der falsche Glanz im Schloss täuschen Brüderlein. Trotz der Warnung des Schwesterleins rennt er fort. Die Köhlerstochter bleibt verzweifelt und trostlos. –„Drittes Bild“ (S. 26-33) Im Vorzimmer im Jagdschloss wird den ersten Kampf gegen die böse Fee gezeigt: Schwesterlein fordert die Fee auf, dass sie Brüderlein frei lässt, aber sie wird aus dem Schloss hinausgeworfen. Mit Slapstick wird auch gezeigt, wie Potz und Biltz das Brüderlein ins Zimmer der Fee lassen, und wie er entdeckt, dass sie eine alte Hexe ist. Daher verwandelt sie Potz und Blitz in Papageien. Mit einem Fluch verhext sie die Quelle, die vor der Köhlershütte steht. –„Viertes Bild“ (S. 34-43) Es spielt wieder in der Köhlershütte, wo die hoffnungsvolle Köhlerstochter darauf wartet, dass Schwesterlein das Brüderlein zurückbringt. Aber sie kommt resigniert ohne ihn zurück. Doch Brüderlein kommt später in die Köhlershütte zurück. Vom Laufen ist er sehr durstig und will aus der verhexten Quelle trinken; die Köhlerstochter und Schwesterlein halten ihn zweimal zurück und versuchen, ihn mit Spiel und Singen abzulenken. Trotz der Warnung der Mädchen und vor Durst gequält trinkt er aus der Quelle und wird ein Reh. Der König bläst zur weihnachtlichen Jagd und er rennt weg. –„Fünftes Bild“ (S. 44-53) Es spielt im Winterwald. Die Rede ist von der Jagd des Königs auf das Reh. Er ist seit drei Tagen hinter dem Reh her und will es erlegen. Der König äußert sich zu seiner Person in einem Lied. Dadurch wird auch einiges zu seinem Charakter gesagt. Mit Slapstick wird gezeigt, wie Potz und Blitz als Papageien den König foppen. Mit ihrer Hilfe gelingt es dem Brüderlein, vom König wegzukommen, aber er wird getroffen. Der König folgt dem schwerverwundeten Reh. –„Sechstes Bild“ (S. 54-61) Es spielt wieder in der Köhlershütte, wo, wie jeden Abend, die trostlose Köhlerstochter darauf wartet, dass das Reh fröhlich und unversehrt zurückkommt. Das schwerverwundete Reh tritt ein. Der König, der inzwischen unbemerkt auch eingetreten ist, heilt das Tier. Er verliebt sich in Schwesterlein und will, dass sie seine Frau wird. Mit Slapstick wird der endgültige Sieg über die böse Fee gezeigt: Potz und Blitz als Papageien reissen ihr die Perrücke vom Kopf und werfen sie ins Feuer. Damit ist ihre Zauberkraft dahin: Sie verwandelt sich wieder in die Hexe. Bei ihrer Verwandlung wird Brüderlein aus seiner Tiergestalt erlöst und aus den Papageien werden die Vagabunden. Damit wird die Harmonie wiedergestellt und es soll eine Doppelhochzeit gefeiert werden. Das Stück endet mit einem Weihnachtslied. Anhang 360 vor dem Jagdschloss mit einer bedrohlichen Atmosphäre, die sich in der Gestalt der bösen Fee manifestiert, und sich bis zum Höhepunkt hin in dramatischer und spannender Weise zuspitzt. Der Auftritt der bösen Fee im zweiten Bild zerstört die zu einem gewissen Teil harmonische Atmosphäre und führt zum tragischen Verlauf des Geschehens (das Brüderlein trennt sich von seiner Schwester; er nimmt die Gestalt eines Tieres an), bis am Ende des sechsten Bildes der Sieg über das Böse, und damit die Rettung des Brüderleins und seine Verwandlung zurück in einen Menschen vollzogen werden kann. Aus dramaturgischen Gesichtspunkten ist die „Doppelspannung“ durch die Figur der bösen Fee interessant: Zum einen deren Ãœbertölpelung bis zur gerechten Bestrafung und zum anderen die Realisierung des Glücks des Geschwisterpaares. Das Stück enthält anti-illusionierende, relativierende Mittel wie Musik und Gesang, die eine wichtige Rolle einnehmen. Als deutliche Hinzufügung zum Märchen sind also die zahlreichen Lieder zu verzeichnen, die Verschiedenes leisten: Sie dienen einerseits der Charakterisierung einzelner Figuren und andererseits dazu, die Handlung zu kommentieren und zu reflektieren. Mit dem Einsatz von Liedern zerfällt die Handlungseinheit. Als episierende Elemente treten auch die Figuren der zwei Vagabunden auf, die Kontakt mit dem Kinderpublikum aufnehmen und dieses durch direkte Ansprache zur Teilnahme animieren. Die Handlung innerhalb der sechs Bilder folgt zeitlich nacheinander. Es gibt keine untergeordneten Handlungsstränge. Dennoch sind im Stück Zeitsprünge und Beschleunigungen zu verzeichnen, die die Zeiteinheit zerstören. Die Bearbeiter halten sich im Hinblick auf Anweisungen zum Bühnenbild weithin zurück: Sie haben sehr sparsame Vorgaben für die Bühnenbildbeschreibung gemacht. Es wird lediglich der Handlungsort angegeben, z.B. im 1. Bild: „Verschneiter Winterwald,...“; es gibt auch keine Angaben, wie sie sich etwa die Hütte im 2. Bild vorstellen: „In der Köhlershütte. Draußen eine Quelle“; nur das Jagdschloss wird näher geschrieben: „[...] Das Schloss hat nichts Grottenartiges oder Verwunschenes an sich. Es ist ein sehr realistisches, damenhaft eingerichtetes Jagdschlösschen“ (Bild 3, S. 26). Teil der Bühnenbildanweisungen sind auch die Hinweisen auf Licht- und Toneffekte, die eine große Rolle spielen, besonders bei den Verwandlungen. Daher geben die Bearbeiter genaue Angaben zu Lichtverhältnissen auf der Bühne. Ebenso verhält es sich mit den Angaben zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren. So liefert der Nebentext klare und detaillierte Regieanweisungen zur Mimik und Gestik und zum Verhalten der Figuren. Zur Figuration: Das Bühnenstück benutzt alle Personen, die für den ersten Teil des Grimmschen Märchens charakteristisch sind: Brüderchen, Schwesterchen, den König und die Stiefmutter, die im Stück die Gestalt einer bösen Fee einmimmt. Die Originalfabel wird Anhang 361 dennoch mit völlig neuen Figuren aufgefüllt, mit denen die beiden Verfasser die Handlung des Märchens verändern. Die zentrale Figur des Stückes ist Brüderlein. Sein Schicksal ist das eines unglücklichen Menschen. Oberflächlich betrachtet mangelt ihm an nichts: Er ist an seine Schwester gebunden und die Köhlerstochter liebt ihn. Dennoch will er nicht mehr im Wald leben und sein Brot als Köhler verdienen. Er ist neugierig auf die große weite Welt. Das wird ihm zum Verhängnis, denn die böse Fee, die es auf ihn abgesehen hat, zieht ihn in ihren Bann mit List und Tücke. Erst die Fürsorge seiner Schwester kann den Bann, unter dem er steht, brechen und eine Entwicklung und Veränderung seines tragischen Schicksals bewirken. Die Protagonistin (Schwesterlein) übt sich in mütterlicher Sorgfalt. Allerdings stößt man im Stück auf keine konventionelle Charakterisierung des Mädchens. Die Bearbeiter haben die Figur von Schwesterlein vom Klischee der schwachen Frau befreit und sie die starke, tatkräftige Rolle spielen lassen. Im Verhältnis zum Original findet hier also ein Rollentausch statt. Um zwei wichtige Rollen (die Vagabunden Potz und Blitz) haben die Bearbeiter den Figurenbestand des Märchens erweitert. Die beiden Figuren nehmen im Stück eine Zwischenstellung ein. Zum einen sind sie direkt in die Handlung integriert. Dort sorgen sie für Verwirrung und Spaß. Als spielinterne Figuren besteht ihre Funktion auch darin, die Handlung in Gang zu bringen, sie voranzutreiben und sie zu einem guten Ende führen. Zum anderen treten Potz und Blitz aus ihrer Rolle für Momente heraus und nehmen Kontakt mit dem Kinderpublikum auf. In der Bühnenfassung erscheint auch die völlig neue Figur der Köhlerstochter. Sie zeichnet sich durch positive Züge aus: Sie steht für die Güte und die wahre Liebe. Ihr stellen die Bearbeiter die böse Fee als negative Gegenfigur gegenüber. Diese stellt die konträre Verhaltensweise dar: Sie ist die Verkörperung des Bösen und Grausamen und vereinigt in sich alle negative Eigenschaften. Sie ist hartherzig, verlogen, hinterlistig und denkt nur an ihren eigenen Profit. Den Bearbeitern geht es nicht um Psychologisierung oder Individualisierung der Figuren, die – wie im Märchen – Typen bleiben. Abgesehen von der Figur des Schwesterleins, bei der das Klischee aufgebrochen wird, enthält also das Stück stereotype Figurenzeichnungen. In der Konzeption der Figuren zeigt es eine stark kontrastierende Schwarz-Weiß-Zeichnung. Anhang 362 Das tapfere Schneiderlein Stück für Kinder nach dem Märchen der Brüder Grimm Text von Alexander Gruber Erschienen 1995 als Nachdruck im Hartmann & Stauffacher Verlag, Köln Autor: Alexander Gruber (geb. 1937 in Ebingen/Württemberg) ist Autor und Ãœbersetzer von Theaterstücken und Opernlibretti. Er hat auch zahlreiche Gedicht- und Essaybände veröffentlicht. Von 1967 bis 1975 war er Lektor und Dramaturg bei S. Fischer Verlag. In den Jahren von 1975 bis 1998 übte er die Tätigkeit als Chefdramaturg der Bühnen der Stadt Bielefeld aus. Seit 1998 ist er freischaffend als Autor tätig. Gruber hat seit Ende der 1960er Jahre mehrere Märchen für das Kindertheater adaptiert. Mittlerweile liegen über 20 Bühnenbearbeitungen der bekanntesten Märchen aus seiner Feder vor. Vorwiegend sind es Stoffe der Brüder Grimm. Neben dem hier besprochenen Stück zählen u.a. Aschenputtel (UA: 1967/68, Städtische Bühnen Freiburg), Schneewittchen (UA: 19.11.1977, Bühnen der Stadt Bielefeld), Rotkäppchen (UA: 11.11.1978, Bühnen der Stadt Bielefeld), Hänsel und Gretel (UA: 20.11.1982, Bühnen der Stadt Bielefeld), Rumpelstilzchen (UA: 10.11.1985, Bühnen der Stadt Bielefeld), Schneeweisschen und Rosenrot (UA: 20.11.1988, Bühnen der Stadt Bielefeld), Der Froschkönig (UA: 12.11.1995, Bühnen der Stadt Bielefeld). Entstehung und Uraufführung: Das Stück entstand 1986 als Bühnenmanuskript und wurde am 16. November an den Bühnen der Stadt Bielefeld uraufgeführt. Personen: Florian Flix, der Schneider; Mushanne, die Bauersfrau; Torwächter; ein Bär; Heuno, ein Riese; seine Mutter; Stella, die Prinzessin; Matthias, ein Diener; die Königin; der rote und der schwarze Ritter; Kay, Seneschall; der König; Köhler; Urgh und Orgh, zwei Riesen; Flugblattverkäufer. Orte der Handlung: Schneiderwerkstatt; vor dem Stadttor; auf dem Berg; Höhle der Riesen; im Wald; Schlosshof; im Schloss; im Grindelwald. Zum Stück: Grubers Bühnenstück liegt das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm (KHM 20) zugrunde, das auf eine Schelmenerzählung zurückgeht. Die Handlung folgt im Wesentlichen der Grimmschen Vorlage: Schneider Florian Flix, ein junger und listiger Geselle voller Fantasie und Tatendrang, zieht es in die weite Welt und mit dem Spruch „7 auf 1 Streich“ auf dem Gürtel kann ihm niemand stoppen. Sein gutes Herz und sein heller Verstand helfen ihm, Riesen übers Ohr zu hauen, ein scheues Einhorn zu zähmen und ein furchterregendes Anhang 363 Wildschwein einzufangen. Doch das Herz von Prinzessin Stella lässt sich nicht so einfach erobern. Zwar werden in der Bearbeitung durch Gruber die Grundzüge des Märchens übernommen, aber in der Ãœbernahme sind auch Veränderungen vorgenommen worden. So wird z.B. die Grundgeschichte der Brüder Grimm durch viele Zusatzhandlungen vielschichtiger gestaltet, daneben auch durch viele neue erfundene Nebenfiguren erweitert und dadurch komplexer. Außerdem wird die Märchenvorlage mit anderen Motiven erweitert. So verbindet Grubers Märchenstück Motive der Heldensage mit den parodistisch zitierten des Ritterromans. Auch strukturell schlägt sich diese Leichtigkeit hier und dort nieder, wenn Gruber mit den verschiedenen Ebenen des Stückgeschehens spielt: So führt er beispielsweise einen Zeitungsverkäufer, also den Flugblattverkäufer ein. Dadurch werden Ereignisse wie das Einfangen des Wildschweins erzählt, d.h. in Form einer Moritat dargestellt (vgl. Bild 12a, S. 42). Was die Dramaturgie betrifft, so hält sich Gruber eng an die Stationen der Grimmschen Vorlage. Die Handlung folgt zeitlich nacheinander. Es gibt keine untergeordneten Handlungsstränge. Das Stück besteht aus 14 Bildern, die an mehreren Orten spielen.183 183 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„1. Bild“ (S. 1-6) An einem Sommermorgen sitzt Schneider Florian Flix auf einem Tisch und näht aus Leibeskräften. Doch ihm wird die Nähstube allmählich zu eng: In einem langen Monolog erzählt er, dass er anstatt mit Drachen, Ungeheuer und Riesen nur mit Nadel, Faden und dem Mantel des vornehmen Herrn Olearius zu kämpfen hat. Um sich wenigstens etwas Gutes zu tun, kauft er bei der Bauersfrau Zwetschgenmus, das ihm vorzüglich schmeckt und ihm auf eine Weise nützt, die sein Leben verändern wird: Weil ihm Fliegen das geschenkte Mus vom Brot fressen wollen, regt er sich auf, schlägt zu und sieht, dass er sieben auf einen Streich erlegt hat. Der Erfolg über die Fliegen gibt ihm Mut. Deshalb steckt er, was er findet (einen alten Käse), in die Tasche und zieht mit Optimismus, Mut, heiteren Liedern und seinem neuen Lebensmotto „7 auf 1 Streich“ hinaus in die große und weite Welt, um etwas zu erleben. (Liedeinlage). –„2. Bild“ (S. 7-9) Vor dem Stadttor wird die Abenteuerlust des Schneiders im Gespräch zwischen diesem und dem Torwächter zum Ausdruck gebracht. Sobald der Schneider die Schwelle des nach Regeln und zünftigen Vorschriften geordneten Lebens überschritten hat, beginnt es, sich seine träumerische und romanhafte, kindliche Vorstellung vom Rittertum und der Tapferkeit zu verwirklichen. (Liedeinlage). Auf dem Weg hilft er einem jungen Vogel, der in einem Busch gefangen sitzt, und nimmt ihn mit. (Publikumsanreden und Liedeinlage). –„3. Bild“ (S. 9-13) Der Weg führt den Schneider auf einen Berg, wo er den Riesen Heuno trifft. Dieser will die Kraft des Schneiders prüfen. Deshalb fordert er ihn auf, Wasser aus einem Stein zu pressen, einen Stein in die Luft zu werfen und eine Eiche fortzutragen. Mit Listigkeit besteht der Schneider die Proben des Riesen. Da lädt er den Schneider bei ihm in der Höhle zur Ãœbernachtung. –„4. Bild“ (S. 13-16) Wenn der Riese meint, der Schneider liegt in tiefem Schlaf, so schlägt er mit einer Eisenstange das Bett mittendurch. Doch der Schneider kommt listigerweise davon. Der Riese und seine Mutter fliehen daraufhin aus Angst vor Vergeltung aus der Höhle, und der Schneider setzt die Reise fort. (Liedeinlage). –„5. Bild“ (S. 16) Im Wald nascht der Schneider Beeren. Da kommt ein Einhorn vorbeigerannt. –„6. Bild“ (S. 17-24) Prinzessin Stella erscheint und dabei tanzt, singt und spricht sie mit dem Diener Matthias. (Tanz- und Liedeinlage, Publikumsanrede). Der Schneider gelangt zum Schlosshof. Er legt sich in den Scahtten und schläft. (Publikumsanrede). Es kommt der rote Ritter vorbei. Er liest die Gürtelinschrift, meldet es dem Seneschall und sie meinen, der Held kann nützlich für den König sein. Es folgt ein Kampf zwischen dem Schneider und dem Ritter, welcher dadurch endet, dass der Schneider gewinnt. Prinzessin Stella kommt vorbeigerannt. Der Schneider verliebt sich schnell in sie. (Liedeinlage). Er wird daraufhin vom König ins Schloss gebeten. Anhang 364 Das Stück zeichnet sich durch eine Mischung aus Alt und Neu aus: Typische Märchenrepliken und Angleichungen an die Ausdrucksweise des Ausgangsmärchens finden sich bei ihm ebenso wie heutige Redewendungen und moderner Sprachwitz. Dabei bleibt der Märchenton im Stückkern doch gewahrt, auch die Stimmung der erzählerischen Vorlage bleibt im Großen und Ganzen erhalten. Anders als oft im ursprünglichen Märchen der Grimms jedoch zeichnet Gruber die bösen Figuren der Geschichte mit Humor, vor allem die Riesen Heuno, Urgh und Orgh, und nimmt den grausam-gruseligen Elementen des Geschehens so ihre Schärfe. Seine komödiantische Wirkung erfährt das Stück auch durch die karikiert dargestellten Figuren der Hofwelt. Zuweilen haben die Dialoge auch eine slapstickhafte Komik, so bei den Gesprächen der Königin. Der humoristische Effekt wird auch duch die Kampfszene zwischen dem Schneider und dem roten Ritter verstärkt (vgl. im Bild 6). Publikumsansprache ist auch ein Stichwort bei Grubers Märchenbearbeitung. Das Geschieht vor allem durch die spielinterne Figur des Schneiders Florian. Im Laufe des Stückes kommt es dann immer wieder zu direkten Wendungen anderer handelnder Figuren an die Zuschauer, so z.B. des Dieners Matthias, der Prinzessin und der Königin. Als spielinterne Figuren nehmen sie auch eine Zwischenstellung im Stück ein. Zum einen sind sie direkt in die Handlung integriert, zum anderen treten sie gleichsam aus ihrer Rolle momentan heraus und nehmen Kontakt mit –„7. Bild“ (S. 25-30) Aus Angst vor dem jungen Held wollen sich die Kriegsleute des Königs verabschieden. Da bekommt der König auch Angst und versucht, ihn loszuwerden. Der Schneider wird vom König empfangen. Mit dem Versprechen, ihm seine Tochter Stella und das halbe Reich zu geben, stellt er die Aufgabe, zwei schadenstiftende Riesen im Grindelwald zu überwältigen (erste Freier- bzw. Bewährungsprobe). Aber Prinzessin Stella will gar nicht heiraten. –„8. Bild“ (S. 31-34) Im Grindelwald gelingt es dem Schneider, mit den Mordriesen Urgh und Orgh fertig zu werden. (Publikumsanreden). –„8a: Szene im Zuschauerraum“ (S. 34) Im Zuschauerraum bietet ein Flugblattverkäufer die neueste Ausgabe der Zeitung feil. Dabei erfährt man von der Heldentat im Grindelwald, also den Freiheitskampf gegen die beiden Riesen. –„9. Bild“ (S. 34-36) Die Königstochter tritt auf und nimmt direkten Kontakt mit den zuschauenden Kindern auf. Im Gespräch mit dem Diener Matthias bringt sie dann die Ablehnung der Ehe mit dem jungen Helden wieder zum Ausdruck. (Publikumsanreden). –„10. Bild“ (S. 36-39) Im Schloss fordert der Schneider vom König den Lohn. Stattdessen erhält er von der Königin eine zweite Aufgabe gestellt: ein schadenstiftendes Einhorn zu fangen (zweite Freier- bzw. Bewährungsprobe). –„11. Bild“ (S. 39-40) Im Einhornwald sind der tapfere Schneider und der feige Seneschall auf der Jagd nach dem Einhorn. Mit einer List gelingt es dem Schneider, das Einhorn einzufangen. (Publikumsanreden). –„12. Bild“ (S. 41-42) Im Schloss berichtet die Königin durch Mauerschau, wie der junge Held das Einhorn bezwingt. –„12a: Szene im Zuschauerraum“ (S. 42) Im Zuschauerraum trägt der Flugblattverkäufer eine Moritat vor. Dabei berichtet er über die dritte Bewährungsprobe, d.h. wie es dem Schneider gelungen ist, das Wildschwein unschädlich zu machen, vor dem sich alle Jäger fürchten. –„13. Bild“ (S. 42) Beim Moritatenvortrag bleibt die ganze Szene stumm. –„14. Bild“ (S. 43-46): Um das Herz der schönen Prinzessin Stella gewinnen zu können, muss sich Schneider Florian auf den treuen Diener Matthias verlassen und dabei dessen Rat befolgen: mit ihr ehrlich reden. Das tut er, und am Ende wird Hochzeit gefeiert und der Schneider wird König. Anhang 365 dem Kinderpublikum auf. Damit wird nicht nur die „vierte Wand“ überflüssig, sondern auch die Illusion der Bühnenhandlung gebrochen. Musikalische und tänzerische Einlagen sind in Grubers Bühnenbearbeitung auch ein wichtiges Element. Die Verwendung von Volksliedern, die dem Grimmschen Märchen ganz fremd sind, machen das Stück zu einer ungewöhnlichen Variante. So finden wir u.a. folgende Lieder: „Schneiders Höllenfahrt“, ein schwäbisches Volkslied aus dem 18. Jahrhundert; „Es waren einmal neun Schneider“, auch aus dem 18. Jahrhundert; die Wanderlieder „Mit frohem Mut und heiterem Sinn“ und „Wer recht in Freuden wandern will“; und das Liebeslied „Wenn ich ein Vöglein wär“. Bei allen handelt es sich um handlungsunterstützende Lieder. Was die Bühnenanweisungen anbelangt, so werden sie vom Autor sehr sparsam eingesetzt. Die Regieanweisungen geben lediglich Hinweise zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren; sie beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben zu deren gestischen und mimischen Darstellung. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die nur die notwendigsten und wichtigsten Angaben über Ausstattung und Requisite beinhalten. Zur Figuration: Die Hauptfigur der Geschichte, Schneider Florian Flix, wird wie im Grimmschen Ausgangsmärchen als mutig, klug und listig dargestellt. Seine Gegner sind hingegen groß, stark und mächtig. Im Vergleich zum Märchen allerdings gewinnt die Figur des Schneiders ein eigenständiges Profil. Bei Gruber erscheint der großsprecherische Fliegentöter als kleiner Bruder des Drachentöters Siegfried im Niebelungenlied. Was aber dieser Sagenheld durch Kraft, Kühnheit und Kampfesmut erreicht, gelingt Florian Flix durch Pfiffigkeit und Klugheit, wobei ein Großteil dieser Klugheit in seinem Stillschweigen liegt. Der listige Schneider besteht zwar alle Prüfungen, die man ihm auferlegt, und er wird mit jeder Aufgabe tapferer. Aus ihm wird so ein plebejischer Held und Vorkämpfer sozusagen demokratischer Ansprüche. Doch Tapferkeit allein genügt nicht für die schwerste aller Aufgaben: das Herz der schönen Prinzessin Stella gewinnen. Braucht er beim Kampf gegen übermächtige Gegener nicht Hilfe anderer in Anspruch zu nehmen, so muss er sich beim Herzgewinnen der Prinzessin auf den Diener Matthias verlassen und dabei dessen Rat befolgen. Die gegenüber dem Grimmschen Märchen völlig neue Figur des Dieners erscheint hier somit als Helferfigur. Wie die Figur des Schneiders, so gewinnt auch die Figur der Prinzessin ein eigenständiges Profil. Sie weigert sich zu heiraten, weil niemand sie gefragt hat, nicht einmal der Schneider. Bei den anderen Figuren ist es aber eigentlich eher vom Gegenteil die Rede, d.h. dem Bearbeiter geht es nicht um Psychologisierung oder Individualisierung der Figuren. Sie bleiben – wie im Märchen – Typen. Ein Unterschied zum Ausgangsmärchen besteht darin, dass in der Bearbeitung die eigentliche Rolle des Bösen nicht nur von der Figur des Königs allein getragen wird, sondern auch von der der Königin. Auffällig ist es also, dass bei Gruber eine Verlagerung der Anhang 366 märchenhaften Funktionen vor sich geht: Ist der König bei den Grimms der einzige Auftraggeber, so fungiert bei Gruber auch die Königin als Auftraggeberin. Beide versuchen alles, um den lästigen Helden loszuwerden – die Königin sogar schwarze Magie. Zur Charakterisierung der Figuren wird auch die Sprache verwendet, so z.B. sprechen der Riese Heuno und seine Mutter Dialekt. Und so lässt auch Gruber französische Ausdrücke in die Rede der Königin einfließen. Das tapfere Schneiderlein Fassung B Text von Guido und Thekla von Kaulla 1963 selbst verlegt im eigenen Verlag in Konstanz Autoren: Guido von Kaulla (1909-1991) kam 1932 zum Theater. Er verwaltete den Nachlass des Dichters Klabund (1890-1928). Nach dem Krieg 1947 ließ er sich mit seiner Frau, der Schauspielerin Thekla von Kaulla (geb. 1915), in Konstanz nieder. Guido von Kaulla war am dortigen Stadttheater bis zu seiner Pensionierung engagiert. Zusammen mit seiner Frau dramatisierte er Märchen für das Kindertheater. Das hier besprochene Märchenstück Das tapfere Schneiderlein (1963) ist nicht der einzige Grimmsche Märchenstoff, der von den Kaullas für die Bühne bearbeitet wurde. Hinzu kommen: König Drosselbart (1953), Schneewittchen (1954), Rumpelstilzchen (1959), Dornröschen (1960), u.v.m. Guido von Kaulla nahm den Vertrieb der Stücke selbst in die Hand, sodass in Deutschland die Stücke nicht von einem Verlag herausgegeben oder verbreitet wurden. Wegen der großen Nachfrage der Theater gab es von den meisten Märchenstücken im Laufe der 1960er Jahren neue Ausgaben bzw. B- Fassungen. Bis heute werden sie von Freilichtbühnen, Amateurtheatern und Laiengruppen aufgeführt. Entstehung und Uraufführung: Das Stück entstand 1963 als Bühnenmanuskript. Zur Uraufführung sind keine Daten vorhanden. Personen: Das Schneiderlein Zappeldei, König Griesgram, Prinzessin Gwendolin, Hofdame Kinkerlitz, Hoftürhüter Firlefanz, Prinz Marzipan, der Riese Schnaributz, sein Zwillingsbruder Laributz und die Musfrau Barbara Hoppetinchen. Orte der Handlung: in der Schneiderstube, vor der Höhle der Riesen und vor dem Tor zum Schlosspark. Anhang 367 Zum Stück: Dem Stück liegt das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm (KHM 20) zugrunde. Die Handlung folgt im Wesentlichen der Vorlage. Erzählt wird insofern bei den Kaullas die Geschichte vom kleinen Schneider Zappeldei, der ein Siebentöter ist: Er hat sieben Fliegen auf einen Streich erledigt. Die ganze Welt soll von dieser Heldentat erfahren. Deshalb zieht er als selbsternannte Held mit Optimismus, heiteren Liedern und seinem neuen Lebensmotto „Siebene auf einen Streich“ durch die Welt. Mit Mut, Listigkeit und Ehrlichkeit muss er seine Abenteuer bestehen. Zwei Riesen, ein anderer Bewerber um Prinzessin Gwendolins Hand (Prinz Marzipan) und ein Einhorn im königlichen Wald sind dem tapferen Schneiderlein nämlich im Weg, bevor er die Hand der schönen Prinzessin sein Eigen nennen kann und damit König wird. Die Kaullas haben das ursprüngliche Märchen der Grimms in drei Bildern dramatisiert.184 Mitten im dritten Bild taucht allerdings eine Anmerkung der Autoren als Nebentext zur 184 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 1-12) Es spielt in einer in der Schneiderstube vom Schneider Zappeldei. Er sitzt auf dem Tisch, singt und näht eifrig. Da kommen Fliegen und er tötet zwei auf einen Streich. Er zeigt dann ein prächtiges Wams und erzählt von seiner Abenteuerlust. (Tanzeinlage). Die Fliegen aber lassen sich nicht abweisen, sondern kommen wieder. Er erledigt sechs auf einen Streich. Es kommt die Musfrau Hoppetinchen. Zappeldei bittet sie, gleich heraufzukommen. Er erzählt ihr von seiner Heldentat. Die Fliegen kommen wieder. (Tanzeinlage). Zappeldei wird von der Musfrau ausgelacht und als Angsthase verspottet. Inzwischen erschient der hochnässige verzogene Tölpelprinz Marzipan, der sich beim Ausrutschen schmutzig macht und daher auch in die Schneiderstube kommt. Der Prinz erzählt, dass er ins Land als Heiratsbewerber um Prinzess Gwendolis Hand kommt. Zappeldei wird vom Prinzen als Winzling ausgelacht und wird deshalb zornig auf ihn. Zappeldei kauft so wenig Mus ein, dass die Musfrau, die ein gutes Geschäft zu machen hoffte, ganz ärgerlich und brummig fortgeht. Zappeldei will hinaus in die Welt und Abenteuer bestehen. Beim Anziehen des Wams setzen sich Fliegen auf das Mus. Er schlägt zu und erledigt sieben Fliegen auf einen Streich. Die ganze Welt soll jetzt von dieser Heldentat erfahren. Deshalb steckt Zappeldei, was er findet, in die Tasche (einen alten Käse und seinen Zeisig) und zieht als selbsternannte Held mit Optimismus, Mut, heiteren Liedern und seinem neuen Lebensmotto „Siebene auf einen Streich“ in die weite Welt. –„Zweites Bild“ (S. 13-27) Es spielt im Wald, vor der Höhle der zwei Riesen. (Tanzeinlage). Hier trifft Zappeldei Prinz Marzipan, den die Riesen Schnaributz und Laributz überfallen und gefangen haben. Es kommen die Riesen. Mit dem Gürtelspruch schafft sich Zappeldei Respekt. Die Kraft von Zappeldei wird dann auf die Probe gestellt: Er soll zunächst Wasser aus einem Stein pressen, dann einen Stein in die Luft werfen. Mit Mut und Listigkeit besteht er beide Proben. (Tanzeinlage). Der 2. Riese fordert Zappeldei zum Schlafen auf. (Tanzeinlage). Inzwischen setzt sich aber Zappeldei über die beiden schlafenden Riesen auf einen Ast und lässt sie mit Steinwürfen aufeinander zornig werden. Sie glauben, vom Genossen geschlagen zu werden und schlagen sich gegenseitig tot. Darum geht dann Zappeldei mutig aufs Schloss, die Prinzessin vom König zur Frau zu erbitten. –„Drittes Bild“ (S. 28-50) Es spielt vor dem Tor zum Schlosspark. Hoftürhüter Firlefanz erscheint, legt sich auf eine Bank und schläft ein. (Tanzeinlage). Prinzessin Gwendolin tritt heraus. Sie stellt sich selbst tanzend und singend vor. Dann erscheint Hofdame Kinkerlitz, die sich selbst auch singend vorstellt. Zappeldei gelangt ins Schloss, legt sich davor ins Gras und schläft. Firlefanz und Hofdame Kinkerlitz entdecken ihn. Prinzessin Gwendolin wird gerufen. Beim Laufen zerreißt sie ihr Kleid. Zappeldei näht es und gibt dabei sogleich zu erkennen, dass er kein großer Ritter ist, sondern in Wirklichkeit ein kleiner Schneider. Anhang 368 Szenenaufteilung auf. Hier wird dem Regisseur die Möglichkeit gegeben, ein neues Bild vor der Szene des Einhornfangens einzubauen. Dabei finden sich auch Hinweise für Bühnenbildner zur Szenerie. Aus der Analyse des Stückes geht hervor, dass zwar die Grundzüge des Märchens übernommen werden, aber in der Ãœbernahme auch der Inhalt auf entscheidende Weise verändert wird. Einerseits wird im Stück die erzählerische Vorlage gekürzt. So wird im Verhältnis zur Grimmschen Fabel das erste Abenteuer mit den Riesen bedeutend abgekürzt: Zwei- statt dreimal muss das tapfere Schneiderlein den Riesen überlisten, eher er gewonnen hat. Darüber hinaus wird bei den Kaullas die Episode mit dem Wildschwein nicht gezeigt. Ausgespart bleibt auch die Episode, in der der Schneider als Bräutigam in der Hochzeitsnacht im Schlaf spricht und dabei sich zu erkennen gibt, dass er kein großer Ritter ist, sondern in Wirklichkeit ein kleiner Flickschneider. Im Vergleich dazu gesteht in der Bühnenfassung Schneider Zappeldei schon bei der ersten Begegnung mit der Prinzessin ein, wer er wirklich ist, und zwar wegen des neu eingefügten Motivs des zerrissenen Kleids der Prinzessin (vgl. im 3. Bild). Daraus ergibt sich, dass der im Märchen geplanter Anschlag gegen den kleinen Schneider bei den Kaullas auch nicht gezeigt wird. An anderer Stelle wird allerdings die Märchenvorlage erweitert, ja sogar die ursprüngliche Geschichte in eine fröhliche, heitere und drollige Handlung umgewandelt. Das Stück weist somit viel Zusatzhandlung und viele kleine Auftritte auf, die auf spannende und humorvolle Weise das Grimmsche Ausgangsmärchen verlängern. So werden z.B. im Verhältnis zur epischen Vorlage die Schneiderstube-, Wald- und Schlossszenen aufgewertet. Das Abenteuer im Wald mit den zwei Riesen steht ganz im Mittelpunkt und wird in der Bühnenfassung der Kaullas sehr komisch umgesetzt. Das Stück birgt eigentlich eine Reihe komischer Situationen, die vor allem durch die Verkörperungen der Hofwelt-Figuren aufrechterhalten wird und die Verhältnisse unter ihnen entwickelt. So ergibt sich z.B. aus der lustigen Vergesslichkeit des Hoftürhüters das neu eingefügte Motiv des bösen Bedrohungsbriefes von den zwei Riesen, in dem geschrieben steht, dass sie die Prinzessin rauben wollen (vgl. im 3. Bild, S. 29ff.). Die Einhornfangen-Episode lässt wegen des Ungeschicks des Prinzen Marzipan und der Ängstlichkeit des Türhüters und der Hofdame auch für Spannung, Heiterkeit und komische König Griesgram erscheint. Zappeldei stellt sich als den tapferen Ritter vor, der das Land von den Riesen befreit hat und die Prinzessin heiraten will. Inzwischen erscheint Prinz Marzipan und behauptet, die beiden Riesen besiegt zu haben. Es kommt zu gegenseitigen Beschimpfungen, dabei entlarvt Prinz Marzipan Zappeldei als Betrüger. Aber Prinzessin Gwendolin beteuert Zappeldeis Ehrlichkeit heftig und will trotz dem Willen ihres Vaters den Schneider heiraten. Um das Vertrauen vom König zu gewinnen, will Zappeldei das Einhorn bezwingen. Unwillig nimmt er den Prinzen, Firlefanz und Hofdame zur Hilfe. Prinz, Firlefanz und Hofdame sind auf der Jagd nach dem Einhorn. Zum Ãœberwinden der Angst singen sie. Zappeldei erscheint, bekämpft das böse Tier und macht es mit List unschädlich. Der König muss sein Versprechen einlösen: Prinzessin Gwendolin darf Zappeldeis Gemahlin sein. Der kleine Schneider bleibt am Ende König. Anhang 369 Situationen sorgen. Damit knüpft das Stück nicht nur an die Form der Slapstick-Komik, sondern stellt auch eine humorvolle Bühnenbearbeitung des Märchenklassikers dar und zeigt somit eine deutliche Tendenz zur Unterhaltung. Darüber hinaus wird bei den Kaullas die Geschichte um das tapfere Schneiderlein im Anschluss an das Ende fortgesetzt – und zwar ohne Bruch und laut Regieanweisung „falls gewünscht“. Auffallend am Stück ist also, dass die Bearbeiter neben dem konventionellen Ende für verschiedene Schlüsse sorgen. Direkt am Anschluss an das „Ende“ ihrer Bühnenfassung tauchen insofern neue Szenen auf, die um eine möglichst lebendige Darstellung der jeweiligen atmosphärischen Stimmungen bemüht sind. Dabei wird auf die weihnachtliche Symbolik angedeutet und diese damit in die Handlung integriert, also mit Nikolaus, Adventskranz, Weihnachtsbaum und Weihnachtslied, nämlich das bekannte deutsche Weihnachtslied „Süßer die Glocken nie klingen“ von dem Theologen und Pädagogen Friedrich Wilhelm Kritzinger (1816-1890) (vgl. dazu Weber-Kellermann 2010: 260ff.). Hier gibt es also detaillierte Anweisungen zur Ausstattung. Daraus geht hervor, dass sich die Bearbeiter ein konkretes Bühnenbild wünschen. Zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren, zu anderen Requisiten und zur Beleuchtung werden auch detaillierte Angaben gemacht. Eine weitere wesentliche Veränderung der Vorlage betrifft die Darstellung der vom Schneiderlein zu bestehenden Abenteuer. Hierbei wird die Reihenfolge der Abenteuer von der Märchenvorlage zur Bühnenbearbeitung teilweise variiert. So wird z.B. die erste Begegnung mit den Riesen in der Bühnenbearbeitung nicht nur leicht modifiziert gezeigt, sondern entspricht eigentlich der Episode mit den zwei schadenstiftenden Riesen im zweiten Teil des ursprünglichen Märchens. Die Kaullas bieten mit ihrer Bühnenbearbeitung ein didaktisch aufbereitetes Märchenspiel. Das Stück wirkt pädagogisch z.B. in der Charakterisierung der Hauptfigur: Der Schneider Zappeldei ist ehrlich, er lügt nicht. Die pädagogische Tendenz zeigt sich auch darin, dass Gewalt herausgenommen bzw. abgemildert wird. Im Stück gibt es einige Brechungen der Handlung, wobei die aktive Einbeziehung der jungen Zuschauer gefördert wird. Das Geschehen wird insofern für einen kurzen Moment durchbrochen, in dem sich der Protagonist an die Zuschauer wendet. Diese werden z.B. durch Zurufe ins Spiel mit einbezogen. Die Kaullas haben im Dialogtext bereits die zu erwartenden Antworten des Publikums festgelegt. Weitere Brechungen der Handlung machen die zahlreichen dekorativen Tanzeinlagen aus, die mit der Märchenvorlage nichts mehr gemein haben. Handlungsbrechend wirken auch die im Stück anzutreffenden Volkslieder mit neuen bzw. abgeänderten Texten, die der Voralge auch ganz fremd sind. Die Lieder haben zum einen eine handlungsbeschreibende oder handlungsbegleitende Funktion, und dienen zum anderen zur Vorstellung der Figuren, so z.B. der zwei Riesen und der Hofdame Kinkerlitz. Dadurch wird Anhang 370 auch einiges zu ihren Charakter gesagt. Die Verwendung von Tanz und Gesang macht das Stück von den Kaullas zu einer ungewöhnlichen Variante. In formaler Hinsicht ist der Stil der dramatischen Sprache insofern bedeutsam, als die Bearbeiter die Sprache als Mittel der Figurencharakterisierung benutzen. Die Rede der Hofwelt- Figuren ist in Reimform gefasst. Und die Musfrau und die Riesen können beliebigerweise und laut Regieanweisungen schwäbischen Dialekt sprechen. Mit den Bühnenbildanweisungen verhalten sich die Kaullas sparsam: Zu Anfang von jedem Bild taucht eine Beschreibung zum Bühnenbildentwurf immer wieder als Nebentext auf, der nur die notwendigsten und wichtigsten Angaben über Ausstattung und Requisite beinhaltet. Die Regieanweisungen geben auch wenige Hinweise zum Auftritt und zur gestischen und mimischen Darstellung der handelnden Figuren. Detailliert fallen allerdings die Beschreibungen der beiden Riesen, des Torwächters und des Einhorns aus. Vor allem die Figuren der Riesen und des Torwächters werden von den Bearbeitern durch Aussehen, Stimme, Sprechweise, Handlung, Mimik und Gestik genau festgelegt. Besetzungshinweise für den Regisseur finden sich in einer Vorbemerkung der beiden Bearbeiter, und zwar bereits in der Personenauflistung. Daraus geht hervor, dass das Stück von neun Darstellern (3 Damen und 6 Herren) gespielt werden soll, eine Doppelbesetzung kann aber auch vorkommen. So können die Rollen der Riesen und die von König und Hoftürhüter von den gleichen Schauspielern gegeben werden. Zur Figuration: Bei den Brüdern Grimm wie auch bei den Kaullas geht es nicht um Psychologisierung oder Individualisierung der Figuren: Die Rollen sind stereotyp und kontrastierend gestaltet und verkörpern jeweils nur einen Wesenszug, wie z.B. gut oder böse, ehrlich oder unaufrichtig, mutig oder ängstlich. Doch anders als die Märchenfiguren wirken die Figuren im Stück menschlicher. Die zentrale Figur des Stückes ist der Schneider Zappeldei. Er vereinigt alle positive Eigenschaften in sich: Er ist tapfer, aufrichtig und listig. So will der immer wieder als Winzling verspottete Schneider der Welt zeigen, was er kann, sobald er erstmal die ungeahnten Fähigkeiten entdeckt hat, die in ihm verborgen liegen. Seine Angst ist ein listiger Motor. Und so bekämpft er kühn und listig nicht nur die Riesen im Wald, sondern beseitigt sogar das wütende Einhorn, das das Land bedroht und verwüstet. Deshalb, auch wenn er nur ein einfacher Schneider ist, darf er die Prinzessin bekommen. An der Seite des listigen Schneiderleins steht eine selbstbewußte Königstochter. Prinzessin Gwendolin wird als liebenswerte Person charakterisiert. Sie wird als eher schlichte Person gezeigt, weit weg eigentlich von dem im Grimmschen Märchen üblichen Prinzessin-Bild. Anders als im Ausgangsmärchen wird also in der Bühnenfassung der Hochmut der Königstochter gebrochen von einem Schneider, der sogleich und mit großer Offenheit seine Anhang 371 Herkunft bekennt: Nämlich, dass er in Wirklichkeit kein großer Ritter, sondern ein kleiner Schneider ist. Da beteuert die Prinzessin Zappeldeis Ehrlichkeit heftig und will trotz dem Willen ihres Vaters den Schneider heiraten. Dem Stolz und dem Hochmut werden damit die Schlichtheit und die Offenheit gegenübergestellt. Die der Hofsphäre angehörigen Gestalten werden überhaupt als dumm-lustige Figuren dargestellt. Vor allem durch die karikiert dargestellten Figuren der Hofwelt erfährt das Stück seine komödiantische Wirkung. Schon die Namen einiger der handelnden Figuren tragen zur Komik bei. Im Stück finden sich insofern mehrere Figuren mit ausgefallenen, sprechenden Namen, welche ihrer Bezeichnung und Identifikation dienen. Dazu zählt z.B. die von den Kaullas neu eingesetzte Figur des Prinzen Marzipan, der zusätzlich und sehr amüsant Verwirrung stiftet und eine Kette komischer Situationen auslöst. Der Prinz ist eine komische Figur überhaupt. Schon zu Beginn des Stückes tritt er als Tölpel auf und wird mit seinem Ungeschick der Lächerlichkeit preisgegeben. Zunächst ist er als Zappeldeis Gegenbild bzw. - spieler konzipiert, dann auch als Helferfigur. Im Vergleich zum Schneider vereinigt er negative Eigenschaften in sich: Er wird als Lügner und Betrüger dargestellt, indem er behauptet, die beiden Riesen besiegt zu haben. Daher ist er gegenüber dem ehrlichen Schneider Zappeldei als Heiratsbewerber chancenlos. Neben Prinz Marzipan sind auch noch zwei weitere hinzuerfundene, auch als karikiert dargestellte Figuren: Hoftürhüter Firlefanz und Hofdame Kinkerlitz. Die drei Figuren stehen dem tapferen Schneider Zappeldei beim Einhornfangen mit Tat zur Seite, wenngleich deren guter Wille größer als ihre Fähigkeiten ist. Damit nehmen sie als Kollektiv die Rolle des Helfers ein. Das tapfere Schneiderlein Märchen-Lustspiel nach Grimm Text von Karlheinz Komm Erschienen 1970 als Bühnenmanuskript im Gerhard Dietzmann Verlag, Hamburg185 Autor: Karlheinz Komm wurde 1934 in Bielefeld geboren. Nach dem Studium der Pädagogik war Komm als Lehrer tätig, bevor er – noch während seiner Berufstätigkeit – Gesangs- und Schauspielunterricht nahm. In den 1970er Jahren gab er den Schuldienst auf und wechselte zum Theaterfach. Als Dramaturg, Regisseur und Schauspieler lernte Komm verschiedene Theater in Deutschland (Regensburg, Feuchtwangen, Detmold, Hagen und Hannover) kennen, bis er sich ganz aufs Schreiben konzentrierte. Seine Schauspiele und besonders seine Volksstücke, die z.T. in verschiedene Dialekte und Sprachen übersetzt worden sind, werden gern und oft gespielt. Aus seiner Feder sind über 30 Kinder- und Jugendtheaterstücke entstanden. Dabei handelt es 185 Die Aufführungsrechte für dieses Werk vertritt heute der Verlag Felix Bloch Erben im Auftrag der Edition Meisel GmbH Musik- und Bühnenverlage, Berlin. Anhang 372 sich vor allem um Bühnenbearbeitungen bekannter Märchen und Jugendbücher, die im ganzen deutschsprachigen Raum mit großem Erfolg gespielt werden. Neben dem hier besprochenen Märchenstück sind u.a. Vom Fischer und seiner Frau (1975), Der gestiefelte Kater (1975), Hänsel und Gretel (1988), Die Bremer Stadtmusikanten (1990) und Dornröschen (1991) zu erwähnen. Außerdem ist Komms schriftstellerische Fähigkeiten in seinen Gedichten zu finden.186 1995 trat Komm in den Ruhestand und übernahm ehrenamtliche Tätigkeiten als Autor, Regisseur und Schauspieler in verschiedenen Lübbecker Einrichtungen, u.a. gründete er das Senioren-Theater „Senioritas“. 2009 wurde ihm für sein Engagement, Menschen für Kultur und Theater zu begeistern, das Bundesverdienstkreuz verliehen. Karlheinz Komm starb 2013. Uraufführung: 19.10.1969, Rendsburg. Personen: Johann Jakob Stich, das tapfere Schneiderlein; der König; die Prinzessin; Hofmarschall von Trampel; Pepp und Popp, zwei furchtbare Riesen; Sebastian Knösel, Kantor; Marmeladenjule; das Einhorn und das Wildschwein. Orte der Handlung: Schneiderstube, königliches Schloss und Wald. Zum Stück: Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 20). Eine Inhaltsübersicht ergibt Folgendes: In der Frühstückspause von Schneider Johann Jacob Stich erscheint Kantor Sebastian Knösel: Der Sonntagsfrack passt nicht mehr. Doch Schneider Stich hat eigene Probleme: Das Pflaumenmus ist alle. Mit Marmeladenjule kommt nicht nur das Mus, sondern auch der neueste Tratsch vorbei: Der König will seine Tochter mit dem Mann verheiraten, der das Land von den drei Plagen befreit: Zwei furchtbaren Riesen, einem gewaltigen Einhorn und einem schrecklichen Wildschwein. Da ereilt den Schneider die eigene Plage: Hungrige Fliegen stürzen sich auf das Musbrot. Mit einem Lappen erlegt er „Sieben auf einen Streich“ und ist sich sicher: Er kann auch Riesen, Einhorn und Wildschwein bezwingen. Entschlossen und frohgemut macht er sich auf den Weg in die weite Welt, den Ruf seiner Heldentat zu verbreiten. Mit Mut und Listigkeit besteht er die Proben und am Ende kann er noch die Hand der zur Vernunft zurückgebrachten Prinzessin sein Eigen nennen und damit König werden. Komms Bühnenbearbeitung ist in fünf Bildern gegliedert. Die einzelnen Bilder sind wiederum in relativ kurze, schnell ablaufende Auftritte unterteilt. Nach dem 3. Bild ist eine große Pause eingelegt.187 186 Zu Komms Veröffentlichungen vgl.: Lexikon Westfälischer Autorinnen und Autoren (1750-1950) auf http://www.autorenlexikon-westfalen.de (letzter Zugriff: 14.10.2015). 187 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: Anhang 373 Komms Bühnenfassung orientiert sich zwar eng an der epischen Vorlage. Diese wird aber an einigen Stellen reduziert und damit der Inhalt auf entscheidende Weise verändert. Es sind hier –„Erstes Bild“ (S. 7-16) Es spielt in der Schneiderstube vom Schneider Johann Jakob Stich. Er sitzt auf dem Schneidertisch und arbeitet lustlos. In der Frühstückspause will er sich ein Musbrot machen, aber das Mus ist alle. Da erscheint Kantor Sebastian Knösel: Sein Sonntagsfrack passt nicht mehr. Es kommt die Bauersfrau, die gutes Pflaumenmus verkauft. Darum wird sie vom Schneider gebeten, in die Schneiderstube hereinzukommen. Mit ihr kommt nicht nur das Mus, sondern auch der neueste Tratsch aus der Zeitung vorbei: Der König will seine Tochter mit dem Mann verheiraten, der das Land von den zwei Riesen, dem Einhorn und dem Wildschwein befreit. Der Schneider kauft so wenig Mus ein, dass die Bauersfrau, die ein gutes Geschäft zu machen hoffte, über ihn schimpft und ganz ärgerlich und brummig fortgeht. Dabei vergisst sie einen Honigtopf. Der Schneider schmiert dann ein Musbrot und singt. Da ereilt ihn die eigene Plage: Fliegen stürzen sich auf das Mus. Mit einem Lappen erlegt er sieben auf einen Streich und ist sich sicher: Er kann auch Riesen, Einhorn und Wildschwein bezwingen. Er stickt den Wahlspruch „Sieben auf einen Streich“ auf seinen Gürtel, und entschlossen macht er sich tapfer auf den Weg, um das Land von den drei Plagen zu befreien und die Prinzessin zu heitraten. Als Heiratsanzug nimmt er den Sonntagsfrack von Kantor Knösel. Marmeladenjule kommt in die Schneiderstube und will den Honigtopf, den sie vergessen hatte, holen. Dabei hält sie eine Schneiderpuppe für den Schneider. Da erscheint Kantor Knösel und will seinen Sonntagsfrack abholen. Beide machen sich auf den Weg zum Düsterwald, um den Schneider zu suchen. –„Zweites Bild“ (S. 17-23) Schneider Stich gelangt zum Königshof, wo er darauf wartet, vom König empfangen zu werden. Inzwischen wird die Prinzessin gerufen: Sie ist schnell hochmütig und abfällig, und weist den Schneider als Heiratsbewerber ab, weil er kein Ritter und nicht vom Adel ist. Der Schneider wird dann vom König empfangen und stellt sich als den tapferen Ritter Sieben-auf- einen-Streich vor. Mit dem Versprechen, ihm seine Tochter und das Reich zu geben, stellt der König ihm die Aufgabe, die zwei furchtbaren Riesen und die bösen Tiere zu überwältigen. Die Prinzessin fordert aber, dass Hofmarschall von Trampel in den Wald geht und die Bösewichter besiegt. Tut er so, dann will sie ihn gerne heiraten. Trotz seiner Feigheit geht von Trampel aus Angst vor Bestrafung der Prinzessin in den Wald. –„Drittes Bild“ (S. 24-32) Auf der Suche nach dem Schneider Stich halten sich Kantor Knösel und Marmeladenjule im verzauberten Wald auf. Dabei musiziert der Kantor zusammen mit den Vögeln. Während der Waldmusik kommt das Einhorn. Zwei Riesen, Pepp und Popp, erscheinen und erzählen von ihren Schadenstiftungen. Inzwischen erscheint der Schneider, setzt sich über die Riesen auf einen Ast und lauscht, wie diese einen Zauber ausprobieren. Dann lässt er die beiden schlafenden Riesen mit Steinwürfen aufeinander zornig werden. Sie glauben, vom Genossen geschlagen zu werden, prügeln sich, geraten dabei in den Zauberkreis und bleiben verzaubert. –„Viertes Bild“ (S. 24-32) Im Wald. Es ist Abend. Um Einhorn und Wildschwein zu fangen, stellt von Trampel Fallen auf: Er bestreicht einen Baustamm mit Leim und hängt ein Netz an den Baum. Schneider Stich erscheint, bekämpft das Einhorn und macht es unschädlich: Er springt so geschickt hinter einen Baum, dass sich das Einhorn selbst aufspiesst. (Musikeinlage). Kantor Knösel und Marmeladenjule erscheinen im verzauberten Wald und bleiben auf dem mit Leim bestrichenen Baumstamm sitzen. Daraufhin erscheint von Trampel und fängt sich selber im Netz. Wildschwein und Schneider treten auf. Der Schneider schafft mit einer List, das Wildschwein in die Kapelle einzusperren. Dann hilft er von Trampel aus dem Netz heraus und holt die beiden Riesen, um Kantor Knösel und Marmeladenjule zu befreien. Inzwischen bittet der Kantor um die Hand der Marmeladenjule. Alle (Stich, Knösel, Bauersfrau, Riesen, Einhorn und Wildschwein) marschieren zum Königsschloss. –„Fünftes Bild“ (S. 44-50) Es spielt im königlichen Schloss. Die Prinzessin will keinen Schneider heiraten, aber der König will trotzdem sein Versprechen einlösen. Der Festzug tritt vor König und Prinzessin an. Der Schneider wird zum Ritter Stich geschlagen. Die Riesen, das Einhorn und das Wildschwein werden vom König begnadigt. Die Prinzessin denkt nicht daran, einen Schneider zum Mann zu nehmen, und wird spöttisch und höhnisch. Da wird sie verzaubert, und muss im Zauberkreis solange sitzen, bis sie sich beim Schneider entschuldigt. Dieser wird dann König und die Hochzeit wird mit großer Pracht gefeiert. Kantor Knösel darf endlich Orgel spielen. (Hochzeitsmarsch als Schlussmusik). Anhang 374 nur zwei der entscheidenden Änderungen zu nennen. Die erste betrifft die erste Begegnung mit den Riesen, die im Stück ganz ausgespart bleibt. Damit wird bei Komm die ursprüngliche Geschichte auf die drei Aufgaben reduziert, die der Schneider nacheinander vollbringen muss, bevor er die Königstochter heiraten darf: Die zwei Riesen bezwingen und das Einhorn und das Wildschwein fangen. Die Bühnenfassung vermittelt somit den Eindruck, dass die Handlung im Vergleich zur Märchenvorlage zu raschem Fortschreiten neigt. Weggelassen wird auch die Episode, in der der Schneider als Bräutigam in der Hochzeitsnacht im Schlaf spricht und dabei sich zu erkennen gibt, dass er kein großer Ritter ist, sondern in Wirklichkeit ein kleiner Flickschneider. Damit fehlt also auch der Anschlag-Handlungsstrang der Vorlage. Das Stück zeigt daneben aber auch viele hinzuerfundene, fantasievolle „Zutaten“, die den Inhalt des Grimm-Märchens auch bedeutend verändern. So wird z.B. durch die neu eingebaute Zauber-Episode mit den Riesen Pepp und Popp nicht nur die erzählerische Vorlage erweitert, sondern auch eine Zuspitzung der fabelhaften Elemente erreicht. Das Zaubermotiv wiederholt sich dann am Stückschluss, wo die Prinzessin verzaubert wird und im Zauberkreis solange sitzen muss, bis sie sich beim Schneider für ihren ausgeprägten Hohn entschuldigt. Darüber hinaus wird die Vorlage auch mit weiteren Motiven, d.h. mit anderen Zusatzmotivationen für die Handlungsweisen einiger der im Stück auftretenden Figuren erweitert, vor allem um die Figur der Bauersfrau (Marmeladenjule), die den Aufbruch des Schneiders Stich bereitet. Denn mit ihr kommt nicht nur das Mus, sondern auch die Nachricht, dass der König seine Tochter mit dem Mann verheiraten will, der das Land von den drei Plagen befreit. Zusammen mit der neu eingesetzten Figur des Kantors Knösel macht sich dann die Bauersfrau auf den Weg zum Düsterwald. Der Aufbruch der beiden Figuren ist eigentlich von dem neu eingefügten „Sonntagsfrack“-Motiv begleitet: Um sein Vorhaben, die Prinzessin zu heiraten, wahr zu machen, nimmt Schneider Stich den Sonntagsfrack des Kantors mit. Dadurch wird also das ursprüngliche Märchen nicht nur komplexer, sondern kommt es auch zur expliziten Motivation des Aufbruchs des Kantors: Er braucht seinen Frack, denn sonst kann er keine Orgel bei der Hochzeit spielen. Weitere Erweiterungen betreffen zum einen die von Komm hinzuerfundene Episode, in der der Hofmarschall des Königs (von Trampel) Fallen zum Fangen der bösen Tiere aufstellt, und zum anderen das Märchenende. Im Anschluss daran taucht in Komms Bühnenbearbeitung eine neue Szene auf, die um eine möglichst wahrheitsgemäße Darstellung der im vorletzten Auftritt angekündigten Hochzeit zwischen dem Schneider und der Prinzessin bemüht ist, zwar mit Brautpaar-Einzug in die Kapelle und dazu noch laute Orgelmusik. Hier wird im Nebentext ausführliche Anweisung zu Ausstattung, Auftritt und Darstellung der Figuren gegeben. Auffallend am Stück ist auch, dass es im Vergleich zur epischen Vorlage ein versöhnliches Ende liefert. So werden die beiden Riesen vom König nicht mit dem Tod bestraft. Anstatt der Anhang 375 Todesstrafe werden sie dazu verurteilt, die kaputten Straßen des Landes zu bauen. Und Einhorn und Wildschwein sollen in den Tierpark, damit sich die Kinder auf ihren Besuch freuen können. Im Stück gibt es einige Brechungen der Handlung durch das tapfere Schneiderlein-Lied, das die Handlung begleitet bzw. kommentiert. Der Refrain des Liedes: „Ich bin das tapfere Schneiderlein! / Das sieht ein jeder gleich, / ich wandre in die Welt hinein. / Sieben auf einen Streich!“ zieht sich leitmotivisch durch das Stück. Mit dem Lied wird auch die Handlung angekündigt. Handlungsbrechend wirkt auch die im 2. Bild anzutreffende Musikeinlage, die mit der Märchenvorlage nichts mehr gemein hat und auch keinen Fortgang der Geschichte mit sich bringt. Das Geschehen wird insofern für einen kurzen Moment von einer „kleinen Waldmusik“ durchbrochen, bei der Kantor Knösel zusammen mit den Waldvögeln musiziert. Komms Stück ist ein didaktisch aufbereitetes Märchenspiel. Besonders pädagogisch wirkt es in der Charakterisierung der scheinbar unbezähmbaren Prinzessin. Sie ist eine mit rein negativen Zügen ausgestattete Figur: Sie ist hochmütig, abfällig und ungezähmt, also ein echtes „wild Child“, das nur noch richtig erzogen werden soll. Insofern stellt der heiratslustige Schneider Stich sich selbst die Aufgabe, alles zu versuchen, um die unerzogene Prinzessin wieder zur Vernunft zu bringen. Dem Bühnentext geht eine genaue Bühnenbeschreibung voraus. Daraus geht hervor, dass sich der Bearbeiter ein konkretes Bühnenbild je nach Handlungsstand wünscht. Daher werden in einem ausführlichen Dekorationsplan detaillierte Hinweise für Regisseur, Bühnenbildner und Technik gegeben. Zu Anfang von jedem Bild taucht dann eine sparsame Beschreibung zum Bühnenbildentwurf immer wieder als Nebentext auf, der nur die notwendigsten und wichtigsten Angaben zu Ausstattung und Requisiten beinhaltet. Die Regieanweisungen beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben zu Auftritt, Aussehen und gestisch- mimischer Darstellung der handelnden Figuren, außer der ausführlichen Anweisung zur Szene der Hochzeitszug im letzten Auftritt. Besetzungshinweise für den Regisseur finden sich in einer Vorbemerkung des Bearbeiters. Das Stück soll von neun Darstellern (3 Damen und 6 Herren) und fünf Tänzern gespielt werden, eine Mehrfachbesetzung ist also erforderlich. Zur Figuration: Im Stück liegen das Figurenpersonal betreffende Erweiterungen bzw. Veränderungen vor. Zwei neue Figuren hat Komm seinem Stück hinzugefügt: den Kantor Sebastian Knösel und den Hofmarschall von Trampel. Letzterer tritt eigentlich an die Stelle eines Kollektivs, also der Kriegsleute des Ausgangsmärchens auf. Die Figuren sind charakterlich verschieden gezeichnet. Sie bleiben eindimensionale Typen, d.h. sie sind in ihrer Biografie überhaupt nicht charakterisiert. Die zentrale Figur des Stückes ist der Schneider Stich. Er erscheint als ein guter, mutiger Typ. Die Prinzessin zeichnet sich durch negative Eigenschaften. Sie erscheint bei Komm als garstige Person: Sie verhält sich Anhang 376 hochmütig, wird schnell abfällig und höhnisch und weist den Schneider als Heiratsbewerber ab, weil er kein Ritter, also nicht vom Adel ist. Die restlichen Figuren kennzeichnet Komik. Die von Komm neu eingebaute Figur des Kantors ist ein begriffsstutziges, vergessliches Wesen überhaupt. Er sorgt im Lauf des Stückes für Verwirrung und komische Situationen. Seine komödiantische Wirkung erfährt das Stück auch durch die von der Bauersfrau verursachten komischen Situationen. Der Hofmarschall steht dem Schneider gegenüber. Ãœberhaupt tritt er auch als komische und tölpelhafte Figur auf, nicht umsonst heißt er von Trampel. Mit seiner Angst und Feigheit sowie seiner Ungeschicklichkeit wird er der Lächerlichkeit preisgegeben. Durch diese Figuren und die von ihnen verursachten Situationen kommt es also zu einer humorvollen Bearbeitung des Grimmschen Märchenklassikers überhaupt. Das tapfere Schneiderlein Ein Märchenspiel in vier Bildern nach den Brüdern Grimm Text von Gert Richter Erschienen 1977 als Bühnenmanuskript in Chronos Verlag Martin Mörike / Theaterverlag Friedrich Oetinger, Hamburg188 Autor: Gert Richter wurde 1929 in Leipzig geboren. Nach Abschluss seiner Schulausbildung studierte er vom 1948-50 Schauspiel, anschließend Germanistik, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft an der Universität Leipzig. Später arbeitete er an verschiedenen deutschen Bühnen. 1953 erhielt er sein erstes Engagement als Dramaturg am Theater der Werftstadt Wismar, von 1954 bis 1958 war Richter als Chefdramaturg am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin tätig. 1958 wechselte er als Chefdramaturg und Spielleiter zum Stadttheater Hildesheim. Hier wurde auch die Mehrzahl seiner Bühnenmärchen uraufgeführt. 1962 wechselte Richter vom Theater ins Verlagswesen über und arbeitete dreißig Jahre als Chefredakteur beim Bertelsmann Lexikon Verlag in Gütersloh. Von 1989 bis 2009 gab er als Chefredakteur die Fachzeitschrift film & video heraus, das Verbandsorgan des Bundesverbandes deutscher Amateurfilmer (BDFA). Seitdem ist er pensioniert. Neben seinen Werken zur Theater-, Kultur- und Literaturgeschichte hat Richter Kinderstücke und Bearbeitungen für das Theater verfasst, besonders von klassischen Märchenstoffen. Neben dem hier besprochenen Märchenstück hat er weitere Märchenvorlagen nach den Brüdern Grimm, Hauff, Andersen und Tausendundeine Nacht für das Kindertheater bearbeitet. Uraufführung: Die Uraufführung fand im Stadttheater Hildesheim statt. Angaben zum genauen Uraufführungsjahr können nicht gemacht werden. 188 Heute beim Verlag für Kindertheater Weitendorf in Hamburg zu finden. Anhang 377 Personen: Fridolin Leichtfuß, ein Schneider; Frau Minchen Brumm, Pflaumenmusfrau; König Miesepeter vom Pflaumenbaumland; Prinzessin Rosenblüte, seine Tochter; Kriegsminister; Leibarzt; Muskelprotz, königlicher Mauerstützer und Dachbalkenhalter; Knurrhaupt und Spitzkopf, zwei Riesen; Wildschwein; Einhorn. Orte der Handlung: in der Schneiderstube; am Königshof im Pflaumenbaumland; im Wald. Zum Stück: Richters Märchenstück bietet sich als stoffliche Grundlage das gleichnamige Grimmsche Märchen (KHM 20) an. Es besteht aus vier Bildern.189 Aus dem Stückinhalt geht hervor, dass die Gründzüge des Märchens zwar übernommen werden. Allerdings zeigt Richters Bühnenfassung eine Geschichte, die an einigen Stellen von der Fabel der Vorlage abweicht. 189 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 1-24) Es spielt in der Schneiderstube. Der Schneider Fridolin Leichtfuß hockt auf seinem Schneidertisch, singt und arbeitet fleißig. Da will er sich ein wenig von seiner Lieblingsspeise (Pflaumenmus) leisten. Dabei erzählt er, warum er es so sehr mag, und von seiner Kindheit. Daraufhin lässt er eine vorübergehende Marktfrau (Minchen Brumm) in seine Schneiderstube heraufkommen. Frau Brumm erzählt Fridolin vom Pflaumenbaumland. Dort stehlen nicht nur zwei Riesen alle Pflaumen, sondern es gibt auch ein riesengroßes Wildschwein und ein gefährliches Einhorn. Darum hat König Miesepeter demjenigen, der die Riesen und die Tiere besiegt, seine Tochter zur Frau versprochen. Frau Brumm erzählt Fridolin vom Pflaumenbaumland. Dort stehlen nicht nur zwei Riesen alle Pflaumen, sondern es gibt auch ein riesengroßes Wildschwein und ein gefährliches Einhorn. Darum hat König Miesepeter demjenigen, der die Riesen und die bösen Tiere besiegt, seine Tochter zur Frau versprochen. Fridolin will sich sofort auf den Weg zum Pflaumenbaumland machen, aber zuerst will er Frau Brumm beweisen, dass sie nicht hässlich ist. Fridolin tauscht ein Kleid gegen einen Topf Mus um und schmiert dann ein Musbrot, doch es setzen sich Fliegen darauf. Da schlägt er mit einem Lappen zu, erschlägt sieben und bewundert die Heldentat und seine Tapferkeit. Er stickt den Kampfspruch „Sieben auf einen Streich!“ auf seine Weste, steckt er, was er findet (einen Kanten Brot, einen Käse, seinen Vogel und den Topf Mus) und zieht in die Welt. –„Zweites Bild“ (S. 25-73) Fridolin gelangt zum Königshof im Pflaumenbaumland, wo es recht wüst aussieht. Es erscheinen der Kriegsminister, der Leibarzt und König Miesepeter. Fridolin stellt sich als den tapferen Ritter Sieben-auf-einen-Streich vor, der das Land von den Riesen befreien und die Prinzessin heiraten will. Prinzessin Rosenblüte wird gerufen, doch sie hat schlechte Laune und will nichts davon wissen. Stattdessen fordert sie, dass Fridolin auf eine Probe gestellt wird: Er soll mit Muskelprotz, dem „königlichen Mauerstützer und Dachbalkenhalter“ kämpfen. Fridolin hält den Proben auf seine Weise stand. Um Fridolin loszuwerden, stellt dann die Prinzessin ihm noch drei Aufgaben: Die Riesen zu besiegen sowie das Einhorn und das Wildschwein zu fangen. Bei Fridolins völliger Verzweiflung gibt Frau Brumm, die zur rechten Zeit gekommen ist, Rat: So gesteht er der Königstochter, dass er ein Schneider ist, und verspricht, ein schönes Kleid für sie zu schneidern. Schnell verliebt sie sich in ihn, und nachdem sie das Pflaumenmus probiert hat, wird sie gutgelaunt. Bei den drei Aufgaben halten dann Frau Brumm und die Prinzessin zu Fridolin treulich. –„Drittes Bild“ (S. 74-95) Es spielt im Wald. Dort beobachten alle drei, wie die Riesen Knurrhaupt und Spitzkopf sich streiten. Fridolin setzt sich über die schlafenden Riesen auf einen Ast und lässt sie mit Pflaumenkernewürfen aufeinander zornig werden: Sie geraten so sehr in Streit, dass sie Bäume ausreißen und sich so schlagen, bis beide zu Boden sinken. Mist List schafft Fridolin auch, die beiden schadenstiftenden Tiere zu bezwingen. –„Viertes Bild“ (S. 96-114) Im Schlosshof fordert Fridolin vom König den Lohn. Der König muss sein Versprechen einlösen, die Hochzeit soll also gefeiert werden. Doch vor der Hochzeit lauert der Hofstaat erneut auf den kleinen Schneider: Der Kriegsminister und der Leibarzt verschwören sich und wollen Fridolin loswerden, weil er nur ein kleiner Flickschneider ist. Während des Hochzeitsfests lassen die beiden Intriganten die Riesen, das Wildschwein und das Einhorn los. Die Ungeheuer stürzen sich auf die Hochzeitsgesellschaft, aber Fridolin gelingt es, sie wieder unschädlich zu machen. Am Ende werden die beiden Verräter davongejagt und Fridolin kann endlich die Prinzessin heiraten. Anhang 378 Schon der Ausgangspunkt der Handlung bildet einen Unterschied zwischen Stück und Vorlage. Während die Ausgangslage im Märchen durch ein Bedürfnis nach Abenteuerlust des Helden gekennzeichnet wird, wird sie in der Bühnenbearbeitung durch Richter hautpsächlich bestimmt durch den Wunsch des Protagonisten, sich zu vermählen. Der thematische Fokus des Stückes verlagert sich dann ausschließlich auf das märchenhafte Motiv der Brautwerbung. Inhalt des Stückes ist wesentlich die Beseitigung der Schwierigkeiten, die der Erwerbung der Prinzessin und der endgültigen glücklichen Vereinigung entgegenstehen. Ziel und Schluss der Geschichte ist die Heirat des Schneiders. Noch beim Ausgangspunkt wird die Handlung in die Vorgeschichte erweitert, da es aus der Perspektive der Protagonisten eine Erinnerungsebene gibt. Mittels einer narrativen Vermittlung berichtet insofern der Schneider Fridolin von seiner Kindheit (vgl. im Bild 1). Der Bericht über ein vergangenes Erlebnis tritt dann wieder auf. Damit wird vom Autor eine Biografie bzw. Geschichte des Protagonisten bereitgestellt. Eine weitere Variation in der Handlung bildet die im ursprünglichen Märchen isolierte Episode mit dem ersten Riesen, dem der kleine Schneider auf einem Berg begegnet. In der Bühnenbearbeitung wird dieser Vorgang nicht gezeigt bzw. anders dargestellt: Abgesehen davon, dass bei Richter der Riese kein echter Riese ist, sondern ein ungeheuer starker Mann, nämlich der „königliche Mauerstützer und Dachbalkenhalter“ Muskelprotz, hat der Schneider im Märchenstück die gleichen Proben wie in der Grimm-Vorlage standzuhalten. Die slapstickartigen Komik-Einlagen und die spannenden Verfolgungsszenen, die im Laufe des Stückes (z.B. im 3. Bild) anzutreffen sind, stellen auch Abweichungen zur erzählerischen Vorlage dar. Dabei stehen die vom Schneiderlein zu bestehenden Aufgaben im Mittelpunkt. Die Grundzüge des Märchens werden hier zwar übernommen, aber in der Ãœbernahme wird der Inhalt leicht verändert. So lässt der kleine Schneider die beiden Riesen mit Pflaumenkernewürfen aufeinander zornig werden, bis beide tierisch auf einander eindreschen. Und so wird das Wildschwein mit Pflaumenmus zum Käfig gelockt, gefangen genommen und dadurch unschädlich gemacht. Das Einhorn-Fangen bildet dann bei Richter eine torero-artige Szene, die im Nebentext weitgehend genau beschrieben wird. Der Schluss zeigt weitere starke Unterschiede zwischen Vorlage und Bearbeitung. Eine erste Variation besteht darin, dass im Märchen die Herkunft des Helden erst am Ende klar wird, bei Richter dagegen schon im 2. Bild. Die Reaktion der Prinzessin wirkt auch vollkommen anders: Bei den Grimms akzeptiert sie des Schneiderleins Herkunft nicht, bei Richter hingegen freut sie sich, Fridolin zu heiraten. Daneben werden vom Bearbeiter zirkusartige Szenen eingebaut, die sich während des Hochzeitsfests abspielen. Hier wird eine Reihe aufeinanderfolgender Kunstücke vom starken Muskelprotz vorgeführt. Eine dritte Abweichung von der Märchenvorlage betrifft den Anschlag-Handlungsstrang, der im Stück umgeschrieben wird. Bei Richter handelt es sich eigentlich um eine Verschwörung des Hofstaats. Auffallend am Anhang 379 Stückschluss ist auch noch, dass die Geschichte ein teilweise versöhnliches Ende nimmt. Etwas ungewöhnlich fällt die am Ende des Stückes einsetzende direkte Anrede der Hauptfigur ans Publikum auf. Dadurch wird die Geschichte abgeschlossen. Im Gegensatz zum Grimmschen Märchen, wo die Figuren nichts lernen, gewinnt also bei Richter der pädagogische Aspekt eine große Bedeutung. Neben dem versöhnlichen Ende sind im Stück weitere didaktisch relevante Züge zu finden. Darüber hinaus entwickelt Schneider Fridolin ein Bewusstsein von Ehrlichkeit und Freundlichkeit der Prinzessin gegenüber. Die pädagogische Botschaft lautet: Es reicht nicht nur tapfer zu sein, sondern man muss ehrlich und freundlich handeln. Soweit es die Darstellung der Geschichte betrifft, so vergrößern die Parallelismen unter den Bildern und Szenen die Durchsichtigkeit und den Zusammenbau des Bühnenstückes. Als Beispiel davon sei hier nur auf eine Szene am Ende des 2. Bilds verwiesen, als Schneider Fridolin verzweifelt bleibt, die Musfrau ihm Rat gibt und dadurch ihm wieder Zuversicht verleiht. Dabei handelt es sich um eine wiederkehrend ähnliche Situation zur Szene am Anfang des 1. Bilds, wo die Musfrau durch den Schneider Selbstvertrauen gewinnt. Zwar ist hier von Wiederholung die Rede, aber eigentlich wird nun die Szene mit der Szene im 1. Bild gegenteilig dargestellt. Denn einmal ist Schneider Fridolin, der inmitten von Verzweiflung Hoffnung bringt, dann ist es die Musfrau, die sich um den kleinen Schneider kümmert. Was die drei Einheiten (Ort, Zeit und Handlung) anbelangt, gibt es im Stück eine deutliche Abkehr von der traditionellen Dramatik. So wird die Geschlossenheit der Handlung unterbrochen und immer wieder in ihrem Handlungsfluss durch Musik und Tanz gebrochen, wobei bei Richter die Grimmsche Originalfabel reicher geschmückt wird: Ein Sortiment von Liedern und eine Fülle von dekorativen Balleteinlagen werden nämlich in den Märchenrahmen eingehängt. Die Lieder dienen nicht nur der Stimmung, sondern auch der Vorstellung der Figuren, allen voran des Schneiders, sowie der musikalischen Begleitung der Handlung. Als Beispiel von den im Stück immer wieder vorzufindenden Balletteinlagen sei hier nur auf die traumhafte Tanzszene im 3. Bild verwiesen, in der Richter verschiedene Waldwesen und -tiere tanzend auftreten lässt. Zur Zeitstruktur des Stückes ist zu bemerken, dass sie am ehesten der Chronologie der Ereignisse folgt, allerdings mit kleineren Zeitsprüngen – und zwar wenn Perspektivenwechsel auftreten, vor allem durch die narrative Vermittlung vergangener Lebenserfahrungen des Protagonisten bedingt. Im Stück liegt daneben eine offene Zeitstruktur. Die reale Spielzeit stimmt insofern nicht mit der fiktiven gespielten Zeit überein. Die Handlung spielt sich in einem Zeitraum von drei Tagen ab. Das wird durch eine Temporalangabe in der Figurenrede markiert: „Fridolin: Ich bin König! Hurra! Ich bin König! Na, wer hätte das vor drei Tagen gedacht! [...]“ (Bild 4, S. 109). Konkret wird der Zeitablauf durch tageszeitliche Einordnungen und Uhrzeiten Anhang 380 verdeutlicht. Es wird also deutlich, dass es keine Einheit der Zeit im Sinne der traditionellen Dramatik gibt. Es gibt schließlich auch keine Einheit des Orts. Das Stück findet an verschiedenen Schauplätzen: in der Schneiderstube (Bild 1), am Schlosshof (Bild 2 und 4) und im Wald (Bild 3) statt. Die Regieanweisungen geben detaillierte Hinweise zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren und in ausführlichen Beschreibungen zum Bühnenbildentwurf Auskunft. Allen Bildern (außer Bild 1) geht eine genaue Bühnenbeschreibung voraus. Auch Lichtverhältnisse und Geräusche auf der Bühne werden vom Bearbeiter im Nebentext angegeben. Zur Figuration: Alle für das Märchen charakteristische Figuren treten im Stück auf. Dazu tauchen allerdings bei Richter zwei neue Figuren auf: der Leibarzt des Königs und der Kriegsminister. Letzterer erscheint eigentlich an die Stelle eines Kollektivs, also der Kriegsleute im Ausgangsmärchen. Bleiben im ursprünglichen Märchen die Figuren ohne Namen, so werden sie in der Bühnenbearbeitung mit sprechenden, läppisch klingenden Namen genannt, so z.B. Fridolin Leichtfuß, Frau Minchen Brumm (geborene Grimmig), König Miesepeter oder Muskelprotz. Dadurch wird schon eine besondere Eigenschaft der jeweiligen Figuren ausgedrückt. Der Protagonist, Schneider Fridolin Leichtfuß, wird als dumm-lustig und immer gutmütig hingestellt. Die Hofleute, also der König und sein Hofstaat werden überhaupt als kindisch und immer schlecht gelaunt präsentiert. Der Kriegsminister und der Leibarzt erscheinen als Neider und Usurpatoren. Im Vergleich zu den Märchenfiguren erhalten die Figuren im Stück mehr Charakter und werden als veränderbar dargestellt. So will der am Anfang als Winzling und Feigling verspottete Schneider der Welt zeigen, was er kann, sobald er erstmal die ungeahnten Fähigkeiten entdeckt hat, die in ihm verborgen liegen. Und so bezwingt er dann als der „edle Ritter Sieben-auf-einen-Streich“ mit Mut und List nicht nur Riesen und wilde Tiere, sondern lässt sogar den Verrat von den beiden Intriganten scheitern. Auch die Musfrau verwandelt sich charakterlich. Anfangs wird sie zwar als recht schnell brummig dargestellt, aber im Laufe des Stückes verändert sie sich gewaltig und wird nett, freundlich und gut gelaunt. Weitere Charakterveränderungen betreffen die Figuren des Königs und seiner Tochter. Letztere entscheidet sich am Ende, zu Fridolin zu halten, auch wenn er nur ein einfacher Schneider ist. Als treue Begleiter des Schneiders stehen eigentlich Königstochter und Musfrau für die hundert Reiter und die Jäger des Königs im Ausgangsmärchen. Im Bereich der Handlungsfunktionen ergeben sich bei der Bearbeitung weitere Unterschiede zwischen Stück und Märchenvorlage. Hat im Märchen der König die Funktion des Auftraggebers, so wird bei Richter diese Funktion auf die Figur der Königstochter verlagert. Die Anhang 381 Prinzessin ist nämlich diejenige, die darauf besteht, dass Schneider Fridolin mit Muskelprotz kämpft, um seine Stärke zu prüfen. Außerdem stellt sie dem Schneider noch die Aufgaben, das schadenstiftende Einhorn und das schreckliche Wildschwein zu fangen (vgl. im 2. Bild). Besonders bemerkenswert bei Richter ist die Figur der Musfrau: Anders als im ursprünglichen Märchen, in dem sie keine Funktion ausübt, spielt die Musfrau im Stück eine wichtige Rolle. Zum einen agiert sie als Fridolins Mutter, indem sie dem Schneider mit Rat und Tat zur Seite steht und damit für die Ratgeber- und Helferfigur des Märchens stellvertretend ist: Sie rät ihm in seiner völligen Verzweiflung, der Prinzessin die Wahrheit über seine Herkunft zu sagen, daneben hält sie zu ihm treulich beim Lösen der drei Aufgaben. Sie ist auch diejenige, die Fridolin den Anschlagsplan der beiden Intriganten zu hinterbringen versucht. Damit tritt sie an die Stelle des treuen Waffenträgers des Originalmärchens. Zum anderen wirkt die Figur Musfrau als Arrangeuse von Fridolins Schicksal, indem sie ihm vom Pflaumenbaumland erzählt, was sein Aufbruch motiviert. Daraus geht hervor, dass bei Richter die Musfrau der Organisation der Handlung überhaupt dient, wobei sie als die eigentlich agierende Kraft erscheint und damit die Funktion eines Erzählers erfüllt. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren Stück für Kinder nach dem Märchen der Brüder Grimm Text von Alexander Gruber Erschienen 1977 als Bühnenmanuskript im Hartmann & Stauffacher Verlag, Köln Autor: Siehe Angaben unter Das tapfere Schneiderlein Entstehung und Uraufführung: Das Stück entstand 1976 und wurde am 20. November an den Bühnen der Stadt Bielefeld uraufgeführt. Personen: Ansager, Mitspieler, Mitspielerin, König, Mann, Frau, Hebamme, Direktor, 1. Arbeiter, 2. Arbeiter, 3. Arbeiter, Mahlbursch, Müller, Müllerin, Hans, Alte, 1. Räuber, 2. Räuber, Prinzessin, Pfarrer, Königin, Wächter, kranke Prinzessin, Dienerin, Regent, Wasserverkäufer, Fährmann, Teufel, Teufelin. Orte der Handlung: Wald, Schloss, Fluss und Hölle. Zum Stück: Grubers Bearbeitung rückt das bekannte Märchen der Brüder Grimm in die Gegenwart, nämlich in eine industrialisierte Gesellschaft, der es wirtschaftlich überaus schlecht geht. Im Hintergrund der Geschichte steht eine Wirtschaftskrise, die zu Fabrikschließungen, steigender Arbeitslosigkeit und zunehmender Armut führt. Eine Inhaltsübersicht ergibt Anhang 382 folgendes: Die Eltern eines Kindes, das mit einer Glückshaut auf die Welt gekommen ist, sind arm. Der Fabrikdirektor schließt die Fabrik, die dem König gehört, und sie werden arbeitslos. Der König, zugleich Fabrikbesitzer, kauft das Kind, weil er hört, es könne König werden, legt es in eine Schachtel und wirft die in den Fluss. Sie geht jedoch nicht unter, sondern treibt zu einer Mühle, wo das Kind von den Müllersleuten aufgenommen und in Liebe aufgezogen wird. Als der König Jahre viele später in die Mühle kommt und die Geschichte hört, schickt er den Jungen mit einer selbstvernichtenden Botschaft zum Königshof. Der Junge verirrt sich im dunklen Wald, doch er hat das Glück, in der Höhle gutmütigen Räuber Schlaf zu finden. Diese lesen den Brief, ändern das Schreiben ab und verhelfen dem Jungen so zur Hochzeit mit der Königstochter. Doch der König fordert von ihm die drei goldenen Haare des Teufels. Der fröhliche Held gerät später auf seinem Weg in die Hölle. Ein Wächter fragt ihn, warum eine Prinzessin todkrank ist und keiner sie heilen kann. Ein Mann fragt, warum ein Marktbrunnen austrocknet, der sonst Wasser gab. Und ein Fährmann will wissen, warum ihn keiner ablöst. In der Hölle angekommen, stößt der Junge erstmal auf die Teufelin, die ihn unter den Rock versteckt. Sie reißt dem schlafenden Teufel dreimal ein Haar aus und sagt, sie habe von der Prinzessin, dem Brunnen und dem Fährmann geträumt. So erhält der Junge die Haare, gibt dem Fährmann des Teufels Rat weiter, dem nächsten die Ruderstange zu geben, und lässt den Stein im Brunnen und die Kröte unter dem Bett der Prinzessin wegnehmen, wofür er je einen Sack mit Geld bekommt. Dem gierigen König sagt er, Geld und Gold liege wie am anderen Ufer. Dort gibt ihm der Fährmann die Stange, auf dass er fahren muss. Aus dem Stückinhalt geht hervor, dass Grubers Stück eine Mischung aus zwei verschiedenen selbständigen Versionen vom altbekannten Grimmschen Märchen darstellt. Darin kombiniert der Bearbeiter die Geschichte „Von dem Teufel mit drei goldenen Haaren“ aus der Erstauflage der KHM (1812) und die überarbeitete Fassung davon, die von der Zweitauflage (1819) der Märchensammlung an mit dem Titel „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“ erschien (Ranke 1990: 343ff.). Der ersten Fassung des Grimm-Märchens entnommene Aspekte sind die dem Helden während seiner Reise aufgetragene Rätsel-Frage der kranken Prinzessin, die Figur der Teufelin und die Episode in der Hölle. Hier fallen besonders die wörtlich bzw. nahezu wörtlich dem Märchen entnommenen Stellen, also Zitate auf. In seiner Bearbeitung übernimmt Gruber die zentralen Motive der Grimmschen Geschichte, insbesondere das Motiv der Weissagung, nämlich der in einer „Glückshaut“ geborene Sohn einer armen Frau werde „im vierzehnten Jahr die Tochter des Königs zur Frau“ bekommen. Wie im Ausgangsmärchen löst diese Prophezeiung eine abenteuerliche Geschichte aus, die mehr als einmal tragisch zu enden droht. Denn: Der König, der ein „böses Herz“ hat, will verhindern, dass sich die Weissagung erfüllt und seine Tochter mit dem Jungen verheiratet wird. Deshalb versucht er alles, um das Glückskind loszuwerden. Anhang 383 Daneben hat Gruber den Grimmschen Stoff modernisiert. Durch ergänzte visuelle und akustische Elemente (etwa Signale und Lautsprecher) entsteht eine dem ursprünglichen Grimm- Märchen völlig fremde Science-fiction-ähnliche Fantasy-Welt. Die Science-fiction-Ästhetik kommt auf dem Weg zur Hölle und von der Hölle im Schloss der sterbenskranken Prinzessin besonders zum Tragen, die Figuren in dieser Welt wirken beim Sprechen wie Roboter. Was den Schluss betrifft, so übernimmt Gruber das Ende der Grimmschen Geschichte: Der böse König muss nun solange als Fährmann zur Strafe für seine Missetaten arbeiten, bis er erlöst wird. Und der Junge erhält die Hand der Tochter und sein Königreich. Allerdings will er kein König sein und so zieht er mit der Prinzessin in die alte Mühle. Die glückliche Lösung wird durch Musik und festliches Spiel sowie eine Wendung des Erzählers an die Zuschauer verstärkt. Grubers Märchenstück weist keine Einteilung in Bilder auf. Darin wird nicht nur die Geschichte vom Teufel mit den drei goldenen Haaren erzählt, sondern gleichzeitig auch die Entstehung einer Theateraufführung dargestellt. Mit diesem Ziel werden schon zu Anfang des Stückes antiillusionistische Effekte eingesetzt sowie illusionsbrechende, distanzierende Mittel in Brechtscher Manier verwendet, wie z.B. die Präsenz eines Erzählers (Ansager). Dieser erscheint gleich zu Beginn, wendet sich dem Publikum zu und bezieht es direkt mit ein, indem er fragt bzw. sagt: „Ist jemand da? - - Sind Leute da? - - Auch Kinder? - - Was?! Ihr seid schon da? - Sollen wir anfangen? - Gut, fangen wir an! Achtung Kollegen! (blickt hinter den Vorhang) Seid ihr fertig?“ (S. 1). Damit wird nicht nur die „vierte Wand“ überflüssig, sondern die gesamte Darstellung „publikumsgerichtet“. Stück und Theater werden somit in Verbindung gesetzt, der Beginn des Märchens wird als Plan eines Spiels angeboten, innerhalb dessen Rollen verteilt werden müssen, Requisiten herbeigeholt werden und die Bühne für das Spiel eingerichtet wird. So bietet das Stück bereits am Anfang Einblicke in die Entstehung der Theateraufführung, indem auf Anforderung vom Ansager die Ensemble-Mitglieder sich selbst dem Publikum mit ihrem Vornamen vorstellen und ihre Rolle präsentieren: „Jeder fängt an und zeigt, was er kann! Ich heiße ... Ich sage an und spiele den ...“ (S. 2). Die dramatische Illusion wird damit zerstört, die Fiktionalität des Spiels aufgedeckt, und – ähnlich wie bei Brecht – verwandeln sich die Schauspieler nicht in die dargestellte Figur, sondern zeigen sie. Mit dem Verfahren ist Gruber Brechts Gestus des Zeigens deutlich verpflichtet. Im Laufe des Stückes entlarvt sich dann das Bühnengeschehen immer wieder als Theaterspiel. Auf S. 8 kann man z.B. lesen: „Wer will Mahlbursche sein?“. Neben den bisher erläuterten antiillusionistischen Effekten erinnern andere illusionsstörende Momente wie das Fehlen von Kulissenbildern und die offenen Umzüge die jungen Zuseher fortlaufend daran, sich in einer Vorstellung zu befinden. Vor allem die offenen Umbauten, die Gruber vor den Augen des Publikums vollziehen lässt, bieten den Zuschauern Einblicke in die Anhang 384 Abläufe auf der Bühne. So entstehen auf Anforderung des Ansagers Wald, Schloss, Fluss und Hölle. Die Geschichte vom Teufel wird vom Ansager erzählt und gleich inszeniert. Er übernimmt dabei die Rolle des Erzählers und Regisseurs. Als Spielleiter liegt seine Funktion darin, die Geschichte von den Schauspielern, die eigentlich zu einer Straßentheater-Truppe gehören, agieren zu lassen. Er lässt die Figuren auf- und abgehen und gibt ihnen Spielanweisungen bzw. spricht die Regieanweisungen des Autors selbst mit, auf diese Weise die Anweisungen im Stücktext verdoppelnd. Als Dialog-Partner stehen dem Ansager zwei Mitspieler zur Seite, die ähnliche Funktionen erfüllen. Einerseits kommentieren und reflektieren sie Begebenheiten von der Geschichte, andererseits geben sie auch Spielanweisungen und nehmen dadurch die Rolle eines Regisseurs ein. Im Laufe des Stückes kommt es dann immer wieder zu direkten Wendungen der drei Figuren an die jungen Zuschauer. Damit wird die Illusion der Unmittelbarkeit für das Geschehen innerhalb der Bühnenhandlung aufgehoben. Es werden nicht nur Fragen ans Publikum gestellt, mit denen die Figuren die Aufmerksamkeit der Zuschauer erhalten, sondern auch Aufforderungen gegeben, mitzumachen oder bestimmte Haltungen einzunehmen – so z.B. gegen Gewalt an den Kindern: „Wir bitten alle, die erwachsen sind: / Wendet Gewalt nicht an gegen ein Kind. / Ihr habt mehr Kraft und Macht, doch: Habt ihr recht? Wir sagen: Nein, ein Kind schlagen ist schlecht!“ (S. 8). Der Ansager und die beiden Mitspieler sind sogar als Figuren in die Handlung integriert. So greifen sie immer wieder ein und sprechen mit den anderen handelnden Figuren, warnen als Helferfiguren den Helden oder geben ihm Ratschläge, und bringen auch Gefühle und Gedanken mit ein. Weitere illusionsbrechende Momente und damit Distanz werden an anderen Stellen des Stückes geschaffen, indem das Bühnengeschehen durch die handelnden Figuren selbst unterbrochen wird. Dabei fallen sie aus ihrer Rolle und sprechen als Schauspieler plötzlich das Kinderpublikum an. Die jungen Zuschauer werden dazu aufgefordert, Stellung zu nehmen, das „Auftreten“ einer Figur zu beurteilen oder eigene Ideen zur Lösung des gezeigten Konflikts einzubringen. Gruber baut in seine Bearbeitung auch zahlreiche, handlungsunterbrechende Musik- und Tanzeinlagen ein. Mit dabei sind bekannte Kinderreime („Eins zwei drei in der Müllerei“) bzw. -gedichte („Der Gemüseball“ von Werner Halle), beliebte volkstümliche (Kinder-)Lieder („Es regnet, es regnet“; „Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus“) und Scherzlieder („Meine Oma fährt Motorrad, ohne Bremse, ohne Licht“) zum Mitsingen sowie selbst erfundene Songs. Daneben weist der erste Auftritt des Teufels Merkmale einer Traumeinlage auf, die szenisch präsentiert wird: Im Traum begegnet der König dem Teufel. Dabei erfährt er, dass sein Leben dem Teufel gehört. Bereits an dieser Stelle wird also ein Hinweis auf die unbewusste Reise des Königs zum Dämon am Ende des Stückes gegeben. Anhang 385 Grubers Märchenstück zeichnet sich auch durch seine eingestreute, slapstickhafte Komik aus. Das Komische entsteht vor allem durch die Sprache. Zuweilen haben die Dialoge durchaus eine slapstickhafte Komik, so beim Gespräch zwischen dem Glücksjungen und der Teufelin. Der humoristische Effekt wird auch durch Prügelei-Szenen verstärkt, beispielsweise bei der Episode am Wasserbrunnen. Der Stücktext enthält viele wörtliche Reden aus dem Grimmschen Originalmärchen, so z.B. den Spruch „Ich rieche, rieche Menschenfleisch“, der die Märchenfigur des menschenfressenden Teufels charakterisiert (vgl. hierzu KHM 15, 25, 165, 59a, 82a). Zur Figuration: Bezogen auf die Figuren ist zunächst festzustellen, dass sie vom ursprünglichen Grimm-Märchen übernommen worden sind. Allerdings wird das Bühnenmärchen um zahlreiche Figuren erweitert. So führt Gruber völlig neue Figuren ein (Mann, Frau, Hebamme, Pfarrer, Wasserverkäufer, kranke Prinzessin, Dienerin, Regent). Zur Thematisierung der Arbeiterentlassung tauchen zudem weitere neue Figuren auf, so der Fabrikdirektor und die Arbeiter. Einen bedeutenden Unterschied zur Märchenvorlage macht die Bezeichnung des Hauptprotagonisten aus. Wird der Protagonist im Grimmschen Märchen nur als „Glückskind“ bezeichnet, so ist er in der Bearbeitung durch Gruber mit einem konkreten Personennamen versehen: Hans. Zwar stammt der Protagonist der niedersten Gesellschaftsschicht, aber anders als im Ausgangsmärchen ist er kein Bauernsohn, sondern Sohn eines armen Arbeiterpaares, der von seinen Eltern an den König verkauft wird. Er wird als mutig, klug und listig dargestellt. Seine Gegner sind hingegen groß, stark und mächtig, wie es beim König und beim Teufel der Fall ist. Beide Figuren sind die Bösewichter in der Geschichte. Doch die eigentliche Rolle des Bösen trägt der König. Anders als bei den Brüdern Grimm lässt Gruber den König in der Gestalt eines unmenschlichen Fabrikbesitzers vorkommen, dessen Bestrafung am Ende des Stückes gezeigt wird. Seine Strafe wird wie im Märchen in der Ablösung des Fährmannes und seiner ewigen Fahrt von Ufer zu Ufer dargestellt. Wie im Grimmschen Märchen, so wird auch bei Gruber der Protagonist als Spielball anderer Figuren dargestellt. Er handelt nicht nach seinem freien Willen. Einerseits wird er vom König manipuliert, d.h. um den Jungen loszuwerden, lässt er den Brief mit dessen eigenem Todesurteil an die Königin überbringen. Andererseits wird er von der Alten im Räuberhaus ferngesteuert: Sie entscheidet den neuen Inhalt des Briefes, nämlich die sofortige Verheiratung mit der Königstochter. Zudem überlebt er im Laufe der Geschichte lediglich durch Hilfe von außen, d.h. in wichtigen Situationen taucht eine Helferfigur immer wieder auf. Zum einen wird ihm Hilfe von der Alten geboten, also im Räuberhaus, wo sie ihn vor den heimkommenden Räubern warnt, obwohl diese ihm paradoxerweise auch helfen und das Todesurteil umschreiben; zum Anhang 386 anderen von der Prinzessin: Sie gibt ihm ein Zauberobjekt, hier in Form eines Fahrrads, das als Hilfsgegenstand einzig und allein der Rettung vor der Verfolgung dient. Im entscheidenden Moment bekommt er dann Unterstützung von der Teufelin: Sie klaut dem Teufel die drei goldenen Haaren und stellt diesem die drei Rätsel-Fragen. Schließlich gibt es auch Stellen, in denen die Figur des Ansagers als Helfer fungiert. Im Vergleich zum Märchen der Brüder Grimm gewinnt die Figur der Prinzessin ein eigenständiges Profil. So weigert sie sich bei Gruber, einen unbekannten zu heiraten: „Was?! Den nehm ich nicht! Einen, den mein Vater schickt, den nehm ich nicht! Ich hab ihn ja nicht einmal gesehen! Lieber geh ich auf die Straße und such mir einen, der mir gefällt“ (S. 20f.). Gruber verwendet die Sprache für die Charakterisierung der Figuren, z.B. spricht der Fährmann Plattdeutsch. Der Teufel mit den drei goldenen Haaren Nach den Brüdern Grimm Text von Hans Thoenies Erschienen 1998 als Bühnenmanuskript bei der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt Autor: Hans Thoenies (geb. 1932) ist seit 1955 als Schauspieler, Bühnenbildner, Ãœbersetzer und Autor von Kinderstücken, Regisseur und Intendant in allen Sparten tätig. Er machte 1955 seinen Abschluss zum staatlich geprüften Schauspieler und hat sich gleichzeitig mit Regie beschäftigt, seitdem über 170 Inszenierungen in allen Kunstgattungen an verschiedenen Theatern. 1970 übernahm Thoenies seine erste Intendanz an der Landesbühne Schleswig-Holstein. Ab 1979 war er als Generalintendant in Lübeck mit einem Ensemble von 400 Leuten tätig. Von 1991 bis zum Sommer 2008 war er Intendant und Geschäftsführer am Theater Wolfsburg, seit 2008 Ehrenintendant; 1992 bis 1998 Präsident, seither Ehrenmitglied der INTHEGA, Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen. Uraufführung: Das Stück wurde am Theater der Stadt Wolfsburg uraufgeführt. Zum Uraufführungsdatum konnten keine dementsprechenden Daten gefunden werden. Personen: Teufel; des Teufels Großmutter; der Findling; Prinzessin Tanjana; König; Königin; Müller; Müllerin; Magd; Wächter; Pinke-Pinki; Ponke-Ponki; 3 Räuber; Fährmann. Orte der Handlung: Schauplätze sind: Mühle, Räuberhaus, Schlosshof, Feld, Fluss und Hölle. Anhang 387 Zum Stück: Das von Thoenies für die Bühne bearbeitete Märchen basiert auf der gleichnamigen Erzählung der Brüder Grimm (KHM 29). Es erzählt die Geschichte vom Müllerssohn Findling, der die Stieftochter des Königs, Prinzessin Tanjana (genannt Fitzlu Butzli) heiraten möchte. Findling muss sich gegen die Tücken und Intrigen des Königs wehren, ohne die Welt schon zu kennen. Das führt ihn zuerst in den finsteren Wald und zwingt ihn zum Kampf gegen eine Räuberbande. Der König beauftragt dann den Jungen, drei goldene Haare des Teufels zu stehlen, in der Hoffnung, dass er diese Aufgabe nicht erfüllen und dadurch seine Tochter nicht heiraten kann. Auf dem Weg in die Hölle muss Findling auch noch drei Rätsel lösen: Warum ein Brunnen austrocknet, ein Apfelbaum verdorrt und ein Fährmann nicht abgelöst wird. Am Ende heiratet er Prinzessin Tanjana trotz aller Intrigen des Königs. Einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen der Vermählung leistet des Teufels Großmutter. Das Märchenstück ist in acht Bilder unterteilt.190 Aus dem Stückinhalt geht hervor, dass Thoenies Bühnenfassung des bekannten Märchens sich nicht ganz an das Grimmsche Vorbild 190 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„1. Bild“ (S. 5-14) Es spielt vor der Mühle. Der Teufel erscheint und will dem Findling Angst machen, aber eigentlich ist er kein Meister in der Teufelskunst. Die Teufelsgroßmutter kommt und lehrt ihn die Teufelskunst. Der König und sein Geldeintreiber Pinke-Pinki treten auf. Sie erkundigen sich nach Findlings Herkunft und der König erfährt so, dass sein damaliger Plan fehlgeschlagen ist. Erneut versucht er, den missliebigen potentiellen Schwiegersohn zu beseitigen. Diesmal gibt er ihm ein Schreiben an die Königin, in dem er anweist, den Ãœberbringer in den Kerker werfen zu lassen. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 14-15) Findling erscheint und nimmt Kontakt mit den jungen Zuschauern auf. Er bringt sein Missfallen über den König zum Ausdruck. –„2. Bild“ (S. 16-24) Findling gerät in der Nacht im Wald in den Unterschlupf einer Räuberbande. Während er schläft, öffnen die Räuber das Schreiben. Weil sie den Jungen bedauern, fälschen sie den Brief dahingehend, dass der Ãœberbringer unmittelbar nach der Ãœbergabe des Schreibens mit der Königstochter vermählt werden soll. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 14-15) Die Räuber freuen sich über die gute Tat, dabei singen sie ihr Räuberlied und tanzen ihren Tanz. –„3. Bild“ (S. 24-33) Der erste Auftritt spielt vor dem Schloss. Die Prinzessin erscheint und entdeckt den Findling. Es folgt ein Zusammenspiel von beiden. Ponke-Ponki und die Königin treten auf. Die Königin vollzieht den scheinbaren Willen ihres Mannes und der Findling heiratet die Königstochter. Erst als der König in die Hochzeitsfeierlichkeiten platzt, wird der Schwindel aufgedeckt. Er lässt sich das Schreiben zeigen und merkt, dass es sich um eine Fälschung handelt. Daraufhin gibt der König dem Findling die Aufgabe, er solle die drei goldenen Haare des Teufels aus der Hölle beschaffen, denn nur dann könne er seine Tochter behalten. Die Prinzessin begleitet den Findling heimlich auf seiner Suche nach den Haaren. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 33) Während des Umbaus vom 3. auf das 4. Bild erscheint der Teufel vor dem Vorhang und nimmt Kontakt mit dem Kinderpublikum auf. Er spielt den Angeber und übt seine Teufelskunst mit den Kindern. –„4. Bild“ (S. 34-41) Im freien Feld bewachen der Wächter und die Magd einen Baum mit goldenen Äpfeln und einen Brunnen, aus dem das Wasser des Lebens fließt. Doch der Teufel erscheint, klaut die Äpfel und lässt den Brunnen austrocknen. Auf seinem Weg zur Hölle trifft Findling auf die beiden verzweifelten Menschen, die nicht wissen, warum der Baum keine goldenen Äpfel mehr trägt und im Brunnen kein Wasser mehr fließt. Beide bitten ihn, die Ursache dafür herauszufinden. Er verspricht an seinem Ziel gleich nachzufragen. –„5. Bild“ (S. 42-45) Findling kommt an einen Fluss. Auch der Fährmann, der ihn übersetzt, bittet ihn herauszufinden, warum er niemals abgelöst werde. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 45) Findling erscheint und nimmt den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf. Er bringt sein Gefallen über die Prinzessin zum Ausdruck. Anhang 388 hält. Sie bleibt aber dennoch im klassischen Märchenstil und zeigt zwei ganz neue Figuren, Pinke-Pinki und Ponke-Ponki, die die Handlung entsprechend positiv vorantreiben. Einige Episoden der Geschichte werden nicht szenisch dargestellt, sondern in den Repliken der Figuren narrativ vermittelt. So wird beispielsweise die Vorgeschichte z.T. im Bericht des Müllers gerafft wiedergegeben (Bild 1). Ein weiteres Beispiel raffender, zusammenfassender Wiedergabe eines Abschnitts der ursprünglichen Geschichte ist auch im ersten Bild zu finden. Hier ermöglicht der narrative Bericht des Königs von der Geburt des Glückskinds und der Weissagung zu erfahren. Beide Erzählmomente erlauben schon zu Beginn des Stückes die Konzentration auf eine wichtige und spannende Phase der Geschichte, nämlich auf dem Moment, in dem der König den Müllersohn mit dem Brief zur Königin durch den finsteren Wald schickt. Daneben hat Thoenies den Grimmschen Stoff modernisiert und umgeschrieben, indem er einige ausgelassene Spiel- und Kampfszenen eingesetzt hat. Vor allem sorgen die neu eingefügten Kampfszenen für Wirbel und Action. Das Stück enthält auch illusionsstörende Momente, etwa direkte Ansprachen der Figuren an das Publikum – so fordert beispielsweise der Findling im 2. Bild die jungen Zuschauer auf, das „Auftreten†des Königs zu beurteilen: „[...] Der König gefällt mir nicht? Euch? Der tut freundlich, ist es aber gar nicht. [...]†– und, je nach Entwicklung der Geschehnisse, frei improvisierte Interaktionen mit den zuschauenden Kindern. Dabei sollen sie nicht mehr nur reine Zuschauer sein, sondern in das Spiel integriert werden und somit zu aktiven Teilnehmern –„6. Bild“ (S. 46-53) Es spielt in der Hölle. Dort angekommen trifft der Findling auf die Teufelsgroßmutter. Ihr erzählt er, was sein Auftrag ist. Sie hat Mitleid mit ihm und verspricht, ihm zu helfen. Auch will sie für ihn die Lösung der drei Rätsel beim Teufel erfragen. Der Findling versteckt sich im Heizkessel. Als der Teufel nach Hause kommt, legt er den Kopf in den Schoß seiner Großmutter, die beginnt, ihn zu lausen. Der Teufel schläft ein und die Großmutter reißt ihm das erste Haar aus. Davon wacht der Teufel auf, ist erst böse, lässt sich aber beruhigen, als seine Großmutter ihm erzählt, sie habe von dem Brunnen geträumt. Der Teufel verrät ihr, dass er eine Kröte reingesetzt habe, die das Wasser säuft, und wenn diese getötet sei, werde der Brunnen wieder fließen. Bei den zwei weiteren Haaren verfährt die Alte ebenso. Am Baum ist eine Ratte die Ursache für das Verdorren, und beim Fährmann verhält es sich so, dass dieser einfach dem nächsten Fahrgast die Stange in die Hand geben muss, um erlöst zu werden. Nach einem harten Kampf mit dem Teufel macht sich der Findling auf den Heimweg. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 53) Es beginnt eine spannende Verfolgungsjagd, wo der Findling dem Teufel zu entkommen versucht. –„7. Bild“ (S. 54-57) Die Verfolgung geht am Fluss weiter. Erst als der Fährmann Findling übergesetzt hat, verrät er diesem, wie er seine Aufgabe loswerden kann. –„Vor dem Spielvorhang“ (S. 57-58) Die Szene enthält wenig Handlung. Es zeigt, wie Findling und die Prinzessin ganz hingerissen voneinander sind. –„8. Bild“ (S. 58-69) Findling gibt dem Wächter und der Magd Rat. Und am Ende wird der König mit seinen eigenen Waffen geschlagen: Er will wissen, woher Findling das Gold habe. Dieser sagt dem König, dass das am Ufer des Flusses wie Sand herumläge. Und so macht sich der habgierige König auf den Weg zum Fluss, kommt zum Fährmann, dieser drückt ihm die Stange in die Hand und der böse König muss nun solange als Fährmann zur Strafe für seine Sünden arbeiten, bis er erlöst wird. Anhang 389 werden. Damit setzt das Stück bewusst aufs Mitmachen. Solche direkten Ansprachen und Interaktionen mit dem Publikum erhalten bei Thonies einen deutlichen Einlagen- und Einschubcharakter und werden zwischen den Bildern eingefügt. Nicht nur wird dadurch der Geschehnisablauf durchbrochen, d.h. einen Einschnitt in der Struktur der Geschichte gebildet, sondern damit verschwimmen auch die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum. Inhaltlich sind diese eingeschobenen Einlagen von der Haupthandlung nicht ganz gelöst, sie dienen der Zusammenfasung und Kommentierung wichtiger Ereignisse der Geschichte auf der Bühne. Weiterhin dienen sie dem Wechsel des Bühnenbilds. Daher finden sie auf der Vorbühne vor dem Spielvorhang statt. Was den Schluss des Stückes betrifft, so wird die Bösartigkeit des Königs, der geblendet ist von der glänzenden Aussicht auf den Goldgewinn, auch am Ende der Geschichte bestraft. Ähnlich wie beim Grimmschen Märchen wird auch hier die Strafe in der Ablösung des Fährmannes und der ewigen Fahrt von Ufer zu Ufer dargestellt. Doch während bei den Brüdern Grimm die Geschichte zu ihrem glücklichen Ende findet, erst als der Fährmann endlich zur Ruhe kommt, wird bei Thoenies eine dem ursprünglichen Märchen fremde Szene hinzugefügt, um das glückliche Ende des Stückes noch zu verstärken. Dabei siegen die „guten“ Figuren in der Auseinandersetzung mit dem Teufel und seiner Großmutter. Das Ende des Stückes führt dann zu einem Auftritt des ganzen Ensembles, also zu einer Schlusspose mit Kindern. Musik und Tanz werden dabei verwendet. Auffällig sind die detaillierten Regieanweisungen. Damit beschreibt Thoenies minutiös das Bühnenbild zu Beginn jedes Bilds. Weiterhin dienen die im Stücktext gedruckten Regieanweisungen der Beschreibung darstellerischer Aktionen. Zur Figuration: Der Hauptprotagonist (Findling) ist – wie auch im ursprünglichen Märchen – arm und von niederster Herkunft. Vom Wesen her ist er mutig, nicht einmal der Teufel kann ihm Angst einjagen. Als er ihm erscheint und sagt „Ich bin der Teufel und will deine Seele“ (Bild 1, S. 5), wird er mit den folgenden Worten vertrieben: „Und ich bin der Findling und der gibt dir ein paar hinter die Löffel. [...] Ich muss schwer arbeiten, ich habe keine Zeit für diesen Kinderkram“ (Bild 1, S. 6). Selbst die Erzfeinde des Königs, also die drei Räuber im Wald, können ihm nichts anhaben. Gemeinsam spielen sie sogar ein Spiel (vgl. im Bild 2). Weiterhin wird er als klug und listig beschrieben: Er ist derjenige, der aufgrund seiner List die Tücke des Königs erkennen kann. Findlings Liebe zu Prinzessin Tanjana spielt bei Thoenies eine große Rolle, sie kann eigentlich als Motor der Geschichte betrachtet werden. Der Titel-Antiheld, der Teufel, wird als quirliger und eitler Bursche dargestellt – gern kämmt er zu Beginn des Stückes seine drei goldenen Haare und am Ende lässt er sich die neuen Haare silber färben. Der junge und vaterlose Teufel ist auch ein Tolpatsch, aber ein lustiger. Zum Leidwesen seiner Großmutter hat er nur Unsinn im Kopf. Er wünscht sich nichts mehr, als so Anhang 390 richtig böse zu sein, aber aufgrund seiner Schusseligkeit wirkt er eher karikaturhaft: Er legt den Rechen aus und tritt darauf, starrt auf sein Spiegelbild und fällt ins Wasser usw. Nur die wahren Bösewichter, der König und sein Geldeintreiber Pinke-Pinki fürchten sich, als sie ihm begegnen. Als wahrer Bösewicht taucht der König auf. Als neidischer Herrscher dargestellt hat er nichts Gutes im Sinn. Mit List und Tücke versucht er nur, den Müllerssohn aus dem Weg zu räumen. Neben dem herzlosen König taucht die Königin als böse Schwiegermutter auf. Dem fiesen Königspaar stehen zwei Helfershelfer (Pinke-Pinki und Ponke-Ponki) zur Seite. Die Stieftochter des Königs (Prinzessin Tanjana) wird als kesses Prinzesschen dargestellt. Doch eigentlich will sie keine richtige Prinzessin sein, sondern Abenteuer erleben: „[...] Hoftänze kann ich, knicksen kann ich, Gedichte aufsagen, mit abgespreizten Fingern essen kann ich ... Das alles will ich aber nicht. Ich will leben, frei sein“ (Bild 3, S. 29). Somit gewinnt die Figur der Prinzessin im Vergleich zum Grimm-Märchen ein eigenständiges Profil. Die Großmutter des Teufels spielt in der Geschichte eine ganz entscheidende Rolle. Denn sie ist es diejenige, die die Handlung entsprechend positiv vorantreibt, denn sie rettet den Müllersohn in der Räuberhöhle. Ihr verdankt er sein Glück. Wie im Märchen erhält er im zweiten Teil der Geschichte wieder die Unterstützung der Teufelsgroßmutter, mit deren Hilfe er die drei Rätsel löst und schließlich dem Teufel seine goldenen Haare stehlen kann. Neben der Teufelsgroßmutter treten auch die drei Räuber als Helferfiguren auf, indem sie den Brief mit dem Todesurteil umschreiben, sowie Prinzessin Tanjana, die dem Findling bei der Flucht von der Hölle beisteht (Bild 7). Dornröschen Ein Märchenspiel in drei Bildern Text von Robert Bürkner Erschienen 2001 als Nachdruck bei der Vertriebsstelle und Verlag deutscher Bühnenschrifsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt Autor: Robert Bürkner (1887-1962) war Schauspieler, Regisseur, Intendant und Autor. Er wurde als Sohn eines Universitätsprofessors in Göttingen geboren. Nach kurzem Universitätsstudium, begann er 1906 seine Bühnenlaufbahn als Schauspieler am Stadttheater in Bremen; er kam dann über Settin, Basel (1914) und Mannheim (1915) nach Karlsruhe, wo er 1917-1925 als Staatsschauspieler und Regisseur tätig war, hierauf an das Neue Schauspielhaus in Königsberg. 1926-1929 führte Bürkner Regie und war Chefdramaturg des Stadttheaters Hamburg-Altona, 1929-1934 Intendant des Städtischen Schauspielhauses Frankfurt an der Oder, anschließend bis 1943 der Städtischen Bühnen Lübeck. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an der Komödie am Schifferbauerdamm, an der Berliner Tribüne und beim Film als Anhang 391 Charakterspieler tätig, unternahm Bürkner anschließend zahlreiche Gastspielreisen. 1949-1950 war er Schauspieler an Heinz Hilperts Deutschem Theater sowie an Bonner Bühnen, wo er auch Regie führte. Neben einigen Romanen (Die Falle, 1940; Ein harmloser Mensch, 1941; Das unheimliche Feuer, 1947) veröffentlichte Bürkner Kinderschauspiele, vor allem dramatisierte Märchen. Bis in die Gegenwart hinein bekannt sind seine zahllosen Bühnenbearbeitungen deutscher und europäischer Märchen. Darunter befinden sich praktisch alle beliebten Märchen der Brüder Grimm. Zu seinen ersten Arbeiten gehören Rotkäppchen (1919) und Dornröschen (1922). Zu den späteren Bearbeitungen zählt z.B. Die Gänsehirtin am Brunnen (1947). Entstehung und Uraufführung: Das Stück erschien, als Manuskript gedruckt, erstmals 1922 im Selbstverlag in Binz (Rügen), dann 1933 im Münchner Eher-Verlag. Später ist es von der Vertriebsstelle und Verlag deutscher Bühnenschrifsteller und Bühnenkomponisten (Norderstedt) mehrfach nachgedruckt worden. Uraufführungsjahr und -ort des Stückes sind unbekannt. Es konnten keine dementsprechenden Daten gefunden werden, auch nicht beim heute das Stück vertretenden Verlag. Personen: der Märchenpostillion; der König; die Königin; Prinzess Röschen; der Prinz; der Koch; der Küchenjunge; die Magd; die böse Fee; die Fliege. Orte der Handlung: im Märchenland: der Schlossgarten; die Küche. Zum Stück: Bürkners Märchenspiel basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 50). Zwar übernimmt es die Grundzüge des Märchens, aber zeigt auch Neuerungen. Unter den Variationen, die die Geschichte bei Bürkner findet, sind folgende zu nennen: Das Stück verzichtet auf den ersten Teil des Märchens, also das große Fest, bei dem die böse Fee einen Fluch auf die neugeborene Königstochter legt, und konzentriert sich auf den zweiten Teil, d.h. auf die entscheidende Krisenphase, als die Prinzessin sich sticht und in Zauberschlaf fällt. So wird die Originalfabel gekürzt, im Stück beginnt die Geschichte am Tag vor dem fünfzehnten Geburtstag der Prinzessin. Zugleich gibt es eine beträchtliche Zahl von Einschüben, wie etwa die lange Reihe von komischen Bühnenhandlungen, die besonders die Dienerschaft ausführen muss. Besondere Aufmerksamkeit muss man den Unterschieden in der Schlüsselszene widmen, als die Prinzessin die Spindel berührt: Im Märchen geschieht es in der Einsamkeit, im Stück dagegen mitten im Wirrwarr der Küche und der Spannung beim Zuhören der Glockenschläge. Anhang 392 Das Stück ist in drei Bildern unterteilt und bietet eine komplexe Aufbereitung durch viele Szenen an, um aus der erzählerischen Vorlage eine bühnenmäßige Handlung zu gestalten.191 Der Aufbau des Stückes präsentiert das folgende Schema: Das Spiel beginnt mit einer Einführung, die als Prolog betrachtet werden kann. Erst nach dem Erscheinen des „Märchenpostillions“ beginnt die eigentliche Handlung, durch eine tragische und bedrohliche Stimmung dominiert, die sich in der Gestalt der bösen Fee manifestiert. Diese Atmosphäre spitzt sich bis zum Höhepunkt hin in spannender Weise zu. Zum dramatischen Höhepunkt der Handlung gestaltet sich der Spruch der bösen Fee. Das Einhalten der Einheit der Zeit verlagert die Spannung auf den zwölften Glockenschlag. Bezeichnenderweise muss man dann auf die Darstellung der Vorgeschichte verzichten, auf die kurz nach dem Anfang der Bühnenhandlung durch einen Bericht des Königspaares hingewiesen wird. Ebenso hat man den Eindruck, dass der endgültige Schluss des Bühnenmärchens gegenüber dem Höhepunkt des zwölften Glockenschlags zweitrangig geworden ist. Dies würde die Dauer des letztes Bildes bezeichnen. Das Bühnenstück benutzt alle Personen und Lebewesen, die für den zweiten Teil des Grimmschen Märchens charakteristisch sind, einschließlich der Fliege. Bezeichnenderweise werden die guten Feen ausgeschlossen, die im verhältnissen viel kürzeren Märchen große Bedeutung hatten. Der Bearbeitungsverfasser fügt dem Personal der Grimm die völlig neue Figur des „Märchenpostillions“ hinzu, der sich als kommentierende Figur einführt, und als Ansprechpartner für die zuschauenden Kinder mit großem Textanteil eingesetzt wird. Die Figuren des Stückes werden durch positive oder negative Einstellungen den anderen Figuren gegenüber gekennzeichnet. So lässt sich die Figuration in zwei Kategorien einteilen. Die größte Gruppe bildet die mit positiven Eigenschaften ausgestatteten Figuren, die um die Prinzessin sind und sie beschützen. Zu ihnen gehören der König, die Königin, die Diener und 191 Die Handlung wird in 6 sehr unterschiedlichen Sektionen dargeboten, einer „Einführung“ und 3 „Bildern“, deren Identität durch das Eingreifen eines so genannten „Märchenpostillions“ bedingt ist. Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Einführung“ (S. 5-6) Der „Märchenpostillion“ erscheint und wendet sich ans Publikum. Anschließend „führt“ er die Zuschauer ins „Märchenland“. –„Erstes Bild“ (S. 7-34) Im Schlossgarten als einheitlichem Ort wird in 14 Szenen der Gegensatz zwischen dem Kummer der Eltern und der Unbekümmertheit der Kinder- und Dienerwelt dargestellt. Die Welt der Diener wird mit großem Slapstick ausgeführt, wobei die unterschiedlichen Verkörperungen der Diener die Prinzessin amüsieren. Beide Welten rücken näher vor der Bedrohung durch die Fee, deren Auftritte die fröhliche Stimmung zerstören und bereits die furchtbare Drohung ankündigen, die zum tragischen Verlaufs des Geschehens führt. –„Zwischenspiel“ (S. 35) Der „Märchenpostillion“ erscheint und nimmt den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf, indem er das schwache Erinnerungsvermögen des Kochs ins Gespräch bringt. –„Zweites Bild“ (S. 36-64) In der Hofküche und der Kammer nebenan wird in 8 Szenen der endgültige Sieg des bösen Fee dargestellt. Trotz aller Vorkehrungen der Eltern und der besten Bereitschaft der klügeren Diener, sticht sich die Prinzessin an der verzauberten Spindel und fällt in den hundertjährigen, tiefen Schlaf. –„Zweites Zwischenspiel“ (S. 65-68) Der „Märchenpostillion“ führt den Prinzen ein. –„Drittes Bild“ (S. 69-74) Nach 100 Jahren erwacht das Königreich. Aus Dankbarkeit für das Erlösen wird dem Prinzen der beste Besitz des König gewährt, d.h. dessen Tochter die Prinzessin. Anhang 393 der Prinz. Die Königstochter ist die Hauptfigur. Sie ist wunderbar begabt, aber unheimlich bedroht. Sie verkörpert das Ideal der Gesundheit, Schönheit und Klugheit, selbstverständlich auch eine geschlechstspezifische Verhaltensweise und somit spiegelt sie beispielhaft ein tradiertes Erziehungsideal wider – artig, brav, lieb und obrigkeitstreu. Diesen positiv gekennzeichneten Figuren steht von Ärger und Wut zerfressen die böse Fee als negative Gegenfigur gegenüber. Sie verkörpert die Macht des Bösen und die Zerstörung der Harmonie. Die Verhältnisse unter den Personen werden durch ein breites Repertoire von komischen Situationen in die Länge gezogen. Sie werden aufrechterhalten durch die Verkörperungen, die die Diener darstellen: Die Dummheit von der Magd „Heultrine“, die Schlauheit des Küchenjungen und die Bravheit mitsamt lustiger Vergesslichkeit des Kochs. Aus dieser Beschaffenheit des Kochs ergibt sich das eingefügte Motiv der verschlossenen Kammertür, die die Prinzessin schließlich öffnen wird, um auf ihr Verhängnis zu stoßen. Beim gesamten Ãœberblick der Funktionen der Personen lässt sich feststellen, dass es keine Verlagerung von den märchenhaften Funktionen vor sich geht. Während die Heldin des Stückes Dornröschen ist, die im Mittelpunkt der Ereignisse steht, nimmt die böse Fee die Rolle des Gegenspielers ein. Der Prinz stellt den Helfer dar. Ihm stellt das Autor ein Figurensystem an die Seite, das das Königspaar und die Dienerschaft integriert. Als deutliche Hinzufügungen zum Märchen sind die beiden Bindemittel zu verzeichnen, die die zahlreichen, die Handlung kommentierenden Volkslieder und die Figur des „Märchenpostillions“ (s.o.) ausmachen. Laut des Kommentars des Verfassers zur Inszenierung, das dem dramatischen Text vorangestellt ist, sind die Lieder „sämtliche (z.T. textlich abgewandelte) bekannte Volkslieder“ (S. 4) und sollte die Aufführung auf diese Lieder verzichten, würde das Stück insgesamt nicht zur vollen Wirkung kommen. Die Parallelismen unter den Zwischenspielen, Bildern und Szenen vergrößern ebenso die Durchsichtigkeit und den Zusammenbau des Bühnenstückes. Damit wird die Ungleichheit der verschiedenen Einteilungen weitgehend ausgeglichen; also, der Parallelismus am Ende der beiden ersten Bilder, als die böse Fee anwesend ist; das wiederholte Versprechen der Magd, als sie die tabuisierten Örter aussagt, ebenso die Spezialisierung der Zwischenspiele für die Auftritte des „Märchenpostillions“: Nach Schluss des ersten und zweiten Bilds folgt ein Zwischenpiel, durch das die Handlung unterbrochen wird. Damit zerfällt die Einheit der Handlung. Die Regieanweisungen des Bühnenverfassers beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Hinweise zum Auftritt und zur gestischen und mimischen Darstellung der Figuren. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die nur die notwendigsten Angaben über Ausstattung und Requisite beinhalten. Eine Ausnahme stellt jedoch die Bühnenbildvorstellung im zweiten Bild dar, die in detaillierten Beschreibung zur Szenerie der Küche Auskunft gibt. Anhang 394 Dornröschen Ein Märchenspiel in 7 Bildern nach den Brüdern Grimm Text von Gert Richter (Neufassung) Erschienen 1981 als Bühnenmanuskript im Verlag für Kindertheater, Hamburg Autor: Siehe Angaben unter Das tapfere Schneiderlein. Uraufführung: Richters Bühnenmärchen wurde 1981 im Schleswig-Holsteinischen Landestheater in Rendsburg uraufgeführt. Personen: Balduin, ein lustiger Tausendsassa, der alles kann; Prinzessin Röschen, die so gern lacht; Prinz Heinrich von Blumenland, der immer so traurig ist; Hofmarschall Bitterlich, der kolossal tüchtig ist; der König; die Königin; die gütige Fee Floralia; die böse Fee Stacheline; der Minister; der Schlosshauptmann; die Magd; der Frosch; Peter, der Küchenjunge; der Eselchen Langohr. Orte der Handlung: Dornröschenschloss; Garten des traurigen Prinzen Heinrich; die Grotte der bösen Fee Stacheline. Zum Stück: Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 50). Uns dem inhaltlichen Kontrast Vorlage-Bühnenbearbeitung zuwendend, sind folgende Variationen aufzuweisen: Die Geschichte wird aus der Perspektive des Kochs Balduin geschildert. Ganz zu Beginn des Spiels fängt er so an, in Ich-Form zu erzählen und den jungen Zuschauern eigenes Erleben weiterzugeben, als er ins Schloss kam und als Küchenmeister eingestellt wurde. Der Autor verarbeitet den Grimmschen Text auch durch die Einbettung von komischen Handlungsmomenten, etwa Verwechslungsszenen und Verfolgungsepisoden, die die lustigen Diener und die karikiert dargestellten Hofbeamten ausführen. Zudem gibt es im Stück eine Zuspitzung der fabelhaften Elementen durch den Einsatz einer neuen Prüfungssituation und einer völlig neuen Figur. Dies bedeutet eine Variation der Handlung und deren Schluss im Verhältnis zur Märchenvorlage. In der Bearbeitung durch Richter wird der Prinz noch einer Prüfungssituation ausgesetzt, bevor er Dornröschen erlöst: Er muss gegen die böse Fee kämpfen, damit sie den Zauberspruch preisgibt. Während im Märchen nach hundert Jahren die Hecke um Dornröschenschloss von sich selbst auseinander tut und den Prinzen unbeschädigt hindurch lässt, braucht er in der Bühnenfassung einen Zauberspruch, dessen letzten Satz nur mit der Hilfe vom klugen Esel herausgefunden werden kann. Anhang 395 Dramaturgisch besteht Richters Märchenspiel aus einem Vorspiel und sieben Bildern. Zwischen den einzelnen Bildern sind Zwischenspiele, die laut Regieanweisung vor dem Zwischenvorhang im vorderen Bühnenraum gespielt werden sollen. Die eingeschobenen Zwischenspiele spezialisieren sich auf die Auftritte von zwei Erzähler- bzw. Kommentatorfiguren, dem Koch Balduin und der guten Fee Floralia. Die Handlung wird in 13 Sektionen dargeboten,192 deren Identität durch das Eingreifen der beiden Erzählerfiguren bedingt ist. Diese agieren als Bindemittel zwischen den einzelnen Bildern. 192 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Vorspiel“ (S. 1-4) Das Spiel beginnt nach dem hundertjährigen Schlaf Dornröschens. Balduin, der als Oberhofküchenmeister im Dornröschenschloss sich selbst darstellt, will den jungen Zuschauern die „wahre“ Geschichte Dornröschens erzählen. Damit leitet er das Spiel ein und eröffnet das Bühnengeschehen, das vor vielen Jahren stattgefunden hat, als Balduin ins Schloss ankam. –„Erstes Bild“ (S. 5-19) Im Hof des Schlosses heilt Balduin die Königin von ihrer Migräne. Und um ihr Kummer zu vertreiben, fragt Balduin den Frosch, der voraussagt, dass die Königin ein Kind bekommen wird. Dafür wird Balduin belohnt und als Oberhofküchenmeister eingestellt. –„Zwischenspiel“ (S. 20) Balduin nimmt den Kontakt mit dem Publikum wieder auf, indem er das Jahr vor der Geburt der Prinzessin referiert. –„Zweites Bild“ (S. 21-25) In diesem Bild beginnt die Handlung am Hofe, an dem alle Vorbereitungen für den Empfang der Feen getroffen werden. Im Schloss herrscht Jubel und Freude für die Geburt des Kindes. Doch der Frosch kündigt bereits an, dass das Kind Kummer machen wird. Balduin will es nicht glauben. Die Vorbereitungen für ein großes Fest beginnen, aber die dreizehnte Fee, Stacheline, wird dazu nicht eingeladen. –„Zweites Zwischenspiel“ (S. 26) Balduin spricht die Zuschauer wieder an, indem er von der Vorbereitung des Festes und von der fröhlichen Stimmung während des Essens berichtet. –„Drittes Bild“ (S. 27-32) Beim Fest taucht die böse Fee auf und spricht ihre Beschwörung aus, aber die gute Fee, Floralia, mildert den Fluch ab. Balduin bringt den König auf die Idee, alle Spindeln verbannen und alle Spinnräder verbrennen zu lassen. –„Drittes Zwischenspiel“ (S. 33) Balduin wendet sich nochmal zum Publikum, bringt seine Unentbehrlichkeit ins Gespräch und erzählt die Geschichte weiter, bis der böse Fluch in Erfüllung geht. –„Viertes Bild“ (S. 34-57) Der Hauptmann und der Minister stehen Wache um das Schloss herum, damit die böse Fee nicht einschleichen kann. Der Hauptmann hält den König, die Königin und den Minister für Verbrecher, verhaftet sie und verrät der Prinzessin das Geheimnis von der bösen Fee. Währenddessen probiert Balduin in der Küche ein Geburtstagslied. Die Prinzessin tritt als böse Fee verkleidet auf, um alle zu erschrecken. Eine Jagd folgt, bis den Schabernack entdeckt wird. In der Bodenkammer über der Küche wird trotz aller Vorkehrungen der Eltern der endgültige Sieg der bösen Fee dargestellt. –„Viertes Zwischenspiel“ (S. 58-59) Die gute Fee Floralia tritt aus ihrer Rolle momentan heraus und nimmt Kontakt mit den jungen Zuschauern auf. Sie wird Märchenerzählerin und Kommentatorfigur anstatt Balduin. Als solche führt sie den Prinzen ein. –„Fünftes Bild“ (S. 60-70) Um die Traurigkeit des Prinzen zu vertreiben, erzählt Floralia von der schlafenden Prinzessin. Der Prinz macht sich zum Dornröschenschloss auf und nimmt seinen Esel und den Hofmarschall mit. Um die böse Fee Stacheline überwinden zu können, gibt Floralia ihm eine zauberhafte Heckenrose. –„Fünftes Zwischenspiel“ (S. 71) Floralia spricht die Zuschauer wieder an, indem sie die Bravheit, Schlauheit und List des Prinzen und seiner Helfer ins Gespräch bringt. –„Sechstes Bild“ (S. 72-82) In der Grotte wird der Sieg über die böse Fee dargestellt, indem der Prinz Stacheline den Zauberspruch für Dornröschens Erlösung ablistet und sie mit der Heckenrose verzaubert. –„Siebtes Bild“ (S. 83-95) Mit der Hilfe vom Esel kann der letzte Satz des Zauberspruches herausgefunden werden, wobei die jungen Zuschauer aufgefordert werden, mitzumachen. Die Dornenhecke um das Schloss fällt in sich zusammen. Dornröschen wird erlöst und das ganze Königreich erwacht. Dem Prinzen wird Dornröschen zur Frau gegeben. Anhang 396 Das Stück besteht aus zwei Handlungssträngen. Der eine wird durch die episch vermittelnden Figuren des Kochs und der guten Fee vertreten; der zweite vertritt mit den restlichen Personen die eigentliche Handlung des Stückes. Darin vermischen sich also zwei Ebenen, d.h. Erzählung und Spielszenen wechseln sich ab. Mit der Präsenz von Erzählerfiguren weist das Stück eine deutliche Tendenz zur Episierung auf. Dies geschieht auch durch den Einsatz von anti-illusionierenden, relativierenden Mitteln wie Musik und Gesang, die dem Märchen ganz fremd sind, aber im Bühnenstück eine wichtige Rolle einnehmen. So leisten die Lieder Verschiedenes: Mit Liedern äußern die Figuren sich zu ihrer Person und ihrem Charakter; andererseits dienen Lieder dem Kommentieren der Handlung. Die drei dramaturgischen Einheiten von Ort, Zeit und Handlung werden nicht berücksichtigt. Das Stück spielt an verschiedenen Orten. Die Handlung folgt zeitlich nicht linear, sondern es sind Zeitsprünge und Beschleunigungen mittels der Berichte der beiden Erzähler- bzw. Kommentatorfiguren zu verzeichnen. Damit kann zwar der Inhalt des Märchens vervollständigt werden, indem es über verdeckte Aktionen informiert wird, aber zugleich wird die Zeiteinheit zerstört. Die eingeschobenen Zwischenpiele, die die Handlung unterbrechen, verunmöglichen die Einheit der Handlung. Mit dem Einsatz von Liedern wird auch die Handlungseinheit aufgehoben. Der Autor hat sehr sparsame Vorgaben für das Bühnenbild gemacht. Schwerpunkt bleibt also eine wenig konkretisierende Raumkonzeption, die der bloßen Fixierung der Handlungsorte dient, wobei die Requisiten mit großer Ökonomie eingesetzt werden. Teil der Bühnenbildanweisungen sind auch die Hinweisen auf Licht- und Toneffekte von Wetterverhältnissen, wie Wind, Donner und Blitz. Mit Sparsamkeit auch weisen die Regiebemerkungen auf Darstellungsart hin, indem sie sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben zur gestischen und mimischen Darstellung der Protagonisten beschränken. Zur Figuration: Neben den beträchtlichen Einschüben von Episoden und Situationen sind auch Neuerungen in Bezug auf das Personal zu verzeichnen. Aus der Besetzungsliste wird deutlich, dass der Bearbeiter Personen benutzt, die für die Grimm-Märchenvorlage charakteristisch sind (Prinzessin, König und Königin, Frosch, böse Fee, Koch und Küchenjunge, Prinz), aber unter bezeichnender Reduktion an der Zahl der Feen: Die dreizehn Feen des Märchens werden im Stück bis um zwei reduziert. Hier ist es noch festzustellen, dass einige von den Figuren, die bereits im ursprünglichen Märchen erscheinen, an Präsenz gewinnen und eine wichtige Rolle bekommen, besonders der Koch und die gute Fee. Ihre dramaturgische Konzeption stellt die Besonderheit dar, dass sie gleichzeitig die Rolle eines Vermittlers zwischen Bühne und Publikum einnehmen und in die Spielhandlung eingebunden sind. Richter hat auch dem Personal der Grimm völlig neue Figuren hinzugefügt. So wird der Figurenbestand durch die als Karikaturen präsentierten Hofbeamten und die Märchenfigur des Anhang 397 Esels erweitert. Der Esel tritt an der Seite des Prinzen ein und wird zu seinem treuen Wegbegleiter auf der Suche nach Dornröschen. Insgesamt sind die Figuren im Stück stereotyp gestaltet. Daneben sind auch Kontraste und Parallelismen unter den Figuren zu verzeichnen, die sich als relevant erweisen, da sie zu einem Gleichgewicht beitragen. Sehr deutlich sind z.B. die Kontraste in den Gegensatzpaaren Tiere (klug) / Hofbeamten (dumm), Prinzessin (fröhlich) / Prinz (traurig) und Fee Floralia (gut) / Fee Stacheline (böse). Bei den Parallelismen ist das Frosch-Esel-Paar sehr bezeichnend: Zum einen erscheinen die beiden Tiere als Komplementärfiguren, zum anderen relativieren sie die Menschen. König Drosselbart Ein Märchen nach den Gebrüdern Grimm Text von Hans Peter Doll und Günther Fleckenstein Erschienen 1966 im Rowohlt Theater Verlag, Reinbek bei Hamburg Autoren: Siehe Angaben unter Brüderlein und Schwesterlein. Entstehung und Uraufführung: Die Textvorlage für die Bühnenversion vom Grimmschen Märchen König Drosselbart verfassten Hans-Peter Doll und Günther Fleckenstein im Jahre 1966. Angaben zum genauen Uraufführungsjahr und -ort des Stückes können nicht gemacht werden. Personen: Prinzessin Heidelinde; der König, ihr Vater; König Heinrich von der Aue (Drosselbart); der Hofpfarrer; der Hofkoch; Potz und Blitz, zwei Musikanten bzw. zwei orientalische Prinzen. Orte der Handlung: Thronsaal; Köhlerhütte im Wald; Festsaal im Schloss des Königs Drosselbart. Zum Stück: König Drosselbart in der Bearbeitung von Doll und Fleckenstein basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 52). Die beiden Bearbeiter dramatisierten das Grimmsche Märchen in 4 Bildern.193 Aus der Synopse lässt sich Folgendes ablesen: 193 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„1. Bild“ (S. 3-14) Das Spiel fängt in Brechtscher Manier mit einem Song an. Vor dem noch geschlossenen Vorhang singen die zwei Musikanten Potz und Blitz und liefern dabei dem Publikum einen Inhaltsauszug der vom Stück darzustellenden Geschichte. Im Lied bringen sie auch ihr persönliches Ziel als handelnde Figuren zum Ausdruck: Als orientalische Prinzen verkleidet wollen sie der übermütigen Prinzessin Heidelinde einen Streich spielen. Mit dem Lied wird das Bühnengeschehen eingeleitet. Der Vorhang geht auf und die Bühne zeigt der Vaterkönig im Thronsaal Anhang 398 1. Die Geschichte von der stolzen und übermütigen Prinzessin Heidelinde, die alle Brautwerber verspottet, wird von den zwei Sängern Potz und Blitz erzählt. Im Laufe des Stückes treten sie vor den geschlossenen Vorhang als Moritatensänger bzw. Erzähler und stellen außerhalb der dramatischen Situation dem Kinderpublikum einzelne Abschnitte des Schicksals der Prinzessin vor. 2. Im Ganzen hält sich die Märchendramatisierung eng an der Grimm-Vorlage. Allerdings werden bei der Adaption bestimmte Teile des Ausgangsmärchens ausgespart, so z.B. beim Gespräch mit seiner Tochter. Im dialogischen Rückblick wird vom großen Fest erzählt, zu dem alle heiratslustigen Männer von höherem Rang und Stand eingeladen wurden. Allerdings ist kein Freier der stolzen und übermütigen Prinzessin gut genug gewesen. Potz und Blitz, nun als orientalische Prinzen verkleidet, und König Heinrich von der Aue treten auf. Auch sie wollen sich um die Hand der Prinzessin bewerben. Darum stellt die Prinzessin ihnen eine schwere Rätselfrage. Wer die Frage beantworten kann, darf sie heiraten. Nur der König Heinrich weiß die Lösung, aber die Prinzessin verhöhnt ihn als „König Drosselbart“ und lehnt ihn als Bewerber ab. Da hat der Vaterkönig endgültig genug und verspricht, die Prinzessin mit dem ersten dahergelaufenen Bettler zu verheiraten. Allerdings fleht er König Heinrich darum an, noch einen Tag im Schloss zu bleiben. Denn er glaubt, seine Tochter herumzubekommen. Mit drei Fragen entlarvt dann König Heinrich die beiden orientalischen Prinzen, die sich als verkleidete Musikanten herausstellen. Gemeinsam schmieden sie einen Plan. Am Ende des Bildes wenden sich Potz und Blitz dem Kinderpublikum, dabei singen sie vor geschlossenem Vorhang. In dem Lied erfahren die jungen Zuschauer über den Plan und darüber, was Prinzessin Heidelinde bevorsteht. –„2. Bild“ (S. 15-24) Im Thronsaal wird gezeigt, wie der Vaterkönig ein letztes Mal versucht, seine Tochter umzustimmen (Märcheneinlage), aber vergeblich: Prinzessin Heidelinde möchte die Frau von einem „König Drosselbart“ nicht sein. Potz und Blitz behaupten, König Heinrich sei vom Schloss fortgeritten. Da der Vaterkönig erkennt, dass es keine Hochzeit geben wird, lässt er die beiden orientalischen Prinzen Abschied nehmen. Um Zeit zu gewinnen, bis König Heinrich als Bettelmann gekleidet kommt, singen sie dem Vaterkönig und der Prinzessin ein Lied als Abschiedsgeschenk vor. König Heinrich kommt dann planmäßig als armer Spiel- und Bettelmann verkleidet zum König und singt. Da gibt der Vaterkönig ihm seine Tochter zur Frau, so sehr sie sich auch dagegen wehrt. Nach der Trauung wird sie aus dem Schloss gewiesen. –„3. Bild“ (S. 25-32) Vor geschlossenem Vorhang singen Potz und Blitz ein Lied, in dem sie dem Kinderpublikum einen weiteren Abschnitt des Schicksals der Prinzessin vorstellen. Es wird dann gezeigt, wie der Spielmann und die zur Magd gewordene Prinzessin durch den Wald, weite Felder und blühende Wiesen kommen. Der Vorhang geht auf und zeigt eine Köhlerhütte, die nun ihr Heim wird. In der Hütte gibt es keine Diener, also soll die Prinzessin selbst alle Arbeiten verrichten. Allerdings gelingt ihr weder das Feuermachen noch das Kochen, sodass der Spielmann sich selbst darum kümmern muss. Das Körbeflechten, das Spinnen und das Töpfeverkaufen wollen ihr auch nicht gelingen, auch wenn Potz und Blitz sie lehren, wie man Ware feilhält. Der verkleidete Spielmann reitet dann als betrunkener Husar durch ihren Stand und zerschlägt das ganze Geschirr. Da ihr Mann befindet, dass sie zu keiner ordentlichen Arbeit zu gebrauchen sei, wird sie als Küchenmagd aufs Schloss von König Drosselbart geschickt. –„4. Bild“ (S. 33-39) Vor dem noch geschlossenen Vorhang singen und erzählen Potz und Blitz dem Publikum den letzten Abschnitt des Schicksals der Prinzessin. Nun muss sie in der Küche jenes Königs dienen, den sie einst so böse verspottet hatte, und die sauerste Arbeit tun. Allein und verzweifelt denkt sie an ihr Schicksal und singt dabei ein trauriges Lied. Erst jetzt erkennt sie den ausgeführten Fehler und dass sie durch Hochherzigkeit und Liebe wieder gutmachen muss. Potz und Blitz treten als orientalische Prinzen auf und nehmen noch schnell Kontakt mit dem Kinderpublikum auf. Sie wollen die Prinzessin auf eine letzte Probe stellen und geben ihr das einst von ihr gestellte Rätsel auf. Sie weiß die Lösung, aber sie glauben ihr nicht, dass sie Prinzessin Heidelinde ist. Drosselbart tritt dann auf und als er mit ihr tanzen will, erkennt sie voller Schreck, dass es sich um den von ihr abgewiesenen und verspotteten König handelt. Sie will flüchten, aber der König hält sie zurück und offenbart sich ihr. Hildelinde erkennt ihr Unrecht und stellt fest, dass sie ihres Mannes nicht wert ist. Aber Drosselbart weiß, dass sie ihre Prüfungen durchgestanden und zu sich selbst gefunden hat. Da feiern sie ihre Hochzeit. Das Stück endet mit Weihnachtsbeleuchtung und das Kinderpublikum wird mit einem Lied der beiden Musikanten verabschiedet. Anhang 399 das vom Vaterkönig veranstaltete Fest, zu dem alle heiratslustigen Männer eingeladen werden. Das Fest wird bei Doll und Fleckenstein im Rückblick über den Dialog vom König und der Prinzessin erzählt. Andere Situationen wiederum werden neu erfunden und besonders hervorgehoben. So stellt sich z.B. die Handlung der beiden Musikanten Potz und Blitz, also sein Wunsch, der übermütigen Prinzessin einen Streich zu spielen, als Subplot heraus. Dazu gehört auch das retardierende Moment im letzten Bild, also das Rätselaufgeben, das den Ausgang hinauszögert. 3. Weitere fremde Momente stellen die Hinweise auf das Weihnachtsfest und dessen Emblematik am Ende des Stückes dar. 4. Als weiterer bearbeitender Eingriff in die Handlung des Märchens ist auch die Zuspitzung fabelhafter Elemente zu verzeichnen, z.B. durch das von der Prinzessin gestellte Rätsel an die Freier, das die Bearbeiter auch von den Grimms übernommen haben,194 oder durch die Märcheneinlage „Die Prinzessin mit dem gläsernen Herzen“. Des Weiteren ist auch im 1. Bild das Hinzufügen vom neuen Motiv des von König Heinrich (bzw. Drosselbart) gemeinsam mit Potz und Blitz geschmiedeten Plans zu verzeichnen, das im Stück als dramaturgisches Mittel eingesetzt wird zum Erreichen von Wahrscheinlichkeit: Der König will der eingebildeten Prinzessin eine Lehre erteilen. 5. Als deutliche Hinzufügung zum ursprünglichen Märchen sind außerdem die von Potz und Blitz gesungenen Lieder nach alten und bekannten Melodien zu verzeichnen, etwa „Wozu ist die Straße da?“195 (2. Bild) und „Der Jäger aus Kurpfalz“ (3. Bild). Dabei handelt es sich um rhythmisch eingängige Lieder, die bei der szenischen Darbietung das Kinderpublikum zum Mitsingen und Mitklatschen animieren und dadurch zur Identifikation einladen. Daneben gibt es auch Songs Brechtscher Art, die informierenden oder reflektierenden Charakter besitzen. So singen und erzählen die beiden Figuren nach der Melodie der Ballade „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ einzelne Abschnitte des Schicksals der Prinzessin. Die eingebauten Lieder haben handlungsdurchbrechende Funktion. Sie heben den dramatischen Ablauf auf insofern, als sie sich an die Zuschauer wenden. Im Stück sind die Lieder also Einlagen, die die Einheit der Handlung gefährden. Ãœberhaupt tragen die eingeschobenen Liedeinlagen zu einer Episierung des Geschehens bei. 6. Daneben lassen sich weitere Episierungstendenzen im Bühnenstück beobachten. Das geschieht z.B. durch die Publikumsanreden der beiden Dienerfiguren und des Königs 194 Das Rätsel (im Stück nur leicht variiert) stammt ursprünglich aus dem Märchen Die kluge Bauerntochter (KHM 94): „Komm zu mir, nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg, und wenn du das kannst, will ich dich heiraten.“ 195 Original von Heinz Rühmann (1902-1994) aus der Filmkomödie Lumpacivagabundus (1936). Anhang 400 Heinrich, die für einen Moment aus der Rolle heraustreten und Kontakt mit dem Kinderpublikum aufnehmen. 7. Die dramaturgischen Einheiten von Ort und Zeit werden im Bühnenstück auch nicht beachtet. Es gibt Zeitsprünge und Ortswechsel. Die Bearbeiter setzen Regieanweisungen sehr sparsam ein, d.h. sie machen sehr sparsame Vorgaben für die Bühnenbildbeschreibung, es wird lediglich der Handlungsort angegeben. Es gibt keine Angaben, wie sie sich etwa die Köhlerhütte im Wald, in die der Spielmann und seine frisch angetraute Frau ziehen, oder das Festsaal im Schloss des Königs Drosselbart im 4. Bild vorstellen. Ganz anders verhält es sich mit den Angaben zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren. So liefert der Nebentext klare und detaillierte Regieanweisungen zur Mimik und Gestik sowie zum Verhalten der auftretenden Figuren. Zur Figuration: Alle wichtigen Figuren des Grimmschen Märchens kommen im Stück vor. Bei der Adaption werden aber auch zwei Figuren neu erfunden: Potz und Blitz, die als Erzähler der Geschichte fungieren. Daneben treten sie im Stück auch als Spielfiguren auf, d.h. sie sind Teil der Bühnenhandlung. Gerade diese sonst bei Doll und Fleckenstein auftretenden Figuren machen das Stück unterhaltsam, vor allem sorgen sie für komische Situationen. Die Figuren werden als typisierte Menschen dargestellt. Sie sind namenlos, werden nur als „König“, „Hofpfarrer“ und „Hofkoch“ bezeichnet. Eine Ausnahme bilden allerdings die beiden Hauptprotagonisten, die mit Namen versehen werden. König Drosselbart Ein Märchen in 4 Bildern nach den Brüdern Grimm Text von Inge Leudesdorff Erschienen vermtl. 1948 im Chronos Verlag Martin Mörike, Hamburg196 Autorin: Inge Leudesdorff wurde 1919 in Hamburg als Tochter eines Schauspielers und einer Schauspielerin geboren. Nach Beendigung der Schulzeit studierte sie Schauspiel und war anschließend als Schauspielerin u.a. an Theatern in Hamburg, Bremen und Magdeburg tätig. Sie war auch Sprecherin im Rundfunk, wo sie bis zu ihrer Pensionierung 1973 arbeitete. Sie lebte zehn Jahre in Graz (Österreich), dann zog sie nach Rostock, wo sie jetzt wohnt. Weitere Angaben konnten nicht gefunden werden. Auch der Verlag für Kindertheater Uwe Weitendorf (Hamburg), der heute das Werk von Inge Leudesdorff vertritt, verfügt nicht über eine 196 Das Stück ist auch ca. 1980 als Nachdruck beim Verlag für Kindertheater Uwe Weitendorf in Hamburg erschienen. Anhang 401 ausführlichere Biografie. Als Theaterautorin hat Inge Leudesdorff folgende Märchenvorlagen der Brüder Grimm für das Kindertheater bearbeitet: Frau Holle, Rumpelstilzchen (UA: 1947 Thalia-Theater, Hamburg) und König Drosselbart (UA: 1948 Thalia-Theater, Hamburg). Die letzten beiden Stücke wurden vermutlich Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts geschrieben. Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Erscheinungsjahr des Stückes können nicht gemacht werden, da es keine Daten vorliegen. Auch der heute das Stück vetretende Verlag, der Verlag für Kindertheater Uwe Weitendorf, verfügt nicht über diese Information. Da Leudesdorffs Bühnenmärchen am 1. Dezember 1948 am Thalia-Theater in Hamburg zur Uraufführung kam, also zur Weihnachtszeit als „Weihnachtsmärchen“ inszeniert wurde, kann man nur zur Schlussfolgerung kommen, dass es im gleichen Jahr geschrieben wurde. Personen: der König; die Prinzessin; der Hofmeister; die Freier: Herzog von Anmutreich, Edler von Schönbein, Baron Ãœberklug, König Drosselbart; Hinz und Kunz, Knappen des König Drosselbart; der Hofkoch; die Lebkuchenfrau; die Spielwarenhändlerin; die Christschmuckverkäuferin; die Leierkastenmann; Kakadu Habakuk; Hofleute; Volk; Diener, Kinder; Kasperlefiguren. Orte der Handlung: Gartenhäuschen; Jagdhütte; Weihnachtsmarkt; König Drosselbarts Schloss. Zum Stück: Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm von der arroganten Prinzessin, die einem Bettler zur Frau gegeben wird (KHM 52). Leudesdorff hat allerdings das Märchen durch einige komische Episoden und Figuren ebenso wie durch eine traumhafte Kaspertheaterszene zu einem unabhängigen Theaterstück verarbeitet. Das Stück ist in vier Bilder unterteilt. Das erste Bild spielt im Gartenhäuschen, das zweite in der Jagdhütte, das dritte auf dem Weihnachtsmarkt und das vierte Bild in König Drosselbarts Schloss.197 Die im Stück dargestellte Geschichte wird in eine unbestimmte Zeit und in ein vages 197 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 1-13) Im Gartenhäuschen schaukelt und singt die Prinzessin. Der Hofmeister kommt hergeschickt und informiert über die neuen Freier: Herzog Anmutreich, Edler von Schönbein und Baron Ãœberklug. Den Namen des vierten Freiers hat er vergessen. Doch die Prinzessin denkt gar nicht an heiraten. Sie hat schon einige Freier abgewiesen, weil ihr keiner gut genug war. (Motiv der Brautwerbung). Die Freier werden gerufen. Die Prinzessin hat vor ihrem Vater an die ersten drei Freier voll Spott etwas auszusetzen. Den vierten Freier, dessen Kinn krumm ist, nennt sie Drosselbart. Da gelobt der zornige Vater, sie dem ersten Bettler, der aufs Schloss kommt, zur Frau zu geben. Doch Drosselbart, der sich in die Prinzessin tief verliebt hat, weiß, dass ihre Wildheit nicht aus einem bösen Herzen kommt, und will ihre Wildheit zähmen. Zusammen mit dem König entwirft er einen Plan: Er soll als Spielmann verkleidet im Schlosspark singen. So wird die Prinzessin zur Frau eines Anhang 402 Nirgendwo gesetzt. Allerdings verraten einige Anspielungen (z.B. Szenerie, Requisiten) das Jahrhundert, in dem sie gedacht wird: das Mittelalter. Wie im naturalistischen Drama erreichen bei Leudesdorff die Bühnenanweisungen zur Schauplatzgestaltung z.T. epische Breite. Die Bearbeiterin variiert den überlieferten Stoff an zwei Punkten. Zum einen lässt sie Drosselbart den Plan vom verkleideten Spielmann zusammen mit dem König entwerfen, um die Wildheit der Prinzessin zu zähmen. Neben dieser Motivation muss die ebenso psychologische Motivation angeführt werden: Drosselbart handelt nämlich aus Liebe. Zum anderen integriert die Autorin Hinweise aufs Weihnachtsfest in die Handlung und dessen Emblematik. Was die Struktur angeht, so lässt sich Leudesdorff vom Märchen leiten und folgt der Grimmschen Vorlage in deren dramaturgischen Aufbau, indem sie die Fabel in drei Schritte darstellt. So verwendet sie die Dreizahl des Märchens für die Handlungsstruktur als Gesetz der Bettlers und dennoch wird sie Königin bleiben. Die Prinzessin heißt dem Hofmeister, Wachen an allen Parktoren aufzustellen, damit kein Bettler das Schloss betreten kann. Nicht lange, und ein bettelnder Sänger erscheint. Er singt und bittet um eine Gabe. Der König gibt ihm seine Tochter zur Frau, zahlt ihm noch 10 Dukaten darauf und schickt die beiden davon. –„Zweites Bild“ (S. 14-22) Um den Plan schnell auszuführen, hat Drosselbart ein Spinnrad, einen Topf Wassersuppe, alte Kleider und Holzpantoffeln in seine Jagdhütte bringen lassen, so soll die Prinzessin lernen, sich ganz als arme Frau zu fühlen. Hinz und Kunz, Drosselbarts Knappen, bereiten alles vor. Dabei spielen und singen sie. Auf dem Weg in die Verlassenheit (Drosselbart und die Prinzessin treten durch den Zuschauerraum auf) entspinnt sich eine dreifache Wechselrede. Dreimal klagt die verstossene Königstochter, dass sie den guten König, dem Wald, Wiese und Stadt gehören, verschmäht habe und nun einem Spielmann ins Elend folgen müsse. Ihre Schule beginnt. Die Unterkunft ist armselig klein. Diener gibt es nicht, sie hat alles selber zu tun. Wenn es ans Kochen geht, muss der Mann ihr helfen. Das Bett muss früh wieder verlassen werden: Im Haushalt wartet viel Arbeit auf sie. Und die Vorräte sind rasch aufgezehrt. Körbe zu flechten oder spinnen – dazu taugen ihre zarten Hände nicht. –„Drittes Bild“ (S. 23-32) Die Lehrzeit geht auf dem Weihnachtsmarkt weiter. Dort schauen sich Kinder ein Kasperstück an, Händler bieten ihre Ware feil. Auch die Prinzessin bietet Töpfeware an. Dabei erfährt sie, dass sie ihrer Schönheit halber beachtet wird. Es kommen dann der Herzog Anmutreich, der Edler von Schönbein und der Baron Ãœberklug, sehen die Prinzessin Töpfe feilbieten und verspotten sie. Die Marktecke gibt auch keinen sicheren Stand: Ein trunkener Husar reitet das Geschirr zusammen. Die Prinzessin sitzt dort traurig und bekümmert, schläft gleich darauf ein und träumt. Inzwischen wird es im Kaspertheater lebendig. Die Aufführung, die von einem Kasperkönig, einer Kasperprinzessin und einem Kasperprinzen getragen wird, bringt der träumenden Prinzessin Klarheit. –„Viertes Bild“ (S. 33-42) Ihr Mann verdingt sie in König Drosselbarts Schloss, wo es nun das Weihnachtsessen geben wird. Das vom Festmahl Ãœbriggebliebene soll sie in zwei Töpfen unter ihrer Schürze heimtragen. Von den köstlichen Speisen, die da ein und aus getragen werden, helfen ihr Hinz und Kunz dabei, etwas zu ernaschen. Wenn der Ball losgeht, bewundert sie von der Tür aus die Herrlichkeit und verwünscht abermals ihren Stolz und ihren Ãœbermut, die sie in diese elende Lage gebracht haben. Der König, in dem sie den König Drosselbart erkennt, führt sie trotz ihrer Weigerung zum Tanz. Die Bänder reißen, die heimlich gesammelten Speisen ergießen sich auf den Boden, die junge Frau ist von Gelächter und Spott zutiefst beschämt und flüchtet. Doch König Drosselbart holt sie zurück und erklärt, dass er, der Spielmann und auch der Husar ein und derselbe seien. Dass er mit ihr in dem elenden Haus gelebt habe, aber ihren Stolz habe beugen und ihren Spott habe strafen müssen. Die junge Frau erkennt ihr Unrecht und stellt fest, dass sie ihres Mannes nicht wert ist. Aber ihr Mann weiß, dass sie ihre Prüfungen durchgestanden und zu sich selbst gefunden hat. Da feiern sie ihre Hochzeit und Weihnachten. Anhang 403 Steigerung, um einen pyramidenartigen Aufbau in drei sich übereinander Stufen zu erzielen. Wie bei den Brüdern Grimm so muss auch hier die Prinzessin drei Prüfungen durchstehen. Das Stück ist wie ein klassisches Drama aufgebaut. Es präsentiert sich als ein geschlossenes und hierarchisiertes Ganzes, also mit Einleitung, erregendem Moment, aufsteigender Handlung, Höhepunkt, tragischem Moment, Fall, retardierendem Moment und Katastrophe. Im Mittelpunkt steht der Lernprozess der Prinzessin, der hier beispielgebend vorgeführt wird. Gleichzeitig aber bricht Leudesdorff mit der überlieferten Form und lässt Durchbrechungen der linearen Handlungsstruktur zu, die wichtige Momente der Abweichung des geschlossenen Dramas ausmachen und sich als episierend erweisen. In der Weihnachtsmarktepisode existiert so eine Spiel-im-Spiel Ebene (Kaspertheaterszene), daneben ist da aber auch eine handlungsbezogene Traumeinlage von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Traumszene wird auch in Form von einer Kaspertheateraufführung dargestellt, dabei greift die Autorin zum zusätzlichen Mittel metrischer Differenzierung. Leudesdorffs Bühnenbearbeitung macht ein pädagogisch-didaktisches Märchenspiel aus. Darin rückt die Märchenhandlung zugunsten moralischen Belehrungen: Die Geschichte von der hochmütigen Prinzessin zeigt, dass der Natur des Meschen Zwang anzutun, ist nur mit Sanktion durchsetzbar, dass Erziehung mit Zwang identisch ist, dass ein Lernprozess durch Entbehrung und Mangel zum Glücklichen Ziel führt. Der Bearbeiterin geht es im Stück vor allem um Beispielhaftes, insofern werden Erkenntnisse als Kommentar und Spruchweisheit sentenziös aufgesetzt, die als Belehrung mit Seitenblick auf die jungen Zuschauer abgegeben werden, etwa „Schönheit und Reichtum werden vergehen, ein gutes Herz bleibt immer bestehen“ (Bild 3, S. 31). Die moralische Botschaft des Stückes wäre also: Das Wichtigste ist, sich gegenüber materiellen Dingen zu bescheiden, dafür die inneren menschlichen Werte zu schätzen. Zur Figuration: Die Figuren des Stückes stammen aus der Märchenvorlage, ihrer Charakterisierung und Funktion bezüglich werden sie typisiert. Dem Märchen folgend bleiben die meisten im Stück auftretenden Figuren ohne Namen: Sie sind einfach König, Prinzessin, Hofmeister oder Hofkoch. Wird dieser Grundsatz durchbrochen, so werden die Figuren mit Namen genannt, die besondere persönliche Eigenschaften ausdrücken. Als ein Beispiel von vielen sei hier nur auf den Namen des männlichen Protagonisten (Drosselbart) verwiesen. Durch das Hinzufügen neuer Figuren (u.a. des Hofmeisters, der Knappen Hinz und Kunz, der Markthändler, der Kasperlefiguren) lässt sich eine Erweiterung des Figurenpersonals im Stück erkennen. Anhang 404 König Drosselbart Ein Märchen in sieben Bildern nach den Gebrüdern Grimm Text von Georg Weth Erschienen bei der Vertriebsstelle und Verlag Deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt Autor: Siehe Angaben unter Aschenputtel. Entstehung und Uraufführung: Die Uraufführung fand am 1.10.1969 durch das Badische Kammerschauspiel statt. Angaben zum genauen Erscheinungsjahr des Stückes können nicht gemacht werden. Anhand der im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek angegebenen Jahreszahl lässt sich allerdings feststellen, dass das Stück ca. 1970 als unverkäufliches Manuskript bei der VVB in Norderstedt erschien. Personen: Wappi und Schlürfel, zwei Wichtelmännchen; Prinzessin; König Drosselbart; der alte König. Orte der Handlung: Säulenvorhalle im Schloss des Königs Hohenstein; Wald; Hütte des Spielmanns; Vorhalle des Festsaals im Schloss des Königs Drosselbart. Zum Stück: Das Stück baut auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm auf (KHM 52). Die Stückhandlung folgt im Wesentlichen der Handlung der Märchenvorlage. Der Stücktext zerfällt in sieben Abschnitte bzw. Bilder, deren Grenzen jeweils durch partiellen Konfigurationswechsel, durch Durchbrechung der raum-zeitlichen Kontinuität und durch Vorhang und Pause deutlich markiert werden. Der Aufbau ist folgender: Die Exposition zieht sich über die drei ersten Bilder hin und ist mit der Pauseneinlage am Ende des 4. Bilds abgeschlossen. Bei der Exposition wird die verdeckte Szene, in der alle heiratsfähigen jungen Männer in einem Saal versammelt werden, über die Repliken der Figuren vermittelt. Das 5. Bild bildet den Mittelpunkt der Geschichte: Hier beginnt die Schule der stolzen und hochmütigen Prinzessin. Ihr Lehrzeit geht im 6. Bild weiter. Im 7. Bild gipfelt dann die Handlung in dem Höhepunkt: Der Schwerpunkt liegt auf der endgültigen Zähmung der hochmütigen Prinzessin, also der Erkenntnis, ein Unrecht begangen zu haben, und dem glücklichen Ende mit abschließender Hochzeit.198 198 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht die Abfolge der Märchengeschichte bei Weth so aus: –„Erstes Bild“ (S. 5-14) Es spielt in der Säulenvorhalle des Königsschlosses. Der erste Auftritt zeigt zwei unter festlicher Musik tanzende Wichtelmännchen: Wappi und Schlürfel. Aus dem Dialog, der nach dem Tanz einsetzt, wird deutlich, dass es einen besonderen Anlass für ihr Dasein gibt: Sie haben Anhang 405 das Gefühl, im Schloss des Königs von Hohenstein gebraucht zu werden. Dabei stellt sich auch heraus, dass der Prinzessin eine Anzahl Freier vorgestellt werden soll. Es folgt eine komische Szene, in der beide Wichtelmännchen durch das Schlüsselloch sehen wollen, um die Lage im Inneren des Königsschlosses (im Offstage-Bereich) zu erkunden. Diese Szene wird dann überraschend durch den Auftritt der Prinzessin und ihres Vaters unterbrochen. Im Gespräch mit dem Vater wirkt das Mädchen stolz und hochmütig und sagt, dass sie gar nicht daran denkt, einen hergelaufenen König oder Prinzen zu heiraten; stattdessen will sie nur einen reichen und schönen König zum Gemahl nehmen. Unter akustischen Signalen (Fanfarenstoßen) werden die neuen Freier im Offstage-Bereich (Thronsaal) angekündigt. Das motiviert den Abgang der Prinzessin und des Königs. Die außerhalb der Bühne stattfindende Brautwerbungszene wird in einer Art Mauerschau allein aus der Sicht der zwei Wichtelmännchen geschildert: Durch ihr lustiges Nachahmspiel folgen die Zuschauenden der Handlung, die simultan im off-stage verläuft. Dabei erfolgt, wie die Prinzessin den ersten Freier, den Fürsten von und zu Bedonien, abweist. Der nächste Auftritt zeigt die Prinzessin im Gespräch mit dem König. Im rekapitulierenden Rückblick berichten sie über die verdeckte Handlung, also den Verlauf der Brautwerbung: Keiner der anderen fünf Freier war gut genug, die Prinzessin hatte an einem jeden etwas auszusetzen. Unter Fanfarenstoß wird der letzte Freier im Thronsaal (Offstage-Bereich) angekündigt. Er wird vom König geholt. Auftritt vom König begleitet vom König von Saphiren. Als die Prinzessin ihn wegen seines Aussehens als König Drosselbart verspottet, reicht es dem alten König: Er schwört, seine Tochter dem ersten besten Bettler, der an seinem Hof Almosen verlangt, zum Manne zu geben. Das Ende des ersten Bilds wird durch fallenden Vorhang markiert. –„Zweites Bild“ (S. 15-20) Es spielt wieder in der Vorhalle zum Königssaal. Der erste Auftritt zeigt die beiden Wichtelmännchen. Aus ihrem Gespräch geht hervor, dass es acht Tage vergangen sind. Daraus geht auch hervor, dass es im Land durch die gute Regierung des alten Königs kaum noch Bettler gibt. Doch als beide abgehen wollen, betritt ein fahrender Spielmann die Bühne. Das ist kein anderer als der abgewiesene König Drosselbart, der um Gehör des Königs Hohenstein bittet. Der alte König tritt in die Vorhalle auf. Die ganze Szene wird aufmerksam von einer versteckten Position aus von den beiden Wichtelmännchen beobachtet. Aus dem Monolog des Königs geht deutlich hervor, dass es ihm sehr schwer fällt, seinen Schwur zu halten und sich somit von seiner Tochter trennen zu müssen. Trotzdem will er darin einwilligen, und zwar um ihren Hochmut zu brechen. Der Spielmann wird vom König empfangen und zum Singen aufgefordert. Auftritt der Prinzessin, die zörnig das Lied des Spielmanns unterbricht. Der alte König zögert nicht und gibt dem armen Spielmann seine hochmütige und schnippische Tochter zur Frau. Dann weist er sie aus dem Schloss. Nach dem Abgang der drei Figuren erscheinen die zwei Wichtelmännchen. Da sie eine gute Tat vollbringen und der Prinzessin und dem Spielmann helfen wollen, verfolgen sie die beiden. Der Vorhang am Ende des Bilds ermöglicht wegen Schauplatzwechsel den Bühnenumbau. –„Drittes Bild“ (S. 21-24) Es spielt in einer Waldszenerie, auf dem Weg zur Hütte des Spielmanns, in der Dämmerung. Das Bild bringt wenig Handlung. Im Mittelpunkt des Bildes steht das Bereuen von der Prinzessin, König Drosselbart nicht zum Mann genommen zu haben. Die beiden Wichtelmännchen kommen mit dem „Wichtelmannlied“ in die Szene. Dabei erfolgt die für das Verständnis der Handlung notwendige Charakterisierung der Wichtelmännchen als Helferfiguren. Durch gezielte Fragen werden dann die jungen Zuschauer dazu bewegt, sich in das Spiel mit einzubeziehen. Wegen Schauplatzwechsel ermöglicht noch einmal der Vorhang am Ende des Bilds den Bühnenumbau. –„Viertes Bild“ (S. 25-31) Es spielt in der Nacht in der Hütte des Spielmanns. Die Wichtelmännchen erscheinen und erkunden die Umgebung und die Hütte. Daraus wird eine lange, komische Szene gemacht. Es kommen die Prinzessin und der Spielmann hervor. Die Szene bringt wenig an Handlung; der Schwerpunkt liegt auf der Trostlosigkeit der Prinzessin. Fünftes Am Ende des Bilds wird eine Pause eingelegt. Damit ist die entscheidende Information gegeben, aus der sich die weitere Handlung entwickelt. –„Fünftes Bild“ (S. 32-37) Es spielt wieder in der Hütte des Spielmanns. Es tagt. Das wird durch akustische Signale (Vogelgezwitscher, Hahnenschreie) markiert. Der erste Auftritt des fünften Bilds zeigt die beiden Wichtelmännchen beim Aufwachen aus dem Schlaf. Dabei entdecken sie das noch schlafende Paar und verstecken sich, bevor der Spielmann und die Prinzessin wach werden. Anhang 406 In seiner Bühnenbearbeitung greift Weth auf die zentralen Motive des Grimmschen Märchens zurück, also von den Motiven der Brautwerbung und des verspotteten Freier über das Motiv der Verheiratung der Königstochter durch ihren Vater bis zum Motiv des unfreiwilligen Fortziehens der Prinzessin aus dem Elternschloss. Trotz dieser Nähe zur Märchenvorlage haben wir es bei Weths Bearbeitung mit einer sehr knappen Bühnenfassung des Grimmschen König Drosselbart-Märchens zu tun. Dabei gibt es keine Verlängerungen. Vielmehr wird auf der Ebene des Geschichtenumfangs die Vorlage reduziert, und zwar in dem Sinne, dass bestimmte Abschnitte der ursprünglichen Geschichte in die verdeckte Handlung verdrängt werden. Dazu zählt z.B. die Episode der Brautwerbung im ersten Bild, die als räumlich verdeckte Handlung Der Spielmann erwacht und singt dabei ein dem Publikum vertrautes Volkslied: „Der Kuckuck“. Darauf wird auch die Prinzessin wach. Im Haus des Spielmanns soll sie schwere und ungewohnte Arbeiten leisten: das Haus versorgen, kochen, Körbe flechten, Wasser holen. Unsichtbar stehen dann die beiden Wichtelmännchen ihr beim Feuermachen zur Seite. Durch fallenden Vorhang wird das Ende des Bilds markiert. –„Sechstes Bild“ (S. 38-42) Es spielt am Abend wieder in der Hütte des Spielmanns. Ein Zeitsprung markiert den Anfang des Bildes: Durch die beiden Wichtelmännchen erfährt das Publikum, dass es mittlerweile ein Monat vergangen ist. Im Rückgriff auf Vergangenes erzählen die Wichtelmännchen dann über das harte Leben der Prinzessin in der Hütte. Dabei bringen sie ihre heimliche Hilfe bei der Hausarbeit sowie die Beschützung der Prinzessin ins Gespräch. Aus ihrem Gespräch geht auch hervor, dass die Prinzessin auch Geschirr auf dem Markt verkaufen muss. Der nächste Auftritt zeigt die Prinzessin als Marktfrau, die verschreckt mit einem Korb zerschlagenen Geschirrs vom Markt in die Hütte zurückkehrt. Der Spielmann erscheint; die Prinzessin erzählt ihm von dem unglücklichen Missgeschick. Auf diese Weise erfahren die Zuschauer von der räumlich-zeitlich verdeckten Handlung auf dem Markt. Da wird der Spielmann böse auf die Prinzessin und schickt sie in die Schlossküche des Königs Drosselbart. Sie soll sich dort als Küchenmagd bewerben. Der Vorhang am Ende des Bilds ermöglicht wegen Schauplatzwechsel den Bühnenumbau. –„Siebtes Bild“ (S. 43-50) Es spielt in der Vorhalle des Festsaals im Schloss des Königs Drosselbart. Die beiden Wichtelmännchen kommen hervor und nehmen Kontakt mit dem Publikum auf. Aus ihrem Gespräch geht hervor, dass nun die Prinzessin in der Schlossküche arbeitet und dass es auf dem Schloss die Hochzeit von König Drosselbart ausgerichtet wird. Als ein Fanfarenstoß von der Ankunft des Königs von Hohenstein im Offstage-Bereich kündet, verstecken sich die Wichtelmännchen. König Drosselbart und König von Hohenstein kommen in die Szene. Der alte König bringt den Wunsch, seine Tochter wiederzusehen, zum Ausdruck. Unter akustischen Signalen (Fanfaren, Beifall und Festmusik) gehen beide ab. Der nächste Auftritt zeigt die Prinzessin als Küchenmagd, die mit betrübtem Herzen an ihr Schicksal denkt. Trotzdem ist sie zufrieden mit ihrem Los. Sie sagt, sie habe die Lektion gelernt. Beim Abgehen kommt König Drosselbart in die Vorhalle und entdeckt sie: In dem Küchenmagd erkennt er die frühere Prinzessin zu Hohenstein. Und als sie bekennt, dass sie sich gebessert habe und dass ihr Stolz, Hochmut und Spott verbannt seien und nie mehr wiederkommen werden, verzeiht König Drosselbart ihr und lässt trotz ihrer Weigerung ein festliches Gewand für sie holen. Es folgt ein kurzer Auftritt der beiden Wichtelmännchen, bei dem das Publikum einbezogen wird: Die jungen Zuschauer werden gefragt, ob ihrer Meinung nach die einstige Prinzessin ein guter Mensch geworden ist. König Drosselbart kommt hervor, gefolgt von der festlich gekleideten Prinzessin. Die Hochzeit beginnt und als Drosselbart sie zu seiner Königin krönen will, bringt sie ihre Ehe mit dem vermeintlichen Spielmann, der ja König Drosselbart ist, zum Ausdruck. Da gibt sich König Drosselbart zu erkennen: Er erklärt, dass er, der Spielmann und auch der Husar ein und derselbe seien; dass er ihr zuliebe ihren Stolz habe beugen und ihren Spott habe strafen müssen. König von Hohenstein kommt in die Szene und erfährt, dass alles nur ein Spiel war; dass jener Spielmann eigentlich keiner war, sondern Drosselbart selbst. Unter akustischen Signalen (Fanfaren, Beifall, Hochrufe) gehen alle drei ab. Das Stück kommt mit dem Auftritt der beiden Wichtelmännchen zu seinem Ende. Anhang 407 im off stage stattfindet und zunächst in einer Art Mauerschau im Dialog der beiden Wichtelmännchen nur angedeutet wird. Auffällig dabei ist, dass hier gleichzeitig zwei Handlungsabläufe präsentiert werden: die durch die Wichtelmännchen vermittelte Brautwerbungsszene im Offstage-Bereich und die unmittelbar szenisch dargestellten Reaktionen beider Wichtelmännchen darauf. Diese verdeckte Szene, also den weiteren Verlauf der Brautwerbung, wird dann im rekapitulierenden Gespräch zwischen der Prinzesin und ihrem Vater nachgetragen. Als weitere verdeckte Handlungsphase, die nicht szenisch dargestellt, sondern über die Figurenrede vermittelt wird, ist auch die Marktepisode vom Zerschlagen der Töpferwaren durch den betrunkenen Husar hervorzuheben. Der Marktaufenthalt wird hier über den Bericht der Protagonistin, zwar im Rückgriff auf Vergangenes, sprachlich-narrativ vermittelt (vgl. im Bild 6). Inhaltlich wird schließlich die Märchenvorlage reduziert, indem der Teil, in dem die einstige Prinzessin von Hohenstein als Küchenmagd im Schloss des Königs Drosselbart arbeitet, gekürzt wird. Hier konzentriert sich Weth auf die endgültige Zähmung der einst arroganten Königstochter und ihre Heirat mit König Drosselbart. Was den Schluss des Stückes angeht, so bleibt dieser in beiden Fassungen unverändert. So wie im Grimm-Märchen erzählt die Geschichte bei Weth eine Charakterveränderung: Der zentrale Konflikt des Stückes besteht in der Ãœberwindung der Arroganz der Protagonistin hin zu Demut und Bescheidenheit. Der Gegenspieler im Sinne Propps erscheint hier also nicht in Form einer gegnerischen Figur, sondern ist Bestandteil des Charakters der Hauptfigur. Ihre innere Wandlung wird von außen motiviert, d.h. der Aufgabe, der Königstochter den Hochmut zu nehmen, nimmt sich der verspottete König Drosselbart an. Aber nicht ganz uneigennützig: Einerseits ist es seine persönliche Rache, denn er will der stolzen und hochmütigen Königstochter eine harte Lehre erteilen; andererseits gewinnt er mit List (und Umkleidung) eine künftige Königin. Alle Geschehnisse sind folglich eine „Inszenierung“ des Königs Drosselbart und dienen der Umerziehung der arroganten Prinzessin zu einer bescheidenen Frau. Nicht zu übersehen ist insoweit, dass das Märchenstück mit einer Zeigefinger-Moral besetzt ist. In der Dramaturgie ist Weths Bühnenfassung des Drosselbart-Märchens eher episch – und zwar vor allem durch die beiden Figuren Wappi und Schlürfel. Dabei geht es um zwei neu eingeführte Gestalten, die als spielinterne Figuren die Funktion eines Erzählers erfüllen, d.h. in oft komischen Situationen begleiten sie als Rahmenfiguren oder Kommentatoren die Handlung und nehmen Verbindung zum Kinderpublikum auf. Dabei werden sie zu Ansprechpartnern für die zuschauenden Kinder, indem diese gelegentlich in das Spiel mit einbezogen werden. Und zwar durch gezielte Fragen, die die Kinder dazu bewegen sollen, eine kurze Antwort auf Fragen zu geben – „[...], könnt ihr uns vielleicht sagen, ob die Prinzessin und der Spielmann hier vorbeigekommen sind?“ (Bild 3, S. 24) –, sowie Stellung zum Lernprozess der Protagonistin zu nehmen (vgl. im Bild 7). Anhang 408 Die Musik, mit der die Originalfabel der Brüder Grimm reicher geschmückt wird, trägt auch zur Episierung des theatralischen Geschehens bei. So werden gelegentlich Lieder, z.T. auch bekannte Kinder- bzw. Volkslieder nach dem Publikum vertrauten Melodien in den Märchenrahmen eingehängt. Lieder haben im Stück eine reflektierende Funktion (vgl. im 2. Bild), tragen zur Charakterisierung der Figuren bei (vgl. im 3. Bild) oder dienen als handlungsbegleitendes Element (vgl. im Bild 5). Im Rahmen der Handlung sind schließlich zahlreiche komische Momente hervorzuheben. Dabei handelt es sich vor allem um witzige, z.T. absurde Dialoge zwischen den beiden Wichtelmännchen gepaart mit Situationskomik in Form von Kopfstößen, Stolpern o.Ä. Sehr lustig wirkt z.B. die oben erwähnte Brautwerbungsszene im Offstage-Bereich, in der die Prinzessin und der Fürst von und zu Bedonien von den zwei Wichtelmännchen in übertriebener, grotesk-verzerrender Weise nachgeahmt werden. Das ständige Versteckspiel der Wichtelmännchen (sie dürfen ja von den Menschen nicht gesehen werden) macht auch sehr viel von der Komik des Stückes aus. Was Zeit und Ort betrifft, so wird im Laufe des Stückes jede räumliche und zeitliche Kontinuität aufgelöst. Der Ortswechsel wird durch die expliziten Eingriffe der beiden Wichtelmännchen überbrückt. Damit wird die Einheit des Orts eingehalten. Die Einheit der Zeit wird dann dadurch erfüllt, indem die ausgesparten Zeiträume bzw. Zeitsprünge zwischen den Bildern auch über die beiden Rahmen- bzw. Kommentatorfiguren vermittelt werden. In der Sprache bleibt Weths Bühnenbearbeitung dicht am ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Dies zeigt sich besonders deutlich in den oft wörtlichen Zitaten der Dialogpartien der Vorlage. Um nur ein Beispiel zu nennen: Auf dem Weg in die Verlassenheit entspinnt sich eine dreifache Wechselrede zwischen den Figuren, die mit der Märchenfassung im ganzen übereinstimmt. Dreimal klagt hier die verstossene Königstochter, dass sie den guten König, dem Wald, Wiese und Stadt gehören, verschmäht habe und nun einem Spielmann ins Elend folgen müsse (vgl. im Bild 3). Weth setzt Regieanweisungen sehr sparsam ein. Diese beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben zur gestischen und mimischen Darstellung der Figuren. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die nur die notwendigsten und wichtigsten Angaben über Ausstattung und Requisite beinhalten. Zur Figuration: Der Autor verwendet das Figurenpersonal der Grimm-Geschichte, d.h. die Prinzessin, ihren Vater (den alten König) und König Drosselbart. Allerdings gehören zum Figurenrepertoire des Märchenstückes auch zwei lustige Wichtelmännchen, Schlürfel und Wappi, die mit großem Textanteil neu eingesetzt werden. Kennzeichnend für die Charakterisierung der Figuren ist, dass diese immer nur eine Eigenschaft zeigen. Anhang 409 Die Hauptfigur ist die Prinzessin von und zu Hohenstein. Als Prinzessin wirkt sie zunächst eitel, eingebildet und widerspenstig. Gegenüber allen potentiellen Bewerbern um ihre Hand verhält sie sich unhöflich und höhnisch. Als verstossene Prinzessin, also als Bettlerfrau, Marktfrau und Küchenmagd, ist sie dann demütig und eher bereit, das Unrecht, das sie anderen getan hat, zu akzeptieren. Als Kontrastfigur zur Prinzessin wird König Drosselbart dargestellt. Der Gegensatz zeigt sich in der Einstellung: Während sich die Prinzessin durch übermäßiger Stolz und übersteigerte Eitelkeit, also durch negative Eigenschaften auszeichnet, ist König Drosselbart von Anfang an positiv besetzt, indem er als die moralische Figur Gerechtigkeit und Respekt vertritt. Die beiden Wichtelmännchen sind auch als Kontrastfiguren angelegt: Schlürfel wirkt ängstlich, unsicher und ungeschickt; Wappi eher mutig und selbstbewusst – auch wenn er in bestimmten Situationen auch sehr ängstlich zu sein scheint. Ãœberdies trägt Wappis Ausdrucksweise individuelle Züge, indem er nach der ihm eigenen Redewendung „Ich weiß nicht, ich habe so ein Gefühl im großen Zeh, dass wir hier gebraucht werden“ charakterisiert ist. Beide Figuren nehmen Anteil am Schicksal der Prinzessin und stehen ihr quasi unsichtbar zur Seite. In diesem Sinn sind sie als gutmütige Wichtelmännchen immer bereit, der trostlosen Königstochter aus ihrer Not zu helfen. Daher führen sie sich in die Bühnenhandlung als helfende Figuren ein und werden zum Beistand der Prinzessin, so wie es im 5. und 6. Bild dargestellt wird. Hier kommen die Wichtelmännchen der verzweifelten Prinzessin heimlich zu Hilfe und sie kann somit die für sie zu schwere und ungeeignete Hausarbeit (Feuermachen, Körbeflechten usw.) leisten. Die Sprache wird als Mittel der Figurencharakterisierung verwendet. Das ist bei den Hofleuten besonders der Fall, indem der höfische Redestil bei ihnen voll zur Geltung kommt. Rumpelstilzchen Ein fröhliches Märchenspiel in drei Bildern Text von Robert Bürkner Erschienen 2001 als Nachdruck bei der Vertriebsstelle und Verlag deutscher Bühnenschrifsteller und Bühnenkomponisten, Norderstedt Autor: Siehe Angaben unter Dornröschen. Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Erscheinungsjahr des Stückes können nicht gemacht werden. Nach dem heute das Werk vertretenden Verlag (der VVB) lässt sich 1960 als Uraufführungsjahr festlegen. Die Premiere fand, auch nach Angabe des Verlags, im Niederdeutschen Theater Bremen. Das Stück ist dann später auch bei der VVB mehrmals nachgedruckt worden. Anhang 410 Personen: der Märchenpostillion; der junge König; der Müller Prahlhans; Rosemarie, seine Tochter; Friedel, der Müllerbursch; die Hofdame, der so viel einfällt; Jungfer Fröhlich, auch eine Hofdame; der Wächter Tolpatsch; Rumpelstilzchen. Orte der Handlung: im Märchenland: die Mühle; der Schlossgarten; der Königsschloss. Zum Stück: Bükners Märchenspiel beruht auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 55). Im Stück wiederholt sich das Grundschema des ursprünglichen Erzähltextes: Nach der Lösung der ersten Aufgabe (das Spinnen von Stroh zu Gold) gerät die Müllerstochter in eine neue Notlage (Rumpelstilzchens Erpressung), die sie mit einer neuen Aufgabe, also dem Namenraten bewältigen muss. Allerdings hält sich die Bühnenbearbeitung nicht ganz an die Grimmsche Geschichte. Einerseits wird sie reduziert, indem Bürkner auf die wiederholten Episoden des ersten Märchenteils verzichtet: Im Märchen muss die Protagonistin dreimal die gleiche Probe bestehen, um ihr Leben zu retten; im Bühnenstück hingegen muss sie sich nur einmal der Aufgabe stellen. Der zweite Teil des Märchens wird auch gekürzt: Stellt sich die Müllerstochter bei den Grimms dreimal zum Kampf gegen Rumpelstilzchen, so werden im Stück nur zwei Kämpfe durchgeführt. Andererseits weist die Grundgeschichte viele Erweiterungen im Verhältnis zur Vorlage auf, etwa die Liebesgeschichte zwischen dem König und der Müllerstochter, oder die lange Reihe von komischen Handlungsmomenten, die durch die Verkörperung des Müllers, aber besonders der neu eingeführten Dienerfiguren aufrechterhalten wird. Außerdem wird die ursprüngliche Geschichte mit einem neuen Schwerpunkt variiert. Anders als im Märchen geht es dem König im Stück darum, dem prahlerischen Müller eine Lehre zu erteilen. Dies wird eigentlich zur Grundlage der Geschichte in der Bühnenbearbeitung. Darüber hinaus wird die erzählerische Vorlage mit anderen Motiven erweitert, etwa durch das im 1. Bild eingeschobene Jagdmotiv und das „Papageno-Schloss“- Motiv aus der Märchenoper von Mozart Die Zauberflöte (1791) im 2. Bild. Unerlässliche Mittel der Bühnenbearbeitung sind auch die retardierenden Eingriffe, die auf spannende Weise die Geschichte verlängern, so z.B. der Einfall vom schwachen Erinnerungsvermögen des Wächters im 3. Bild, das das Herausfinden vom Namen des Wichts und den endgültigen Sieg über Rumpelstilzchen, und damit das glückliche Ende, verzögern. Der Schluss der Geschichte bildet eine weitere Variation im Verhältnis zur Märchenvorlage. Im Stück findet der Sieg über Rumpelstilzchen durch eine kollektive Tat statt. Erst die Zusammenarbeit der Dienerschaft mitsamt dem Publikum führt zur erfolgreichen Bekämpfung des Bösen. Dramaturgisch ist Bürkners Märchenspiel in drei Bildern unterteilt und bietet eine komplexe Aufbereitung durch viele Szenen an, um aus der literarischen Vorlage eine bühnenhafte Handlung zu gestalten. So bedeutet die Bühnenfassung eine riesige Entfaltung von Anhang 411 bühnerischen Handlungen, die in der erzählrischen Vorlage nur aufs Knappste angedeutet werden. Die Handlung wird in 6 sehr unterschiedlichen Sektionen dargeboten,199 einer Einführung und 3 Bildern, deren Identität durch das Eingreifen eines „Märchenpostillions“ bedingt ist. Zwischen den einzelnen Bildern sind Zwischenspiele, die vor dem Zwischenvorhang im vorderen Bühnenraum gespielt werden. Diese eingeschobenen Zwischenspiele räumen der Figur des „Märchenpostillions“ während des gesamten Stückes immer wieder Auftrittsmöglichkeiten ein. Damit vermischen sich im Stück zwei Spielebenen: Die erste wird durch den „Märchenpostillion“ vertreten, die zweite vertritt mit den restlichen Figuren die eigentliche Handlung des Stückes. Das Stück benutzt relativierende und antidramatische Mittel. Als deutliche Hinzufügungen zum Märchen sind also die beiden Bindemittel zu verzeichnen, die die zahlreichen, die Handlung kommentierenden Volkslieder und die Figur des „Märchenpostillions“ ausmachen. Die Lieder gehören zum Stück als strukturaler Bestandteil. Jedes auslassen von Liedern bei der Aufführung vom Stück, seine Reduzierung auf die dramatische Handlung bedeutet, laut Kommentar des Bearbeiters (vgl. S. 4), eine nachhaltige Verfälschung und die Reduzierung 199 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Einführung“ (S. 5-6) Der „Märchenpostillion“ erscheint und wendet sich an die jungen Zuschauer: Begrüßung und Wettstreit. Dann „führt“ er sie ins „Märchenland“. –„Erstes Bild“ (S. 7-46) In der Mühle als einheitlichem Ort wird in 16 Szenen gezeigt, wie die Prahlerei des Müllers das schrecklichste Unglück über seine Tochter Rosemarie bringt: Da der Müller vor dem König prahlt, dass seine Tochter aus Stroh Gold spinnen kann, muss er das beweisen, und so bekommt das Mädchen die unmögliche Aufgabe. Der König droht dem Vater das Sperren in dem Turm an, wenn seine Tochter bis zum nächsten Morgen das Stroh nicht zu Gold gesponnen hat. Der Wächter Tolpatsch hält Wache, aber er schläft anstatt zu wachen. Ganz unverhofft bekommt Rosemarie Hilfe vom Rumpelstilzchen, aber sie muss ihm ihr erstes Kind versprechen. Aus Verzweiflung und Angst für ihren Vater, und aus Liebe zum König, tut sie es. Und da sie die Probe besteht, muss ihren Vater nicht in den Turm, und sie wird Königin. –„Zwischenspiel“ (S. 47) Der „Märchenpostillion“ nimmt den Kontakt mit den jungen Zuschauern wieder auf, indem er die Handlung der letzten Szenen rekapituliert und die unterschiedlichen Eigenschaften der Diener, besonders des Wächters und Müllerbursches, ins Gespräch bringt. –„Zweites Bild“ (S. 48-77) Ein Jahr ist vergangen. Im Schlossgarten wird in 13 Szenen gezeigt, wie Rumpelstilzchen Rosemarie ein Rätsel aufgibt, damit sie ihr Kind behalten darf: Sie soll seinen Namen erraten. Trotz der Hilfe der Dienerschaft gelingt es ihr nicht den Namen zu wissen. Doch zufälligerweise belauscht der Wächter Rumpelstilzchen, das um eine Laterne tanzt, sich unbelauscht glaubt, und dabei seinen Namen preisgibt. – „Zweites Zwischenspiel“ (S. 78) Der „Märchenpostillion“ nimmt den Kontakt mit dem Publikum wieder auf. Er rekapituliert die Handlung der letzten Szenen, bringt die Beschaffenheiten (Langsamkeit und schwaches Erinnerungsvermögen) des Wächters ins Gespräch und sorgt dafür, dass die Geschichte eine glückliche Wendung nimmt, indem er die Kinder um Hilfe bittet und ihnen Anweisungen gibt. –„Drittes Bild“ (S. 79-102) Im Königsschloss wird in 11 Szenen der endgültige Sieg von Rosemarie über Rumpelstilzchen gezeigt. Der König erfährt über das schreckliche Unglück und schiebt die Schuld auf den Müller und seine Prahlereien. Kurz vor dem letzten Rätselkampf kommt Rosemarie Hilfe zu, und zwar wiederum auf eine unvoraussehbare Weise: Die Ungeschicklichkeit des Wächters ermöglicht, dass Rosemarie den Namen von Rumpelstilzchen erfährt. Trotz aller Vorkehrungen des Königs und der besten Bereitschaft der Diener, gelingt es Rumpelstilzchen, ins Schloss einzudringen. Nach einem spielerischen Falschraten wird Rumpelstilzchen mit der Hilfe der zuschauenden Kinder vernichtet. Anhang 412 seiner Möglichkeiten. Die dramaturgische Konzeption des „Märchenpostillions“ besteht darin, das Bühnengeschehen zu eröffnen und die Handlung der jeweiligen Szenen zu kommentieren bzw. kurz zusammenzufassen. Damit nimmt diese Figur die Rolle eines Vermittlers zwischen Bühne und Kinderpublikum ein; überhaupt agiert er als Erzähler. Nicht nur der „Märchenpostillion“ wendet sich an die kindlichen Zuschauer. Andere Figuren, die direkt in der Handlung integriert sind, treten aus ihren Rollen momentan heraus und nehmen auch Kontakt mit den Kindern auf. So lässt das Vorhandensein einer Erzähler- bzw. Kommentatorfigur sowie die direkte Ansprache der spielinternen Figuren Episierungstendenzen im Stück aufweisen. Im Stück werden die Einheiten von Ort, Zeit und Handlung nicht beachtet. Es gibt Ortswechsel. Die Handlung folgt zeitlich nicht linear, sondern es sind Zeitsprünge und Beschleunigungen mittels dem Eingreifen des „Märchenpostillions“ zu verzeichnen, wodurch die Zeiteinheit zerstört wird. Die eingeschobenen Zwischenspiele sowie der Einsatz von Liedern, die die Handlung unterbrechen, verunmöglichen die Handlungseinheit. Dem Bühnentext gehen einige Anmerkungen für Regisseur, Darsteller, Bühnenbildner und Techniker voraus. Die Regieanweisungen geben Hinweise zum Auftritt sowie zur gestischen und mimischen Darstellung der Figuren. Sie beschränken sich während des gesamten Stückes auf wenige Angaben. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die nur die notwendigsten Angaben zu Ausstattung und Requisiten beinhalten. Zur Figuration: Das Bühnenstück benutzt alle Figuren, die für das Grimmsche Märchen charakteristisch sind. Dennoch wird das Ausgangsmärchen erweitert, vor allem um die Figuren der Dienerschaft, die im Märchenspiel wichtiger als die bekannten Figuren der erzählerischen Vorlage werden. Zur Charakterisierung der Figuren trägt die lustige Namensgebung bei: So Tolpatsch, Fröhlich und Prahlhans. Außerdem benutzt Bürkner die Sprache als Mittel der Figurencharakterisierung. So sind der Müllersbursche und der Wächter nach den ihnen eigenen Redewendungen gezeichnet. Der Wächter zeichnet sich z.B. durch die Ausdrücke „Gut Ding will Weile haben“, „Eile mit Weile“ und „Immer langsam voran“ aus. Die Figuren sind kontrastierend gestaltet. Die Welt der Dienerschaft wird beispielsweise mit großem Slapstick aufgeführt, wobei die unterschiedlichen Verkörperungen der Diener einen Kontrast bilden: Die ungeschickte und phlegmatische Verkörperung vom Wächter verursacht ausschließlich komische Situationen; sein Gegensatz ist der fixe Müllerbursch, dessen besten Beschaffenheit die Geschwindigkeit ist. Die Kontrastierung ist auch in dem Aufbau der Beziehung Müller- König sehr deutlich: Die beiden Figuren stehen mit ihren gegensätzlichen Eigenschaften (prahlerisch/unehrlich vs. ehrlich/aufrichtig) einander gegenüber. Bezeichnenderweise gewinnt die Figur des Königs moralische Merkmale im Verhältnis zur erzählerischen Vorlage: Bei Bürkner geht es ihm vor allem darum, dem prahlerischen Müller eine Lehre zu erteilen. Damit Anhang 413 zeigt das Stück einen erzieherischen Zug. Gerade in der Figurenkontrastierung Müller-König liegt die moralische Botschaft des Stückes. Rumpelstilzchen Ein Märchen nach den Gebrüdern Grimm Text von Hans Peter Doll und Günther Fleckenstein Erschienen 1978 als Nachdruck in Reinbek bei Hamburg bei Rowohlt Autoren: Siehe Angaben unter Brüderlein und Schwesterlein. Entstehung und Uraufführung: Das genaue Entstehungsjahr ist unbekannt, jedoch muss es zu Beginn der 1960er Jahre während der gemeinsamen Tätigkeit der beiden Autoren am Staatstheater Hannover entstanden sein. Das Stück wurde am 28. November 1964 im Kleinen Haus des Nationaltheaters in Mannheim erstaufgeführt. Personen: das Rumpelstilzchen; der Müller; seine Tochter; der König; Potz und Blitz. Orte der Handlung: vor der Mühle; eine kleine Kammer im Schloss; Gemach der Königin; Schlucht im tiefverschneiten Winterwald. Zum Stück: Das Stück basiert auf dem gleichnamigen Märchen der Brüder Grimm (KHM 55). Es übernimmt die Grundzüge der Erzählung, manchmal werden sogar die ursprünglichen Dialoge übernommen. Doll und Fleckenstein haben das Grimmsche Märchen in 5 Bildern dramatisiert.200 Aus der 200 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„1. Bild“ (S. 3-12) Vor der Mühle singt der Müller, dabei stellt er sich selbst vor und lobt seine Tochter. Da treten die zwei königlichen Kammerherren Potz und Blitz auf. Es folgt eine komische Szene, in der sich alle gegenseitig vorstellen und dabei vorspiegeln von hohem Rang zu sein. Potzes Vergesslichkeit wird zum Ausdruck gebracht: Er hat den Wein im Schloss vergessen. Daher sind beide Diener vom König in die Mühle geschickt worden, eine Flasche Wein zu holen. Der Müller spricht über seine Tochter, die mit lobenden Worten angepriesen wird. Er kommt auf die Idee, durch die beiden Kammerherren seine Tochter mit dem König bekannt zu machen und so das Interesse an ihr zu wecken, sodass er sie zur Frau nimmt. Während der Müller das Mädchen holen geht, tritt der König auf und droht Blitz und Potz mit Haft, weil die beiden ihn durstig in seiner Kutsche am Waldrand warten lassen haben. Der Müller und seine Tochter erscheinen. Um sich ein Ansehen zu geben, behauptet der Müller, der seine Tochter um jeden Preis mit dem König verheiratet sehen will, dass das Mädchen Stroh zu Gold spinnen könne. Der König will die Müllerstochter auf die Probe stellen und nimmt es mit ins Schloss. –„2. Bild“ (S. 13-20) In einer Schlosskammer voller Stroh sitzt die Müllerstochter vor einem Spinnrad und singt. Dabei wird ihre Verzweiflung zum Ausdruck gebracht: Sie versteht gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen kann, und die Angst, dass der König sie mit Schimpf und Schande vom Schloss jagt, wird immer größer. Da erscheint auf einmal ein kleines Männchen, das ihr seine Hilfe anbietet. Dafür verlangt der fremde Helfer ihr Halsband. Schweren Herzens tut sie es, das Männchen Anhang 414 Einteilung des Stückes lässt sich Folgendes ablesen: Dramaturgisch haben sich die beiden Bearbeiter offenbar sehr bemüht, so dicht wie möglich am Grimm-Märchen zu bleiben, d.h. nach der Lösung der drei ersten Aufgaben (das Spinnen von Stroh zu Gold) gerät die Müllerstochter in eine neue Notlage (Rumpelstilzchens Erpressung), die sie mit einer neuen Aufgabe bewältigen muss: das Namenraten. Zum dramatischen Höhepunkt der Handlung gestaltet sich der „Kampf“ gegen Rumpelstilzchen und der Sieg über ihn im letzten Bild. Das Einhalten der Einheit der Zeit verlagert den Spannungshöhepunkt auf dem Weihnachtsabend. Die Spannung läuft also vor allem auf das Ende der Aufführung. Die Bühnenhandlung folgt zwar im Wesentlichen der Vorlage und stellt keine großen Entfernungen vom Märchen dar. setzt sich an das Spinnrad und macht sich an die Arbeit, bis es das ganze Stroh zu Gold versponnen hat. Die Müllerstochter staunt, nimmt kurz Kontakt mit dem Kinderpublikum auf und bittet es darum nichts zu verraten. Da kommt der König, und wenn er das Gold erblickt, erstaunt er und freut sich, doch er wird nur noch geldgieriger. So lässt er in die Kammer mehr Stroh von Potz und Blitz bringen und befiehlt der Müllerstochter, das bis zum nächsten Morgen wieder zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb ist. Das Mädchen weißt sich nicht zu helfen und singt verzweifelt. Da erscheint abermals das kleine Männchen. Die Müllerstochter gibt nun ihren Ring für seine Hilfe ab. Das Männchen fängt wieder an, mit dem Spinnrad zu schnurren, und bis zum Morgen spinnt es das Stroh zu glänzendem Gold. Der König freut sich wieder über die Massen Gold, will aber noch mehr. So lässt er in die Kammer noch mehr Stroh von Potz und Blitz bringen und befiehlt der Müllerstochter, das auch in einer Nacht zu Gold zu spinnen. Gelingt es ihr, so soll sie seine Frau und damit Königin werden. Wenn das Mädchen allein ist, kommt das Männchen zum dritten Mal wieder und bietet der Müllerstochter seine Hilfe beim Goldspinnen erneut an. Dafür beansprucht er ihr erstes Kind, wenn sie Königin wird. Die Müllerstochter verspricht es ihm. Das Männchen spinnt dafür noch einmal das Stroh zu Gold. Am Morgen kommt der König und findet alles, wie er gewünscht hat. So hält er Hochzeit mit der Müllerstochter. –„3. Bild“ (S. 21-28) Im Gemach der Königin wird gezeigt, wie nach Jahresfrist das Männchen wieder auftaucht, um seinen Lohn abzuholen. Sie erschreckt und bietet dem Männchen ihre Schätze (Schmuck, Kleidung, Krone) an, wenn es ihr das Kind lassen will. Aber dem Männchen ist etwas Lebendes lieber als alle Schätze der Welt. Da fängt die Königin an zu jammern und zu weinen, dass das Männchen Mitleid mit ihr hat. Sie darf dreimal seinen Namen raten: Sie fängt an mit Kaspar, Melchior und Balthasar, aber bei jedem sagt das Männchen, dass er so nicht heißt. Dann lässt er ihr drei Tage Zeit, bis zum Weihnachtsabend, mit der Bedingung, dass sie dann seinen Namen nennen kann. Nur so soll sie ihr Kind behalten. Da erscheint der König und sie erzählt ihm, dass sie einen unangenehmen Traum hatte, d.h. von ihrer Begegnung mit dem bösen Männchen. Um den Traum der Königin zu verjagen, treten Potz und Blitz in Clownskostüme auf und veranstalten allerhand Späße. Die Königin kommt dann auf die Idee, die beiden Kammerherren als Helfer zu gewinnen: Sie schickt beide über Land, um den Namen des Männchens zu erkunden. –„4. Bild“ (S. 29-33) Nachts im Wald sind Potz, Blitz und der Müller auf der Suche nach dem Namen des bösen Männchens. Bisher haben sie sich in der Nachbarschaft umgehört, wie die Leute da genannt werden, konnten aber nur etliche ausgefallene Namen sammeln (Rippenbiest, Hammelswade, Fliegendreck, Dickwanst). Am Waldausgang belauschen Potz und Blitz das böse Männchen, das in voreiliger Siegesfreude um ein Feuer tanzt und singt und dabei seinen Namen preisgibt. –„5. Bild“ (S. 34-40) Im weihnachtlich geschmückten Gemach der Königin wird die letzte Auseinandersetzung mit Rumpelstilzchen dargestellt. Es sind bereits drei Tage vergangen und die Frist läuft ab. In ihrer Angst und Verzweiflung sagt schließlich die Königin dem König die ganze Wahrheit darüber, wie sie das Stroh zu Gold gesponnen hat. Da erscheint das böse Männchen und will endgültig seinen Lohn abholen. Der König nimmt den Kampf um das Kind auf, aber vergeblich; so bittet er das Männchen darum, dass es Mitleid mit ihnen hat. In dem Moment treten Potz und Blitz auf und beginnen, das große Abenteuer zu erzählen, während die Königin und der König auf den Namen des bösen Mänchens gespannt warten. Dabei wird das schwache Erinnerungsvermögen der beiden Diener wieder zum Ausdruck gebracht. Doch kurz vor Fristablauf nennt die Königin dem Männchen den richtigen Namen. Bei seinem maßlosen Zorn über sein völlig unerwartetes Unterliegen in der Rätselwette reißen Potz und Blitz ihn mitten entzwei, dabei jubeln und singen sie triumphierend. Das Stück endet mit einem Weihnachtslied. Anhang 415 Eine Ausnahme bildet allerdings die konzentrierte Episode der Rätselwette: Während bei den Grimms das Namenraten des fremden Helfers in drei Episoden erzählt wird, zeigt die Bühnenfassung eine veränderte Dramaturgie: Das Erraten des Namen wird an einer einzigen Szene im letzten Bild konzentriert. So wird im Märchenstück mit der dreifachen Steigerung des zweiten Erzählteils gebrochen. Inhaltlich variieren die Bearbeiter den Grimmschen Stoff, indem sie neue Handlungsmomente ins Spiel bringen. So werden einige komische Szenen eingebaut, die die Handlung des Ausgangstextes auffüllen. Diese komischen, durch die beiden Diener Blitz und Potz ausgeführten Momente werden in die Länge gezogen. Dazu gehört auch das retardierende Moment im letzten Bild, das den Ausgang, also Rumpelstilzchens Vernichtung hinauszögert. Daneben werden weitere, dem Ausgangsmärchen fremde Szenen eingeschoben, u.a. die Szene im 3. Bild, in der die Königin Vergangenes zurückblickt und dem König den unangenehmen Traum über die Begegnung mit dem bösen Männchen erzählt, sowie die Szene im letzten Bild, in der sich die Königin schließlich dazu gezwungen sieht, dem König die ganze Wahrheit zu gestehen. Als deutliche Hinzufügung zum Märchen sind außerdem die zahlreichen, die Handlung unterstützenden Lieder zu verzeichnen. Dadurch stellen die Figuren sich selbst und andere Figuren musikalisch vor. Daneben haben Lieder auch die Aufgabe, die Handlung zu begleiten und zu kommentieren. Vor allem handelt es sich um frei erfundene Lieder, aber es gibt auch dem Kinderpublikum weitestgehend bekannte Lieder, wie z.B. das Wiegenlied „Schalfe, mein Prinzchen, schlaf ein“ oder das Kinderlied „Mein Hut, der hat drei Ecken“. Gesungen wird im Stück auch nach der Melodie von bekannten deutschen Volksliedern wie „Die Vögel wollen Hochzeit machen“ und „Eine Seefahrt, die ist lustig“. Dabei fordern die zwei Figuren Potz und Blitz das Publikum auf, den Refrain mitzusingen. Weitere Eingriffe der Bearbeiter in die Märchenhandlung machen die Hinweise auf das Weihnachtsfest und dessen Emblematik aus. Als solche stellen sie dem Grimmschen Ausgangsmärchen auch fremde Momente dar. So weist die Königin im 3. Bild nicht nur auf das Weihnachtsfest hin, sondern das Stück endet auch mit dem Klang der Weihnachtsglocken, Weihnachtsbeleuchtung und Weihnachtsmusik. Die dramaturgischen Einheiten von Ort und Zeit werden im Bühnenstück nicht beachtet. Es gibt Ortswechsel. Die Handlung innerhalb der fünf Bilder folgt zwar einem zeitlich linearen Verlauf, aber es sind auch Zeitsprünge und Beschleunigungen zu verzeichnen. Damit zerfällt die Zeiteinheit. Zur Zeitgestaltung lässt sich auch feststellen, dass der Zeitablauf lediglich in der Figurenrede zur Sprache kommt. Episierungstendenzen lassen sich im Stück in den Publikumsanreden beobachten. Das geschieht durch die Figuren der Müllerstochter und der zwei Diener (Potz und Blitz), die für einen Moment aus ihrer Rolle heraustreten und Kontakt mit dem Kinderpublikum aufnehmen Anhang 416 (vgl. u.a. im 3. Bild, S. 24 u. 25). Durch die direkte Ansprache werden so die jungen Zuschauer nicht nur ins Spiel einbezogen, sondern auch am Bühnengeschehen unmittelbar beteiligt: Sie fungieren als Stichwortgeber oder sprechen am Stückende den bekannten Rumpelstilzchen- Spruch „Ach, wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!“ mit. Die Bearbeiter halten sich im Hinblick auf Anweisungen zum Bühnenbild weithin zurück: Sie machen sehr sparsame Vorgaben für die Bühnenbildbeschreibung, es wird lediglich der Handlungsort angegeben. Es gibt keine Angaben, wie sie sich etwa die Kammer, in der die Müllerstochter eingeschlossen sitzt, oder das Gemach der Königin im 3. Bild vorstellen. Teil der Bühnenbildanweisungen sind auch die Hinweise auf Licht- und Toneffekte, die im Bühnenstück eine große Rolle spielen, besonders bei Rumpelstilzchens Verwandlungen und Erscheinungen. Hier geben Doll und Fleckenstein genaue Angaben zu den Licht- und Geräuschverhältnissen auf der Bühne. Ebenso verhält es sich mit den Angaben zum Auftritt und zur Darstellung der Figuren. Der Nebentext liefert klare und detaillierte Regieanweisungen zur Mimik und Gestik sowie zum Verhalten der Figuren. Zur Figuration: Im Bühnenstück treten alle Figuren, die für das Grimmsche Märchen charakteristisch sind, also der Müller, seine Tochter, der König und das Rumpelstilzchen, auch wenn die Bearbeiter den Figurenbestand des Ausgangsmärchens auch ändern. An die Stelle des Märchenboten treten nämlich die zwei königlichen Kammerherren Potz und Blitz. Beide Figuren sind direkt in die dramatische Handlung integriert, vor allem sorgen sie für Verwirrung und Spaß. Außerdem besteht ihre Funktion als spielinterne Figuren darin, die Handlung in Gang zu bringen, dabenen sie voranzutreiben und zu einem guten Ende zu führen. Die titelgebende Figur des Stückes ist wie im Grimmschen Märchen negativ besetzt und alles andere als uneigennützig. Das als grotesker Kobold gezeichnete Männchen Rumpelstilzchen will einer zur Königin aufgestiegenen Müllerstochter das Kind wegnehmen, nachdem es eine Notsituation der jungen Frau ausgenutzt hat. Neben Rumpelstilzchen gibt es aber noch zwei moralisch mindestens ebenso angreifbare männliche Figuren: Den Müller, der unredlich handelt, wenn er dem König Fähigkeiten seiner Tochter vorspiegelt, welche jene nicht besitzt und diese dabei durch seine Aufschneiderei in akute Lebensgefahr bringt, sowie den goldgierigen König, der die Müllerstochter skrupellos mit Todesdrohungen unter Druck setzt, sind vergleichbar unsympathisch. Die beiden Figuren sind im Verhältnis zum Märchen zwar präziser dargestellt, entwickeln sich aber im Laufe des Stückes unterschiedlich. Während der Müller seinen Eigenheiten (Arroganz, Ãœberheblichkeit, Prahlerei) treu bleibt und sich gar nicht weiterentwickelt, wandelt sich der König zu einem sehr liebenswürdigen Charakter, der „fern von allem Gold seine Frau [...] lieb“ (Bild 3, S. 23) gewinnt. Die Hauptfigur, also die arme Müllerstochter (und spätere Königin) hat in der Geschichte Anhang 417 den Part einer von den drei männlichen Figuren fremdbestimmten Frau. Wie im Märchen ist sie eine rein passive Figur, hilflos, tränenreich und von Zufällen abhängig. Sie verdient weder ihr Unglück am Anfang, als der prahlerische Vater sie als Spinnerin anpreist, noch verdient sie ihr Glück, denn nur der Zufall rettet ihr das Leben und verhilft ihr zum sozialen Aufstieg. Später braucht sie Helfer, um gegen den fordernden Kobold anzugehen. Erst am Ende der Geschichte wird sie mithilfe der neu geschaffenen Figuren Potz und Blitz bedingt aktiv: Sie schickt die beiden aus, um den Namen des bösen Männchens zu erfahren. Rumpelstilzchen Ein Märchen in 8 Bildern nach den Brüdern Grimm Text von Inge Leudesdorff Erschienen ca. 1980 als Nachdruck im Verlag für Kindertheater, Hamburg Autorin: Siehe Angaben unter König Drosselbart. Entstehung und Uraufführung: Angaben zum genauen Erscheinungsjahr und -ort des Stückes können nicht gemacht werden, da es eigentlich keine Daten vorliegen. Auch der heute das Stück vetretende Hamburger Verlag für Kindertheater Uwe Weitendorf verfügt nicht über diese Information. Da allerdings die Uraufführung am 1. Dezember 1947 im Thalia-Theater in Hamburg stattfand, also zur Weihnachtszeit als „Weihnachtsmärchen“ inszeniert wurde, kann man zur Schlussfolgerung kommen, dass das Stück im gleichen Jahr geschrieben wurde. Das Stück ist dann mehrfach nachgedruckt worden, so z.B. 1973 vom Hamburger Chronos-Verlag Martin Mörike und in den 80er Jahren von dem auch in Hamburg ansässigen Verlag für Kindertheater. Personen: der König; Hans, sein Page; Haushofmeister von Schwerbegriff; Hofdame von Zungenspitz; Müller Großwort; Rotraut, seine Tochter; Rumpelstilzchen; die Eule Rategut. Orte der Handlung: Thronsaal; Turmverlies; Wald. Zum Stück: Dem Märchenstück liegt das gleichnamige Märchen der Brüder Grimm (KHM 55) zugrunde. Bei Leudesdorff sieht die Geschichte folgendermaßen aus: Müller Großwort macht gern große Worte: Drei Schwänze hätten seine Kühe, seine Äpfel seien groß wie Kürbisse und seine Hühner legten glatt Straußeneier. Auch wenn ihm niemand glaubt, sind seine Prahlereien selbst am Königshof stetiger Gesprächsstoff. Erst recht, als die Kunde geht, des Müllers schöne Tochter Rotraut könne aus Stroh Gold spinnen. Das interessiert nun auch den König, dessen Anhang 418 Schatzkammern leer sind. Er stellt das junge Mädchen auf die Probe – mit Erfolg. Eingesperrt in ein Turmverlies, macht sie das Unmögliche wahr. Was niemand weiß: nicht ohne fremde Hilfe. Inhaltlich variiert Leudesdorff den tradierten Stoff an einigen Punkten, indem ihre bühnerische Bearbeitung neue Handlungsmomente aufweist. So baut sie sehr komische Szenen in das Stück ein, die die Handlung des Grimmschen Textes auffüllen bzw. reicher schmücken. Diese Momente, die durch die Dienerschaft ausgeführt werden, werden in die Länge gezogen. Als deutliche Hinzufügung zum Märchen sind außerdem die zahlreichen, die Handlung kommentierenden Lieder zu verzeichnen. Schließlich werden Hinweise aufs Weihnachtsfest und dessen Emblematik auch in die Handlung integriert. Leudesdorff hat ihre Bühnenbearbeitung in acht Bilder gegliedert. Jedes Bild trägt einen Titel: „Kann die Müllerstochter Gold spinnen?“, „Stroh wird Gold“, „Die Hochzeit“, „Das Männlein im Schloss“, „Das Männlein im Walde“ und „Des Männleins Ende“. Dies erinnert stark an Piscators Technik. Doch es bleibt unklar, ob diese Titel von jemandem eventuell vor dem geschlossenen Bühnenvorhang angesagt, dem Publikum über Plakate oferiert oder auf eine Leinwand projiziert wurden. Die Handlung wird in 8 Sektionen dargeboten.201 201 Mit Hilfe der Seitenzahl der gedruckten Fassung sieht es folgendermaßen aus: –„Erstes Bild“ (S. 3-19) Im Thronsaal als einheitlichem Ort wird gezeigt, wie die Prahlerei des Müllers Großwort das schrecklichste Unglück über seine Tochter Rotraut bringt. Da der Müller vor dem König prahlt, dass seine Tochter aus Stroh Gold spinnen kann, muss er das beweisen und so bekommt das Mädchen die unmögliche Aufgabe. Die Welt der Diener wird mit großem Slapstick aufgeführt: also, das Geschwätz unter der Dienerschaft am Anfang des Bildes; ebenso das schlechte Begriffsvermögen mitsamt Tölpelei vom Haushofmeister. –„Zweites Bild“ (S. 20-30) Nachts im Turmverlies muss die Müllerstochter beweisen, dass sie Stroh zu Gold spinnen kann: Wenn es ihr gelingt, belohnt der König sie mit einem Ring und nimmt ihren Vater in Dienst; wenn sie bis zum nächsten Morgen das Stroh nicht zu Gold gesponnen hat, muss sie sterben und ihr Vater auf Lebenszeit in Ketten legen. Ganz unverhofft bekommt die verzweifelte Müllerstochter Hilfe von einem Wurzelmännchen. Dafür verlangt es ihr Halsband. Während sie schläft, verwandelt das Männchen das ganze Stroh zu Gold mit einem Zauberspruch. Am nächsten Morgen sieht der König das ganze Gold, belohnt die Müllerstochter, wird aber gierig und befiehlt ihr, eine größere Menge Stroh zu Gold zu verspinnen. Wenn es ihr gelingt, dann bekommt sie ein Halsgeschmeide; wenn sie misslingt, muss sie sterben. –„Drittes Bild“ (S. 31-35) Nachts im Turmverlies sitzt die Müllerstochter wieder vorm Spinnrad und ist verzweifelt. Das Männchen erscheint und hilft ihr nochmal: Dafür gibt sie ihm den Ring, den der König ihr geschenkt hat. Während sie schläft, verwandelt das Männchen das ganze Stroh zu Gold mit dem Zauberspruch, dann verschwindet er. Am nächsten Morgen sieht der König das Gold, belohnt die Müllerstochter und befiehlt ihr, eine noch größere Menge Stroh zu Gold zu verspinnen. Wenn es ihr gelingt, wird sie Königin; wenn nicht, muss sie sterben. –„Viertes Bild“ (S. 36-39) Im Turmverlies sitzt die verzweifelte Müllerstochter wieder vorm Spinnrad. Das Männchen erscheint und bietet ihr Hilfe zum dritten Mal an: Dafür muss sie ihm ihr erstes Kind versprechen. Während sie schläft, verwandelt das Männchen das Stroh zu Gold und verschwindet. Am nächsten Morgen sieht der König das ganze Gold, und weil die Müllerstochter die Probe besteht hat, wird sie Königin. –„Fünftes Bild“ ( S. 40-47) Im Thronsaal wird alles für die königliche Hochzeit mit großem Slapstick vorbereitet. Der prahlende Müller, der in den Wald vor lauter Angst gelaufen war, wird in den Saal gebracht. Da seine Tochter die Probe bestanden hat, wird er vom König belohnt und als Hofkoch angestellt. –„Sechstes Bild“ (S. 48-55) Im Thronsaal wird gezeigt, wie das Wurzelmännchen erscheint und der verzweifelten Königin ein Rätsel aufgibt, damit sie ihr Kind behalten darf: Sie muss seinen Namen in Anhang 419 Insgesamt ist das Stück dramaturgisch einfach konzipiert. Das Grundschema der Grimmschen Märchenvorlage wiederholt sich: Nach der Lösung der drei ersten Aufgaben (Goldspinnen) gerät die Müllerstochter in eine neue Notlage (Rumpelstilzchens Erpressung), die sie mit einer neuen Aufgabe bewältigen muss (Rätselwette). Zum dramatischen Höhepunkt der Geschichte und damit der Handlung gestaltet sich der Kampf gegen Rumpelstilzchen und dessen Vernichtung im letzten Bild. Das Einhalten der Einheit der Zeit verlagert den Spannungshöhepunkt auf dem zwölften Glockenschlag um Mitternacht des Heiligabends. Damit läuft die Spannung vor allem auf das Ende der Aufführung. Wie im Grimm-Märchen wird der Aufbau des Stückes durch einen Rhythmus der Dreigliedrigkeit beherrscht, indem die Dreizahl eine große Bedeutung in der Handlungstruktur hat. Wie im ersten Erzählteil der Vorlage stellt das Märchenstück so die Bewältigung der Schwierigkeiten in drei Stufen dar: Die Müllerstochter muss dreimal die gleiche Probe bestehen, immer mit fortschreitender Steigerung der Schwierigkeit und damit der Spannung. Bei der Rätselwette verzichtet die Bühnenfassung jedoch auf die dreigliedrige Struktur der erzählerischen Vorlage: Zwar muss die Protagonistin den Namen ihres Erpressers in drei Tagen erraten, aber während im Märchen sie sich dreimal zum Kampf stellt, wird in der Bühnenfassung nur ein Rätselkampf durchgeführt. Wird im Stück die Einheit der Handlung mit dem Einsatz der völlig neuen Figur des Pagen (Hans) erreicht, der als Erzähler agiert, so werden die Einheiten von Ort und Zeit hingegen nicht beachtet. Die Handlung des Stückes spielt an verschiedenen Orten: im Thronsaal, im Turmverlies und im Wald. Damit wird die Ortseinheit zerstört. Die Handlung innerhalb der acht Bilder folgt zeitlich nicht linear, sondern es sind Zeitsprünge und Beschleunigungen zu verzeichnen. Damit zerfällt die Zeiteinheit. Hinter der Komik versteckt die Bearbeiterin ihren pädagogischen Zeigefinger, der eher unterhaltend als moralisch belehrend ihre Botschaft vermittelt. Ausführlichkeit besteht im Nebentext, der klare Regieanweisungen zur gestischen und mimischen Darstellung und zum Verhalten der Figuren liefert. Ebenso verhält es sich mit den Bühnenbildanweisungen, die detaillierte Angaben über Ausstattung und Requisite beinhalten. Zur Figuration: Im Stück treten alle Figuren, die für das Grimmsche Märchen charakteristisch sind, auch wenn Leudesdorff entscheidende Änderungen am Repertoire des Ausgangsmärchens drei Tagen, in der Mitternacht des Heiligabends, erraten. Die Königin schickt den Pagen über Land, damit er den Namen des Wichts erfährt. Er nimmt sich den Müller zur Hilfe mit. –„Siebtes Bild“ (S. 56-65) Im Wald wird mit Humor gezeigt, wie es dem Pagen und dem Müller gelingt, mit der Hilfe einer sprechenden Eule den Namen des Wichts zu wissen. –„Achtes Bild“ (S. 66-73) Im Thronsaal wird der endgültige Sieg der Königin über das Männchen gezeigt. Nach einem spielerischen Falschraten wird Rumpelstilzchen vernichtet. Damit wird die Harmonie wiederherstellt. In der Schlussszene singen alle ein Weihnachtslied. Anhang 420 vornimmt, indem sie völlig neue Figuren hinzufügt: Den zuverlässigen Pagen Hans, die lustige und tölpelhafte Figur des Haushofmeisters mit seinem schweren Begriffsvermögen, die spitze Hofdame und die Eule, die wohlmeinende Ratschläge gibt. Mit der Hinzufügung des sprechenden Tieres wird im Stück eine Zuspitzung der fabelhaften Elementen erreicht. Die Verhältnisse der Figuren gehen bis in die Namensgebung. So Haushofmeister von Schwerbegriff, Hofdame von Zungenspitz und Müller von Großwort. Ãœberhaupt trägt diese lustige Namensgebung zur Charakterisierung der Figuren bei. Die Figuren sind allgemein stereotyp und kontrastiv gezeichnet. Die Müllerstochter ist die Hauptfigur. Sie verkörpert tradierte geschlechtsspezifische Verhaltensweisen und spiegelt beispielhaft ein konkretes Erziehungsideal wider: Sie ist artig und obrigkeitstreu. Der Müller ist eindeutig eine Autoritätsperson. Zumindest zu Beginn des Stückes wirkt er als Vater etwas streng. Der König ist bei Leudesdorff wie auch bei den Grimms ein Materialist, also ein korrupter Monarch, der die Müllerstochter einzig zum Zwecke des eigenen Profits ausnutzt und dementsprechend ausbeutet. Die völlig neuen Figuren der Dienerschaft werden als Karikaturen präsentiert, besonders der Haushofmeister, der als ungeschickt und dumm auftritt. Ihnen gegenüber steht der zuverlässige Page Hans, der der Hauptfigur hilfsbereit zur Seite steht. Auf dieser Weise verkörpert er die Helferfigur des Märchens. Hier ist festzustellen, dass bei Leudesdorff eine Verlagerung von der märchenhaften Helferfunktion stattfindet: Während in der erzählerischen Vorlage ein Bote den Helfer darstellt, übt in der Bühnenfassung der Page diese Funktion aus. Ihm stellt die Bearbeiterin einen Mithelfer (den Müller) und einen Ratgeber (die Eule) an die Seite, sodass die Funktion nicht nur von einer Figur, sondern von einem Figurensystem verkörpert wird. Die Figur des Pagen ist besonders bemerkenswert. Wie schon erwähnt, bekommt er eine wichtige Rolle: die des Erzählers. Im Bühnenstück übernimmt es diese neu eingeführte Figur, die Dynamik der Geschichte zwischen der Müllerstochter und Rumpelstilzchen zu entwickeln. Seine Hauptfunktion besteht also darin, die dramatische Handlung voranzutreiben: Er bringt der Müllerstochter etwas zum Essen, als diese im Turmverlies gesperrt ist, und hilft ihr bei der Suche ihres Vaters. Daneben ist es auch seine Aufgabe, die Handlung zu einem guten Ende zu führen: Er erfährt nämlich den Namen des Wichts. Literaturverzeichnis 421 6. Literaturverzeichnis Allkemper, Alo; Eke, Norbert Otto. 22006 [2004]. Literaturwissenschaft. Paderborn: Fink. Alt, Peter-André. 32007 [1996]. Aufklärung. 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